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- Erst wenn der letzte Marktforscher durch einen Programmierer ersetzt wurde, werdet Ihr feststellen, dass man Big Data nicht essen kann.
Erst wenn der letzte Marktforscher durch einen Programmierer ersetzt wurde, werdet Ihr feststellen, dass man Big Data nicht essen kann.

Oliver Tabino (Q | Agentur für Forschung)
Von Oliver Tabino
In meiner Kindheit gab es in meinem Zimmer eine Korkpinnwand. Damit ich nicht mein Zimmer und die Möbel komplett mit Aufklebern zukleisterte, durfte ich zumindest die Pinnwand mit so vielen Aufklebern bekleben wie ich wollte. Es dürfte so zu Beginn der Pubertät gewesen sein, als ich einen meiner Lieblingsaufkleber an die Wand pappte. Er müsste von Greenpeace gewesen sein und es stand darauf: "Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet Ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann!" Angeblich handelt es sich um eine Weissagung der Cree.
Als ich vor kurzem den gefühlt eintausendsten Abgesang auf die Marktforschung gelesen habe, musste ich irgendwie an den alten Aufkleber denken. Denn, als Begründung für den Abgesang wird fast immer ein Schlagwort geliefert: BIG DATA! Ohhhh, ahhhh. Big Data. Klingt toll, klingt wichtig, hat Konjunktur. Und, ich muss zugeben, den Begriff benutze ich auch.
In vielen Publikationen und Artikeln wird Big Data als Heilsbringer in den Analyse- und Business Intelligence Himmel hochgelobt. Damit wird man meines Erachtens der Thematik im Sinne von Chancen und Möglichkeiten, aber auch Problemen und Gefahren nicht gerecht. Ich habe den Eindruck, dass die Tragweite des Themas entweder nicht erkannt wird oder aber erkannt und totgeschwiegen wird. Das ist ein typisches Phänomen, wenn sich z.B. Unternehmen, Berater, Gurus, etc. mit einem modischen Thema wie Big Data positionieren wollen.
In einem Artikel im Harvard Business Manager schreiben die Autoren Folgendes: "Wer Big Data nutzt, wird klügere Entscheidungen treffen."
Wow, dachte ich. Endlich, das Paradies ist nahe. Das "Produktversprechen" Big Data befindet sich gleich in der Überschrift. Nehmen wir diese Behauptung und drehen sie um. Bedeutet das also auch: Wer Big Data nicht nutzt, wird unkluge Entscheidungen treffen? Wenn wir das weiterdenken benötigen wir in Zukunft keine Menschen mehr, die Entscheidungen treffen, sondern nur perfekte Algorithmen. Oder noch einfacher: Lassen wir in Zukunft Algorithmen die Entscheidungen treffen, dann sind wir fein raus! Das wiederum könnte bedeuten, dass ganze Hierarchiebenen in Unternehmen oder in Organisationen obsolet werden. Wer braucht noch Entscheider, wenn der Algorithmus die Entscheidung trifft – objektiv, nicht subjektiv!
Ist dieses Szenario zu tollkühn? Zumindest diese Aussage müsste aber doch erlaubt sein: "Diejenigen, die Big Data beherrschen, werden fehlerlos sein. Der Rest bleibt fehlerhaft oder wird unklügere Entscheidungen treffen." Bewegen wir uns folglich in Richtung "Algorithmic Divide" oder "Big Data Divide"?
Klar, mein Zynismus klingt durch, ich kann ihn nicht verbergen. Zum einen ist Frust eine Ursache meines Zynismus. Zum anderen ist es Ungläubigkeit.
Frust, weil ich manchmal das Gefühl habe, dass wir Markt- und Sozialforschung lieber in Selbstmitleid zerfließen anstatt uns lautstark zu Wort zu melden und Respekt zu verdienen. Frust auch, weil viele Kritiker oder Abgesang-Propheten eher durch Pauschalisierungen auffallen und offensichtlich keine Ahnung von der Vielfalt und Bandbreite methodischer Lösungs- und Beratungsansätze haben, die die Marktforschung zu bieten hat. Insofern ist die Kritik stark verkürzt oder trifft nur auf einen Teil der Marktforschung zu. Aber dieses Thema könnte noch viele weitere Kolumnen füllen.
Meine Ungläubigkeit wird wiederum befeuert, da ich nicht glauben mag, dass die Heilsversprechen, die Big Data uns macht, einfach so geschluckt und übernommen werden. Wie kann das sein? Verbirgt sich dahinter die Hoffnung auf die unfehlbare "Technik" oder das "Programm"? Welcome to the machine….. Versteckt man sich hinter der Technik? Oder trauen sich Entscheider keine Entscheidungen mehr zu? Mark Graham (research fellow am Oxford Internet Institute und Mitbegründer des Floating Sheep blog) stellt in seinem bemerkenswerten Artikel im Guardian schon in der Überschrift eine äußerst gewichtige Frage: "Big data and the end of theory?"
Und im Text beschreibt Graham die Hoffnung der Big Data-Jünger wie folgt: "The idea being that the data shadows and information trails of people, machines, commodities and even nature can reveal secrets to us that we now have the power and prowess to uncover. In other words, we no longer need to speculate and hypothesise; we simply need to let machines lead us to the patterns, trends, and relationships in social, economic, political, and environmental relationships." (Der Artikel ist vor gut einem Jahr, im März 2012 erschienen, hat aber meines Erachtens sogar noch an Bedeutung gewonnen und nicht aufgrund seines "Alters" verloren).
Der Algorithmus, der endlich Objektivität herstellt. Der Algorithmus, der endlich Wahrheiten produziert. Nicht irgendwelche Wahrheiten, sondern DIE Wahrheit! Der Algorithmus, der zur übergeordneten Instanz wird, uns Verantwortung abnimmt und entlastet. Und damit nicht genug: "Dieser Algorithmus macht uns zu rational handelnden, über jeden subjektiven Zweifel erhabenen, zufriedenen Analysten und Entscheidern. „Die Illusion rationaler Entscheidungen" nennt das Gunnar Sohn in seinem lesenswerten Beitrag im Debatten-Magazin "The European".
Für solche Aussagen ernte ich oft skeptische Blicke oder Stirnrunzeln. Als Social Media Forscher ist das scheinbar ein Widerspruch in sich. Daten sind sakrosankt. Daten sind toll. Daten sind Wissen. Da ich aber als Lebensweltforscher ursprünglich aus einer anderen Welt komme, schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Oder anders gesagt: Teufelchen Big Data und Engelchen Mafomethodiker der alten Schule sitzen auf meinen Schultern (je nach Perspektive bitte die Rolle des Teufelchen und des Engelchen tauschen) und flüstern mir Vor-und Nachteile ein. Und natürlich habe ich unterschiedliche Kontexte und Theorien im Kopf. Und natürlich habe ich Gütekriterien im Kopf und mache mir Gedanken um Repräsentativität und Übertragbarkeit von Erkenntnissen und Ergebnissen.
Im Februar war ich auf einem Social Media Monitoring Forum und war überrascht, wie kontrovers die Themen Repräsentativität sowie die Stärken und Schwächen von Social Media Monitorings diskutiert wurden. Eine zentrale Erkenntnis war: Der analytische Geist, also der Mensch, nicht die Software, der (Markt-)Forscher ist entscheidend. Ohne ihn geht es nicht. Ohne ihn (oder uns) sind Daten blutleer und eben nicht per se sinnstiftend, selbsterklärend und somit wahr oder falsch.
Letztendlich geht es nicht darum, das eine zu verteufeln und das andere in den Himmel zu loben. Graham geht noch einen Schritt weiter und das macht den Artikel und die Gedanken des Autors für uns als Markt- und Sozialforscher so interessant und wichtig. Graham schreibt: "Gender, geography, race, income, and a range of other social and economic factors all play a role in how information is produced and reproduced. People from different places and different backgrounds tend to produce different sorts of information. And so we risk ignoring a lot of important nuance if relying on big data as a social/economic/political mirror." Oder, um diese Gedanken noch fortzuführen, Big Data bedeutet natürlich nicht das Ende der Theorie(n). Ich behaupte, dass die Theorie und die theoretische Einbettung in den Untersuchungskontext sogar noch wichtiger werden, weil die Daten selbstverständlich interpretiert werden müssen und die Interpretation vom theoretischen Rahmen abhängt (und natürlich vom politischen Rahmen, der in unserem Fall auch ein unternehmenspolitischer sein kann).
Das sind doch schöne Zukunftsaussichten für uns Marktforscher! Big Data wird uns herausfordern und wahrscheinlich auch immer mal wieder unsere Grenzen aufzeigen. Wir werden diese Entwicklungen kritisch betrachten – wozu sind wir Forscher? – werden sie sinnvoll adaptieren und in unsere Geschäftsmodelle und Analysen einbeziehen und wir werden dadurch an Bedeutung gewinnen. Denn, auch da bin ich Grahams Meinung: "And so we shouldn't forget the important role of specialists to contextualise and offer insights into what our data do, and maybe more importantly, don't tell us." Klingelts? Wer dabei nicht an Markt- und Sozialforscher denkt, dem ist nicht zu helfen!
Um nochmal auf die Überschrift und die Weissagung zurückzukommen: Daten sind des Forschers Leibgericht, weil wir sie auch verstoffwechseln können.
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