Bastian Verdel, StraightONE „Entscheidend ist, wie die Waage im Kopf zum Zeitpunkt der Entscheidung ausschlägt.“

“Gesagt, getan? Von wegen! Wie wir die 'Attitude Behavior Gap' beim Thema Nachhaltigkeit schließen“ ist der Titel Ihres WdM-Web-Seminars am 11. Mai. Welche Problematik adressieren Sie in Ihrem Web-Seminar?
Bastian Verdel: Das Problem bei Nachhaltigkeit ist, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen dem, was uns als Menschen wichtig ist und dem, was wir tun. Dieses Phänomen gibt es auch an anderer Stelle. Beispielsweise beim Thema “Datenschutz”. Da ist uns auch der Schutz unserer Daten sehr wichtig, dennoch teilen wir sie freigiebig wie beispielsweise in den sozialen Netzwerken. Diese Diskrepanz bezeichnet man als „Attitude Behavior Gap“.
Für uns Marktforscher ist das eine besondere Herausforderung, da sich dieses Gap als Diskrepanz zwischen den Befragungsergebnissen und den nachgelagerten Handlungen der Zielgruppe manifestiert und damit zum Problem für unsere Auftraggeber werden kann. Das lässt sich erkennen, wenn Menschen beispielsweise im Konzepttest hohes Interesse an einem neuen nachhaltigen Produkt zeigen, der Auftraggeber sich freut, das Produkt “launched“, es dann aber keiner haben will.
Wie definieren Sie im Rahmen Ihrer Projekte überhaupt das Thema “Nachhaltigkeit”? Gibt es aus Ihrer Sicht mittlerweile ein geteiltes Verständnis dieses recht abstrakten Begriffs?
Bastian Verdel: Im Rahmen unserer Projekte sehen wir eher die psychologischen Dimensionen von Nachhaltigkeit. Das Hauptproblem ist für uns, dass es darum geht, Dinge zu tun, deren Nutzen (zumindest scheinbar) in der Zukunft liegt, denn der Name sagt es schon – es geht um Dinge bzw. den Nutzen, die „nachhalten“ also in der Zukunft wirken. Nutzen in der Zukunft können wir Menschen aber nicht gut spüren, da wir vom “Present Bias” geprägt sind. Für unser Gehirn sind diese Nutzen in der Zukunft sozusagen „nachgelagert“, d. h. sie haben eine geringere Priorität. Deshalb fällt es uns auch so schwer, jetzt Kompromisse einzugehen, damit es unserer Umwelt in Zukunft besser geht oder es zumindest gleich lebenswert bleibt wie heute.
Wobei es beim Thema „Umwelt“ für das Individuum streng genommen gar keinen zukünftigen Nutzen gibt. Denn die Lebensspanne der heutigen Erwachsenen reicht gar nicht aus, um beispielsweise noch zu erleben, dass die Erderwärmung gestoppt wird. So gesehen gibt es hier auch eine große Diskrepanz zwischen dem Nutzen, über den wir jeden Tag im Umwelt-Kontext sprechen und dem, was tatsächlich die Triebfedern für Nachhaltigkeit sind. Denn letztlich geht es bei Nachhaltigkeit in Bezug auf die Erhaltung der Umwelt primär um eine soziale Dimension. Wir haben als „Soziale Wesen“ ein Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit, aber auch nach Fürsorge und dem Schutz unserer Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft scheint nun bedroht durch drohende Umweltkatastrophen.
Wenn wir uns nun nachhaltig verhalten, besteht der Nutzen für uns als Individuum nicht darin, dass wir in der Zukunft eine schönere Umwelt bzw. ein besseres Leben haben, sondern dass wir unser Bedürfnis nach Fürsorge und Zugehörigkeit erfüllen. Das bedeutet:
In dem Moment, in dem wir eine nachhaltige Entscheidung treffen, gibt uns das ein gutes Gefühl, weil wir uns zugehörig fühlen und weil wir uns als „guter Mensch“ im Sinne der Gemeinschaft wahrnehmen.
Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Das Thema Nachhaltigkeit dreht sich immer noch primär um das Thema Umwelt. Allerdings sehen wir zunehmend Unternehmen, die diesen Begriff weiter fassen. Beispielsweise bei den Banken im Sinne der Unterstützung der Kunden im nachhaltigen Umgang mit ihren Finanzen. Vereinfacht gesagt, sie möchten Menschen dabei unterstützen, ihre längerfristigen (finanziellen) Ziele zu erreichen.
Woran liegt es, dass Probanden gerade beim Thema Nachhaltigkeit nicht wahrheitsgetreu antworten?
Bastian Verdel: Menschen antworten wahrheitsgetreu, wenn ihnen eine Frage gestellt wird, die sie beantworten können bzw. die für den Befragten und den Forscher die gleiche Bedeutung hat. Wenn man also eine Frage über die Einstellung zur Nachhaltigkeit stellt, bekommt man eine wahre Antwort. Wenn man jedoch nach einer Verhaltensprognose fragt, ist das letztlich eine Frage, die der Befragte nicht beantworten kann.
Dies liegt daran, dass kein Befragter seine eigenen Entscheidungsprozesse antizipieren kann. Denn viele Faktoren spielen dabei eine Rolle, die ihm unbekannt sind, die unbewusst wirken oder auch Faktoren, die man als Individuum selbst gar nicht sehen möchte. Solange wir dieses Problem als Forscher ignorieren, in Konzepttests nur nach der Kaufbereitschaft fragen und diese dann noch als Prognose verstehen, verfallen wir in die „Attitude Behavior Gap“.
Wir müssen also den Entscheidungsmoment betrachten. Das bedeutet, dass wir verstehen müssen, welche Einflussfaktoren im Moment und damit im Kontext der Entscheidung wirken. Bei „Nachhaltigkeits-Entscheidungen“ sind es der “Soziale Benefit”, der jedoch in Konkurrenz steht zum „Pain of Paying“, was das Bedürfnis nach Einfachheit und Aufwands-Minimierung beschreibt. Und auch unsere Routinen oder der “Status Quo Bias” spielen hier eine bedeutende Rolle. Man kann das stark vereinfacht als “Waage für gefühlten Nutzen” betrachten.
Das bedeutet für unsere Forschung, dass wir uns mehr mit dem wahrgenommenen Nutzen im Moment der Entscheidung auseinandersetzen müssen. Wir können nicht einfach fragen, ob jemand ein Produkt kauft, sondern wir müssen verstehen, warum er es kauft, um bewerten zu können, ob er es kaufen wird.
Denn entscheidend ist, wie “die Waage im Kopf” zum Zeitpunkt der Entscheidung ausschlägt. Hier braucht es in der Regel einen weiteren Zusatznutzen, welcher sehr stark „im Jetzt“ vorstellbar und damit im Moment der Entscheidung spürbar ist.
Diesen müssen wir messen können bzw. zumindest den “Trade-Off”, in dem sich dieser manifestiert.
Auch wenn die Sorge um die Umwelt inzwischen zum Konsens in der Gesellschaft geworden ist und auch im Bewusstsein eine immer größere Rolle spielt – und damit der "Soziale Benefit” für nachhaltige Handlungen steigt, so sind wir in den meisten Fällen noch weit davon entfernt, dass dieser Nutzen emotional so intensiv wahrgenommen wird wie der Benefit Geld zu sparen oder auf die Bequemlichkeit des Autos etc. zu verzichten.
Das Erste, was wir also tun müssen, um dieses Dilemma zu lösen, ist, dass wir als Forscher eine klare Vorstellung menschlicher Entscheidungsfindung entwickeln. Denn nur, wenn wir wissen, welche Mechanismen am Werk sind, können wir diese in unseren Studiendesigns reflektieren. Wir haben dafür das „Customer Thinking Modell“ entwickelt. Es handelt sich hier nicht um eine neue Entscheidungstheorie. Aber was neu ist, das ist die Verbindung bereits bestehender Theorien.
Die Lücke zwischen Einstellung und Verhalten gibt es ja an sehr vielen Stellen im Leben. Lässt sich Ihr Ansatz zur Überbrückung der Lücke auch auf andere Lebensbereiche als dem Thema Nachhaltigkeit übertragen?
Bastian Verdel: Auf jeden Fall. Bevor wir uns dem Thema “Nachhaltigkeit” angenommen haben, waren wir auch mit dem Thema “Datenschutz & Privacy” beschäftigt, was ganz ähnlich gelagert ist. Im Prinzip geht es ja darum, ein Forschungsdesign zu entwickeln, vor dem Hintergrund des Wissens, wie Menschen grundsätzlich entscheiden und dem spezifischen Kontext des jeweiligen Themas. Die Grundlage dafür ist eigentlich immer eine Kombination aus qualitativer Forschung, welche Mechaniken aufdeckt und quantitativer Forschung, die Zielgruppenkontexte besser reflektiert und Experimente zulässt.
Das bedeutet, dass die Voraussetzung für den quantitativen Test die vorgelagerte Erfahrung ist, wie eine Entscheidung bei einem spezifischen Thema und Kontext aussieht. Wir sehen aber, dass die wenigsten Firmen Kaufentscheidungsmechaniken untersucht haben, sondern meist nur betrachten, wie bestimmte Marketingmaßnahmen auf die Entscheidung wirken. Dies lässt sich jedoch in der Regel im Rahmen eines laufenden Projekts, z. B. einer Produktneueinführung, nachholen.
Soziale Erwünschtheit im Antwortverhalten zu reduzieren, liegt jedem Marktforschenden am Herzen. Wieso löst gerade Ihr Customer Thinking Ansatz die “Attitude Behavior Gap”?
Bastian Verdel: Letztlich geht es eben nicht nur um soziale Erwünschtheit, sondern darum zu verstehen, wie Menschen in spezifischen Kontexten entscheiden. Das muss ich holistisch betrachten.
Ich darf eben nicht fragen, was ich wissen will, sondern muss fragen, was der Befragte auch beantworten kann.
Es geht um die Frage „Wie muss ich fragen oder mein Experiment “designen”, damit ich das messe, was ich messen will“. Da erfinden wir das Rad ja nicht neu – es geht hier vor allem um die konsequente Anwendung von Wissen, das in der Wissenschaft bereits vorhanden ist. Und einer ganz klaren Perspektive, wie ich qualitative und quantitative Forschung kombiniert einsetze.
Vor ein paar Jahren galt “nachhaltige Mode” noch als Nischenmarkt und Nachhaltigkeit als USP. Inwiefern hat sich dies durch aufstrebende Nachhaltigkeitstrends verändert?
Bastian Verdel: Da es inzwischen in weiten Teilen der Gesellschaft einen Konsens gibt, dass die Umwelt und damit die Lebensqualität zumindest unserer Kinder und Enkel bedroht ist, bekommt Nachhaltigkeit für Unternehmen eine ganz neue Rolle. Unsere Untersuchungen zeigen eindeutig, dass man Unternehmen als besonders starke Player der „Gemeinschaft“ sieht. Entsprechend erwartet man insbesondere von großen Unternehmen, dass sie ihren Beitrag zur Lösung des Problems leisten.
Tun sie dies nicht, zeigen sie (in den Augen der Kunden), dass ihnen letztlich die „Gemeinschaft“ und die Menschen, sprich die Kunden, egal sind. Was nichts anderes heißt, als dass „Nachhaltiges Verhalten“ für Unternehmen immer mehr zum Hygienefaktor wird, um überhaupt Vertrauen in die Marke zu erhalten und ggf. auszubauen. Die Differenzierung bzw. der USP entsteht hier nur, wenn Nachhaltigkeit mit der Lösung wesentlicher emotionaler oder funktionaler Probleme der Menschen verbunden werden kann.
Welche Ansprüche haben Konsumenten und Konsumentinnen aus Ihrer Erfahrung nach an nachhaltigen Marken? Worauf legen sie am meisten Wert?
Bastian Verdel: Das ist sehr kategorieabhängig und vom “Availability Bias” geprägt. Bedeutet: Das, was man in Verbindung mit der Kategorie als „umweltschädlich“ assoziiert, definiert, worauf die Menschen am meisten Wert legen. Bei dem Kauf einer Heizung ist es allen voran der Energieverbrauch in der Nutzung der Heizung und in zweiter Linie erst die Energie, die zur Herstellung aufgewandt wird oder gar die spätere Entsorgung. An Energieaufwendungen im Marketing, Vertrieb und Verwaltung denkt da kaum einer.
Genauso wie bei Banken nur die wenigsten vor Augen haben, dass Banken mit ihrer Investmenttätigkeit Einfluss auf nachhaltige Entwicklungen nehmen können.
Dennoch ist es aber auch hier wichtig, dass Unternehmen sich engagieren, um dauerhaft ihre Reputation wahren zu können. Schließlich sollte kein Unternehmen nur das für die Nachhaltigkeit tun, was ihm hilft, mehr zu verkaufen.
Wer darf Ihr Event auf keinen Fall verpassen?
Bastian Verdel: Jeder, der gerade an der Entwicklung oder Vermarktung von Produkten oder Dienstleistungen arbeitet, die „Nachhaltigkeit“ als wesentliche Säule des Konzepts beinhalten. Und insbesondere all jene betriebliche Forscher, die diese Menschen dabei unterstützen, hier einen geeigneten Forschungsweg zu finden. Denn am Ende geht es darum, seine Entscheidungen nicht auf dem Sand dessen zu bauen, was Menschen sagen, was ihnen wichtig ist, sondern auf dem Fundament, das ihr Verhalten tatsächlich determiniert.
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