Hubertus Hofkirchner, Prediki Prediction Markets Entgegnung: Freud schlägt Kahneman

„Kahneman schlägt Freud” war zuletzt in fetten Lettern immer wieder zu lesen. Aber stimmt das denn für die Marktforschung? Hubertus Hofkirchner von Prediki Prediction Markets denkt nicht: Denn das Freudsche Modell bietet für Marketingentscheidungen ein wichtiges Element, das bei Kahneman fehlt.

Obama ehrt Kahneman (Bild: picture alliance / dpa | Michael Reynolds)

Auch wenn Daniel Kahneman hier die Medal of Freedom verliehen bekommt: Für Hubertus Hofkirchner schlägt der Freudsche Ansatz den von Kahneman in der Marktforschung. (Bild: picture alliance / dpa | Michael Reynolds)

Es stimmt zwar, dass Daniel Kahneman’s Thesen nach wie vor zum Standardrepertoire vieler Marktforschenden gehört. Es mag auch stimmen, dass die Wirksamkeit von Psychoanalysen nach Sigmund Freud als Behandlungsmethode in der Psychiatrie umstritten ist.

Jedoch ist Marktforschung keine Psychotherapie, unsere Aufgabe ist nicht die Heilung von psychisch Kranken, sondern unsere Kunden sind Entscheider, die möglichst gute Einsichten über Einstellungen, Wünsche und Motive von Personengruppen brauchen sowie Prognosen für deren künftiges Handeln, kurz: richtige Grundlagen für wichtige Entscheidungen. Betrachten wir die beiden Denkmodelle für Themen wie Markenführung, Produkt- und Kampagnenentwicklung.

Mehrstufige innere Konflikte

Kahneman’s populärstes Werk „Schnelles Denken, langsames Denken” beschreibt seine zentrale These: das schnelle, emotionale System 1 und das langsame, logische System 2. Das erstere leidet, so Kahneman, an kognitiven Verzerrungen, zweiteres an Denkfaulheit; er liefert uns also insgesamt eine recht pessimistische Sicht der menschlichen Rationalität.

Was unter Marktforschenden noch wenig bekannt ist: Viele von Kahneman zitierte wissenschaftliche Studien sind von der sogenannten Replikationskrise betroffen; zwölf Studien sollen etwa das „Wunder des Priming” von System 1 belegen, elf davon werden inzwischen als Fake eingestuft (Schimmak & al. 2017. Auf diesem „Wunder” fußen aber viele hoffnungsvolle, inzwischen widerlegte Marketingideen, beispielsweise das kurze Aufflackern einer Coca-Cola-Flasche in Kinofilmen, um in der Pause angeblich einen Ansturm auf den Getränkeautomaten auszulösen.

Hingegen beschreibt der Wiener Psychologe in „Das Ich und das Es” ein Drei-Instanzen-Modell der Psyche: das triebhafte, ungeduldige Es, das vermittelnde, bedächtige Ich und die moralische, höhere Instanz des Über-Ich. Wenn auch nicht direkt vergleichbar, so ist doch eine frappante Ähnlichkeit der ersten zwei Freudschen Instanzen mit den zwei Systemen Kahnemans erkennbar. Nur fehlt bei Kahneman eben ein „System 3”.

Ein Über-Ich für die Marktforschung

Gibt es denn nachweislich ein drittes System, also ein Über-Ich, und wenn ja, ist diese höhere Instanz auch für die Markt- und Meinungsforschung wichtig? Beginnen wir die Klärung bei Freud: Er beschreibt das Über-Ich als verinnerlichte soziale Normen und anerzogenes Wissen. Hier müssen wir von Freuds Personenfokus etwas abstrahieren, der den Konflikt dieser Ebene allegorisch zwischen einem „inneren” Kind und seinen Eltern verdeutlicht, denn für die Marktforschung ist die relevante höhere Instanz direkt im Namen unserer Disziplin zu finden: im „Markt”.

Leser des Wirtschaftsteils der Zeitung stoßen öfter auf Phrasen, wie: „Der Markt sagt …”, „Der Markt denkt …”. Wir erleben den Markt wie ein eigenes vernunftbegabtes Wesen. Wir wissen und fühlen (manchmal am Geldbeutel), dass es sehr schwer ist, den Markt dauerhaft zu schlagen.

Eine der neueren Methoden, virtuelle Prognosemärkte, erschließt den Marktmechanismus für die Marktforschung. Ursprünglich durch genauere Wahlprognosen bekannt, liefern speziell weiterentwickelte universelle Prognosemärkte heute verlässliche quantitative Vorhersagen von Schlüsselzahlen oder KPIs für strategische Handlungsalternativen. Gleichzeitig werden Sentimente analysiert und die ausschlaggebenden Gründe klassifiziert.

Märkte sind Gespräche, Preise kondensiertes Wissen

„Märkte sind Gespräche”, wie schon das berühmte Cluetrain Manifesto besagt, und Marktpreise sind pure, maximal kondensierte Information. Der Marktmechanismus bewirkt den von Freud beschriebenen höheren Konflikt, auf Neudeutsch Gamifizierung: sowohl die Vorfreude, künftig recht gehabt zu haben, als auch die Sorge, am Ende falsch zu liegen, motiviert die Teilnehmer. Wenn diese am Prognosemarkt versuchen, ihre virtuellen Aktien zu hypen, fördert dies tiefenpsychologische Motive zutage, an denen Freud seine Freud’ gehabt hätte.

Die bei Kahnemann fehlende dritte Ebene besteht in der gegenseitigen Beeinflussung der Akteure. Die Reaktion der quantitativen Kurse auf die Substanz der qualitativen Kommentare nimmt vorweg, wie der echte Markterfolg durch Kommunikation und die Meinungen anderer – insbesondere Mundpropaganda und Influencer Marketing – beeinflusst wird. Die kollektive Intelligenz der Marktteilnehmer überwindet die „Bounded Rationality” des Einzelnen, wird zum höheren Konsens, zur „Unsichtbaren Hand”, die spontan rationales Handeln steuert.

Gerade bei Fragen, die Marketingleute und Produktmanager interessieren, ist es diese höhere Instanz, die Weisheit der Vielen, welche bessere Informationen für Entscheider liefert. Vor allem aber bietet Freuds Über-Ich auch eine optimistische Sicht der menschlichen Rationalität. Wir sind gesellschaftliche Wesen und gemeinsam sind wir stärker.

Fazit: Freud schlägt Kahneman, zumindest in der Marktforschung.

Täglicher Newsletter der Insightsbranche

News +++ Jobs +++ Whitepaper +++ Webinare
Wir beliefern täglich mehr als 9.000 Abonnenten
 

Über die Person

Hubertus Hofkirchner ist CEO und Gründer der Prediki Prediction Markets GmbH sowie Vorstandsmitglied des VMÖ, des Verbands für Marktforschung in Österreich. Prediki betreibt eine offene Prognosemarktplattform im Internet und unterstützt als Full-Service Provider B2C-Klienten mit strategischen Insights und Foresights für Produktentwicklung, Innovation, Pricing und Kommunikation.

Diskutieren Sie mit!     

  1. Jan Strasser am 15.11.2022
    Eine seltsame Diskussion. Sie betrifft zwei Wissenschaftler, die beide herzlich wenig mit heutiger Marktforschung zu tun haben: Kahnemann mit seiner abstrakten statistisch-ökonomischen Gedankenwelt und Freud, der vor hundert Jahren über Sexualität schwadronierte (Hysterie, Penisneid, ...).

    Wir sollten nicht vergessen, dass es im psychologischen Bereich wesentlich mehr gibt als nur Freud und Kahnemann, zum Beispiel zahlreiche sozialpsychologische Theorien, Erkenntnisse der humanistischen Psychologie, usw.
  2. Florian Klaus am 15.11.2022
    Schade, dass der Autor sich gegen eine konstruktive Auseinandersetzung mit Daniel Kahneman entschieden hat. Dass er stattdessen das Freudianische Modell aus Es, Ich und Über-Ich als nachweislich existent annimmt, steht mindestens im krassen Widerspruch zum Stand der Wissenschaft. Von über 90 Klinischen Psychologie Professuren in Deutschland sind maximal noch 2 psychoanalytisch besetzt…

    Freuds Es&Ich dann in die Nähe von Kahnemans System 1&2 zu rücken, wirkt fast wie ein Rettungsversuch. Nur sind System 1 und 2 explizit nicht als separate Instanzen angelegt, sondern als zwei Verarbeitungsmodi. Eine völlig andere Sicht der Dinge. Und weder die beiden Systeme noch die Diskussion rund ums Priming - zu der Kahneman längst Stellung genommen hat (selbst hier: https://replicationindex.com/2017/02/02/reconstruction-of-a-train-wreck-how-priming-research-went-of-the-rails/comment-page-1/#comment-1454) - hat etwas mit aufflackernden Coca-Cola Flaschen in Kinofilmen zu tun. Die Pseudo-Experimente aus den späten 50er Jahren wurden bereits kurz darauf spektakulär widerlegt. Lockere 50 Jahre vor Kahnemans ‚Thinking, Fast and Slow‘.

    Wie Freuds Über-Ich mit dem Markt gleichzusetzen ist (wo bleibt all der andere sozial-gesellschaftliche Kontext?) und was das wiederum mit Gamification zu tun hat, lässt sich nur schwer nachvollziehen. Dafür ist eine Entgegnung aber vielleicht auch nicht der richtige Platz.

    Noch weniger erschließt sich die Unterstellung, Kahneman fehle eine dritte, gesellschaftliche Ebene. Gerade in der sozialen Interaktion, dem gemeinsamen Alltag, der gegenseitigen Beeinflussung lernt unser System 1, bilden sich Shortcuts, Intuition und Verhaltensstrategien im Autopiloten. Die zu verstehen und mit ihnen zu arbeiten, ist unserer Erfahrung nach die beste Basis für effektive Entscheidungen im Marketing. Und birgt das viel kleinere Risiko in eine therapeutische Gedankenwelt abzurutschen als die Tiefenpsychologie.
  3. Hubertus Hofkirchner am 15.11.2022
    @Jan Strasser: Mein Beitrag war - wie eingangs dargestellt - explizit eine Entgegnung auf den erwähnten Beitrag "Kahneman schlägt Freud". Nicht mehr und nicht weniger. Bzgl. des Vorwurfs "Schwadronieren" werden wir uns nicht einigen, ich persönlich finde Freud literarisch sehr ansprechend und seine sexuelle Begriffswelt hat bis heute Bekanntheit und sogar Geltung trotzt zunehmender gesellschaftlicher Verklemmung.

    @Florian Klaus: Den Nachweis für die Existenz der höheren Instanz "Markt" hat Vernon Smith durch die experimentelle Prüfung der Hayek-Hypothese erbracht und dafür 2002 den Nobelpreis erhalten. Und ja, es geht bei der dritten Ebene, in Kahneman-Sprache (das bei ihm fehlende) System 3, um einen dritten Verarbeitungsmodus, den Markt, dessen Denkprozessen sich niemand entziehen kann. Nur läuft dieser großteils extern, kollektiv, auf einer anderer Ebene ab, eben nicht nur in einem Gehirn. Die höchst unterschiedliche Natur dieser drei Ebenen, Systeme, gern auch Verarbeitungsmodi, gilt es differenziert zu verstehen und - wie beschrieben - in Marketing-Entscheidungsmodelle einzubauen bzw. zu nutzen. Der Kommentar zur Lernfähigkeit des System 1 vermischt diese Ebenen übrigens noch: kein System 1 kann lernen, wie sich Märkte, Marktpreise oder Marktanteile morgen entwickeln werden, denn diese "Denkprozesse" laufen großteils woanders, kollektiv und mit dezentral verteilen Informationen.

Um unsere Kommentarfunktion nutzen zu können müssen Sie sich anmelden.

Anmelden

Weitere Highlights auf marktforschung.de