Till Winkler, Skopos Nova Energieeinsparung durch UX? Na klar.

Wenige andere Wörter waren in den letzten sechs Monaten so präsent wie das Wort „Energie“. Neben den steigenden Preisen für Gas und Strom, die rational zu beziffern sind, ist die Bedrohung eines Energie-Wegfalls auch durchaus emotional zu bewerten. Die Menschheit ist da, wo sie heute ist, weil sie Energiequellen gefunden und genutzt hat. Feuer, Dampf, Kohle, Strom, … erst durch die Nutzung von Energie konnte die Menschheit Dinge produzieren, sich vor Kälte und Tieren schützen und letztlich ein komfortables und individuelles Leben führen (siehe Maslowsche Pyramide).
Aus diesem Grund ist es nur fair zu sagen, dass die Beziehung zwischen Mensch und Energie tief verwurzelt und emotional ist. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint. Und damit – tada – ist der Nährboden für „User Experience“ schon gelegt.
Status Quo: Wir wissen nicht so viel.
Obwohl Energie im Großen und Ganzen eine emotionale Bedeutung für die Menschheit hat, ist es dem Individuum häufig nicht so sehr bewusst. Insbesondere in der westlichen Welt stellte man (bis vor kurzem) die Heizung so an, wie es sein sollte, teilweise machte man sie auch einfach nie aus im Winter. In die Steckdose wird auch gesteckt, was einen Stecker hat und was genau „kWh“ bedeutet oder wie hoch genau der Preis dafür ist, wissen auch nur die wenigsten.
Warum wissen wir so wenig über die Dinge, die so elementar für uns sind? Weil wir als Gesellschaft die Entwicklungsstufe abgeschlossen haben, in der dies ein großes Thema ist. Die Grundbedürfnisse sind quasi erfüllt und wir nähern uns der nächsten Stufe.
Wenn man nun Heizungshersteller oder Energieproduzenten betrachtet, dann stellten sie ganz lange ein Komfort-Produkt her, welches die Grundbedürfnisse erfüllte. Es war da, es hat ein Bedürfnis gestillt, und damit war der Einsatz dann bereits legitimiert. Nun aber haben sich die Zeiten verändert und Menschen sind zum einen politisch, aber auch klimabezogen dazu angehalten, sparsamer mit Energie umzugehen. Und die Produkte, die vorher für viele einfach funktioniert haben, werden nun nach neuen Kriterien bewertet: Sparsamkeit, Effizienz und Kosten.
Neues Ziel: Von „Einfach Da“ zu „Sparsamkeit und Effizienz"
Damit haben wir eine veränderte Ausgangslage für „User Experience“ und Produktnutzung. Früher war Energie „irgendwie da“ und es musste gut und einfach funktionieren. Jetzt wollen die Nutzer mit dem System sparen und Energie effizient einsetzen. Das sind neue Ziele und UX-Design kann dabei helfen. Wir haben auf Basis unserer Erfahrung in diesen Branchen, aber auch auf Basis der Trends der letzten Jahre fünf Punkte zusammengetragen, die als Inspiration oder Leitbild für die Entwicklung genutzt werden können.
1. Verständnis schaffen
Man kann ruhig sagen, dass wir im Grunde viel zu wenig Wissen. Wie funktioniert denn der Gasboiler? Was ist eine kWh und wieviel kostet sie? Was ist eine Wärmepumpe und warum ist Solar nicht immer sinnvoll, oder manchmal doch?
Es wäre zu viel verlangt, alle Nutzer oder potentiellen Nutzer wieder in die Schule zu schicken. Und dafür haben wir auch nicht die Zeit. Aber wir müssen anfangen, Inhalte und Sachverhalte nutzergerecht zu erklären und aufzubereiten.
Warum sage ich „nutzergerecht“? Weil wir, aus der deutschen Ingenieursbranche, dazu neigen, alles mit Fachbegriffen zu beschreiben und dann in Folge alle anderen Kulturen (außer der Deutschen) zu verlieren. Das sollten wir lassen. Neben dem Effekt, dass wir so in der Welt nicht zu unserem Image als humorvolle Kultur beitragen, halten wir Nutzer auch auf Distanz.
Es ist wichtig, grundlegende Zusammenhänge zu erklären und zu visualisieren. Und hier kann man ruhig an dem Punkt ansetzen, den Menschen kennen: Kosten. Häufig ist es ein juristisches Problem oder einfach gestalterische Vorsicht, weil man nichts versprechen will, was man nicht halten kann. Aber es ist durchaus möglich, den Effekt auf die Kostenzusammensetzung zu erklären und zu zeigen, ob man zwischen fünf Prozent und zehn Prozent Einsparen kann, oder zwischen 20 Prozent und 30 Prozent. Man sollte diese Basis nutzen, um Verständnis aufzubauen.
Was heißt das konkret. Dem Nutzer muss bewusst sein ….
- wie das System funktioniert,
- welche Einflussfaktoren es von außen oder innen gibt,
- welche Effekte erzielt werden können,
- welche Metriken verwendet werden und was sie bedeuten.
Und diese vier Punkte müssen in einer Sprache (und durch Visualisierung) so rübergebracht werden, dass der Nutzer diese versteht.
2. Sichtbar und transparent machen
Damit sind wir beim nächsten Schritt. Die Zusammenhänge und auch der Verbrauch müssen für den Nutzer sichtbar gemacht werden. Das am besten in Real-Time, denn dadurch wird es maximal transparent und es besteht die Chance, die Nutzung mit dem Ergebnis in Einklang zu bringen und damit wiederum die Zusammenhänge zu verstehen (siehe Punkt 1). Früher gab es monatliche Rechnungen – und sind wir ehrlich – das war alles andere als nutzerfreundlich! Heute haben wir die Möglichkeiten, Apps zu nutzen, Verbräuche zu visualisieren, Interfaces an Boilern oder Heizsystemen zu nutzen, oder Rechnungen so aufzubereiten, dass diese nicht nur den Betrag zeigen, der zu zahlen ist.
Online-Dashboards können Mehrwerte liefern, Push-Nachrichten können aufmerksam machen. Es gibt unzählige Möglichkeiten, Inhalte und Zusammenhänge sichtbar zu machen.
Für Konzeption und Gestaltung, mit einzigem Fokus auf dem Nutzer für diese Argumentationslinie, könnten folgende Grundlagen helfen:
- Die Nutzung sollte erkenntlich sein, denn der Nutzer muss Verhalten und Effekt in Einklang bringen. Der Turnus (täglich vs. wöchentlich vs. monatlich) ist hier natürlich vom Nutzer abhängig, aber je granularer, desto schneller wird der Zusammenhang erfasst.
- Die Visualisierung muss sich auf wesentliche Highlights konzentrieren. Die Aufmerksamkeit der Nutzer ist nun auch nicht unendlich, und auch hier müssen wir versuchen, nicht in die Ingenieurs-Falle zu tappen. Die Kern-Visualisierung sollte stets einfach und erkenntnisreich sein.
- Jedes Medium hat seinen eigenen Vorteil. Online-Dashboards bieten sich an bei Dokumentationszwecken und einem tiefgehenden Einblick in die Daten, Smartphone-Anwendungen bieten sich an für einen schnellen Über- und Einblick. Alles hat seine Berechtigung, man sollte sich nur Gedanken machen, wie es genutzt wird.
3. Vorschlagswesen nutzen
Wenn Nutzer nun Wissen aufgebaut haben und dieses auch kontinuierlich prüfen können, in denen sie mit Echtzeitdaten arbeiten, dann heißt das noch immer nicht, dass sie immer wissen, was mit diesem Wissen gemachen werden soll. Aus diesem Grund ist es wichtig, in eine Interaktion zu treten! Künstliche Intelligenz, Ableitungen aus vorhandenen Daten, Benchmarking-Systeme oder Präferenzeinstellungen können dabei helfen, dass das System (welches erklärt, misst und visualisiert) mit dem Nutzer in den Austausch geht. Für jede Verhaltensanomalie oder Regel sollte der Nutzer Informationen über mögliche Verhaltensanpassungen erhalten.
Dies ist wichtig, damit aus der Nutzung eine Interaktion wird. Nutzung = Ich nutze etwas und erhalte Informationen; Interaktion = Es gibt ein Zusammenspiel aus Aktion und Reaktion über mehrere Schritte hinweg.
- Der Nutzer freut sich über Interpretationen und Anhaltspunkte: Ist der Wert groß / klein, ist der Verbrauch viel / wenig? Gibt es eine Anomalie in der Nutzung? Wenn ja, was bedeutet sie? Und kann ich mein Verhalten anpassen?
- Je mehr ein Gespräch zwischen dem Verhalten des Nutzers und der Empfehlung entsteht, desto eher entsteht eine Nutzungserfahrung, die dann auch bindet.
Hier sei noch einmal betont, dass es um Richtungsweisungen geht und nicht zwangsweise um die Wahrheit. Doch es ist wichtig, den Nutzer mit den Informationen nicht allein zu lassen. Denn so gelangen wir am ehesten zu Verhaltensänderungen und diese sind letztlich für Energieeinsparungen verantwortlich.
4. Durch UI und Feedback Fehler vermeiden
Durch viele Interviews mit Heizungsinstallateuren in ganz Europa wissen wir, dass einer der häufigsten Einsatzursachen in der Branche Bedienungsfehler sind. Personen haben aus Versehen die Heizung ausgemacht oder verstellt und können den Fehler nicht umkehren. Auch in Online-Dashboards oder Apps können Fehler dazu führen, dass Einstellungen so verstellt werden, dass das Optimum der Energieeinsparung nicht ausgenutzt werden kann oder im schlimmsten Fall auch noch mehr Energie verbraucht wird.
Aus diesem Grund ist es wichtig, nicht nur eine saubere Usability zu gewährleisten, sondern auch „Fool Proof“ zu sein. Potentielle Anwendungsfehler sollten auf einen möglichen Effekt geprüft und im Zweifel doppelt abgesichert werden. Fehler können immer passieren, das ist nicht auszuschließen. Es ist eben nur wichtig, sich das bewusst zu machen und in der Programmierung und Entwicklung davon auszugehen, dass solche Handlungen passieren können.
5. Kulturen verstehen
Ein sehr kleiner, aber dennoch wichtiger Hinweis an dieser Stelle.
Das Verhältnis zu Energieverbrauch, Stromkosten, -einsatz und auch Heizungseinstellungen sind von Land zu Land unterschiedlich. Auch Generationen und gesellschaftliche Schichten können sich hier in ihrem Nutzungsverhalten unterscheiden.
Das es hier Unterschiede gibt, ist okay. Aber es ist wichtig, um sie zu wissen, um das System ggf. auszurichten bzw. passend zu entwickeln.
Folgende Auswirkungen können vorzufinden sein:
- In manchen Ländern wird Energie sehr systematisch an- und ausgeschaltet, weil hohes Verbrauchsbewusstsein vorherrscht. In anderen Ländern gibt es dieses Bewusstsein nicht und Systeme laufen einfach durch.
- Manche Nutzergruppen sind deutlich weniger preissensibel als andere und hinterfragen den Verbrauch deswegen nicht immer.
- Insbesondere ältere Nutzer tuen sich häufig schwer mit zu komplizierten Interfaces und Interaktionsmustern und nutzen diese dann zaghaft, falsch, oder gar nicht.
- Manche Nutzergruppen müssen nutzerfreundlich angelernt werden, da wenig Wissen vorhanden ist. Ein Überfrachten oder ein Ausbleiben von Wissenstransfer führt ebenso häufig zur Nicht-Nutzung.
Wie in vielen Bereichen ist UX nicht einfach nur eine Möglichkeit, Interfaces oder Prozesse nutzerfreundlicher und damit angenehmer zu machen. Es geht hierbei nicht um Spaß oder Unterhaltung. Es geht darum, Nutzungshürden abzubauen und den Nutzer und sein Verhalten in eine bestimmte Richtung lenken zu können, und zwar in die Richtung eines bewussteren Umgangs mit der Ressource Energie. Das ist wichtig, denn unabhängig von den finanziellen Auswirkungen, sollten wir auch die klimabezogenen und ressourcensparenden Verhaltensweisen forcieren und diese fördern. UX kann dabei helfen.
Über die Person
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