Kommunalwahl NRW 2020 Eine Umfrage, die ein Momentum suggeriert – Was ist passiert in Köln?

Fast 16 Prozentpunkte soll die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker auf den letzten Metern des Wahlkampfs verloren haben. Zwei Wochen vor der Wahl lag sie lt. einer Vorwahl-Umfrage noch bei 61 Prozent, am Wahltag erreichte sie gerade mal 45,05 Prozent und muss nun in die Stichwahl. Was ist passiert in Köln?

Am Sonntag, den 13. September fanden in NRW Kommunalwahlen statt. Auf der Agenda standen neben der Wahl von Stadtparlamenten in vielen Städten auch die Wahl der (Ober-)Bürgermeister*innen. Im Unterschied zu Bundestags- und Landtagswahlen, wo zumeist verschiedene Institute Vorwahl-Umfragen durchführen, ist die Anzahl von Befragungen im Vorfeld von Kommunalwahlen meist überschaubar. So auch diesmal in NRW.

Die mit Abstand größte Studie, die im Vorfeld der Kommunalwahl in Deutschlands größtem Bundesland durchgeführt wurde, stammt von den Berliner Demoskopen Infratest dimap. Im Auftrag des WDR und lokaler Tageszeitungen wurden jeweils 1.000 Wahlberechtigte in den elf Städten Aachen, Bielefeld, Bonn, Dortmund, Düsseldorf, Duisburg, Essen, Köln, Münster, Siegen und Wuppertal befragt. Die telefonischen Interviews wurden vom 11. bis 27. August 2020 durchgeführt, also fast drei Wochen vor dem Wahl-Sonntag. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse am 2. September unter dem Label "NRW Städtetrend". Für viele Städte blieb der NRW Städtetrend die einzige Umfrage zur politischen Stimmung bis zur Kommunalwahl elf Tage später. Dementsprechend groß war die mediale Aufmerksamkeit der Umfragen.

Die Umfrage war Tagesthema in Köln

Auch in Köln war die Umfrage das Top-Thema am 2. September. Die Kölnische Rundschau titelte: "Henriette Reker laut Umfrage in Köln weit vorn". Die Ergebnisse des Städtetrends wurden in mehreren Artikeln und Grafiken in diversen Kölner Medien aufbereitet.

Grafik des Kölner Stadtanzeigers vom 2. September

Bei 61 Prozent lag die Amtsinhaberin. Ein deutlicher Vorsprung vor den anderen Bewerber*innen, angeführt von SPD-Kandidat Andreas Kossiski, der gerade mal 22 Prozent in der Stimmungsumfrage erreichte. Es deutete vieles auf einen Sieg von Reker im ersten Wahlgang hin, schrieb auch der Kölner Stadtanzeiger: "Bei einem entsprechenden Ausgang der Wahl in zehn Tagen würde die von CDU und Grünen unterstützte Reker schon im ersten Wahlgang im Amt bestätigt." Die Botschaft war klar: "Deutlicher Sieg von Reker im ersten Wahlgang", auch wenn in den Texten auf die Momentaufnahme der Umfrage hingewiesen wurde.

Rainer Faus, Meinungsforscher und Wahlkampf-Experte von pollytix
Rainer Faus
 Das sieht auch Rainer Faus, Meinungsforscher und Wahlkampf-Experte von pollytix, im Gespräch mit marktforschung.de so: "Erstmal muss man konstatieren, dass eine Vorwahl-Umfrage keine Prognose ist und diese im Fall der vorliegenden Umfrage in Köln mit 11.-27.8. einen langen Erhebungszeitraum hatte, bei dem manch Befragte*r also schon einen Monat vor der Wahl angeben musste, wen er oder sie wählt. Kaum jemand ist da bei einer OB-Wahl schon in Wahlstimmung, die Wahlabsicht häufig noch nicht gefestigt."

Frederik Schorn
 Für Frederik Schorn, Wahlkampfkoordinator der parteilosen Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, kamen die Umfrage-Werte der Erhebung am 2. September sehr überraschend: "Wir haben im Januar und Mai 2020 zwei interne Umfragen mit renommierten Instituten gemacht, die Henriette Reker jeweils bei 45 Prozent bzw. knapp 50 Prozent Zustimmung sahen. Deshalb gingen wir von einer Stichwahl aus. Von daher hat uns die Dimap-Umfrage mit der Vorhersage des deutlichen Siegs sehr überrascht. Wir spekulieren, dass es ein methodisches Problem bei den Vorwahl-Befragungen zu den Bürgermeistern in NRW gab. Die kleineren Bewerber wurden unserer Meinung nach offenbar den Zustimmungswerten von Frau Reker zugeschlagen."

Starke Abweichung zwischen Umfrage und Wahlausgang

Zurückblickend war wohl auch der Kölner Stadtanzeiger überrascht von den fast 16 Prozentpunkten Unterschied zwischen Vorwahl-Erhebung und Wahlausgang und fragte bei Dimap nach. Zwei Tage nach der Wahl war zu lesen: "Das Meinungsforschungsinstitut Infratest Dimap hat die starke Abweichung zwischen der Umfrage zur OB-Wahl und dem tatsächlichen Ergebnis mit der besonderen Dynamik in der Schlussphase des Wahlkampfs und mangelnder Mobilisierung im Reker-Lager erklärt."

Der Kölner Stadtanzeiger veröffentlicht die Stellungnahme von Infratest Dimap

Nico Siegel, Geschäftsführer von Infratest Dimap, wird mit folgender Aussage zitiert:

"In diesem Zeitraum passiert im Wahlkampf viel, gerade auf kommunaler Ebene und dort bei Oberbürgermeisterwahlen".

Auch im Telefonat mit marktforschung.de verwies Nico Siegel auf die veröffentlichte Stellungnahme, wollte sich aber zu weiteren Fragen nicht äußern.

Solche Dynamiken im Wahlkampf kennt auch Wahlforscher Rainer Faus: "Wir haben in den letzten Jahren bei einer ganzen Reihe von Landtagswahlen, z.B. in NRW, Rheinland-Pfalz, Hamburg oder Niedersachsen, um nur einige zu nennen, erlebt, dass eine Partei in einem sehr kurzen Zeitraum einen großen Rückstand aufholen oder einen kleinen Vorsprung ausbauen kann. Wahrscheinlicher, als dass die Umfrage von Infratest Dimap falsch war, sind also Faktoren, die in der Dynamik des Wahlkampfes liegen."

Die Differenz zwischen Wahlausgang und Umfrage suggeriert ein Momentum

In Köln könnte man sich fragen, worin diese Dynamik genau bestanden haben soll. Fanden doch aufgrund der Corona-Pandemie nur wenige öffentliche Wahlkampf-Veranstaltungen statt und auch der Haustür- und Straßenwahlkampf war eingeschränkter als sonst.

Tatsächlich hat Henriette Reker mehr Stimmen geholt als 2015: 187.389 (2020) vs. 169.919 (2015). Aufgrund der deutlich höheren Wahlbeteiligung (51,38 Prozent vs. 40,28 Prozent) reichte das Wachstum aber diesmal nicht für die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang. Zwar konnte der aktuelle SPD-Kandidat Andreas Kossiski rund 10.000 Stimmen mehr als sein Vorgänger Jochen Ott 2015 holen. Die SPD verlor allerdings bei der Wahl des Rates insgesamt 7,8 Prozentpunkte im Vergleich zu 2015, was ebenfalls gegen eine SPD-Dynamik spricht.

Dazu Wahlkampfleiter Frederik Schorn gegenüber marktforschung.de:

"Der Effekt ist: Es sieht durch die Umfrage so aus, als ob wir 16 Prozent im Endspurt verloren hätten. Der SPD-Kandidat reklamiert ein Momentum für sich, das nicht real ist. Es gab keine Aufholjagd."

Mögliche De-Mobilisierungseffekte?

Dagegen könnte der postulierte klare Vorsprung in der Kölner Städtetrend-Umfrage zu De-Mobilisierungseffekten bei den Wählern geführt haben.

"Eine Umfrage mit 61 Prozent, die sicherlich in Köln Stadtgespräch war, suggeriert Wähler*innen, dass die Wahl gelaufen ist, die individuelle Kosten-Nutzen-Bilanz der Stimmabgabe ändert sich. Warum sollte man zur Wahl gehen, wenn die Wahl schon gelaufen ist und es damit eigentlich keine mehr gibt? Das war zum Beispiel beim Wahlkampf von Hillary Clinton gegen Donald Trump 2016 der Fall, als Clinton-Wähler*innen in Scharen zu Hause geblieben sind, als der Wahlausgang durch missverständliche Umfrageberichterstattung scheinbar klar war. Dieser Effekt könnte auch in Köln aufgetreten sein.", so Rainer Faus. Dagegen spricht allerdings die deutlich gestiegene Wahlbeteiligung.

Solche Effekte vermutet auch Wahlkampfleiter Frederik Schorn:

"Wir haben auch schon im Wahlkampf gehört: Ihr braucht unsere Stimme ja nicht mehr. Das Ding ist gelaufen."

Das könnte auch erklären, warum Kandidaten von vergleichsweise exotischen Parteien wie Klimafreunde, Volt oder der ÖDP sowie diverse Einzelkandidaten diesmal 28,18 Prozent aller Stimmen erhalten haben (2015: 15,32 Prozent).  Wähler entscheiden sich für "Exoten", weil der Sieg von Reker bereits festzustehen scheint.

Ein weiterer Effekt könnte die De-Motivation des Wahlkampf-Teams von Reker gewesen sein, ähnlich wie bei einem Team, dass zur Halbzeit deutlich vorne liegt und deshalb die zweite Halbzeit ruhiger angehen lässt, so Rainer Faus: "Ich kann und will die Reker-Kampagne nicht bewerten, aber so eine Umfrage mit 61 Prozent kurz vor der Wahl ist natürlich Gift, weil die Kampagne droht behäbig zu werden und die Wahlkämpfer*innen nicht mehr 'laufen' im Wahlkampf. Ein so klares Ergebnis wie 61 Prozent ein paar Wochen vor der Wahl will kein denkender Wahlkämpfer in der Zeitung lesen. Denn als Faus(t)regel gilt: Wer im Wahlkampf nicht Vollgas gibt, verliert."

Aus großer Macht folgt große Verantwortung

Was auch immer dazu geführt haben mag, dass die Differenz zwischen Vorwahl-Umfrage und Wahlergebnis so groß war: De-Mobilisierung, De-Motivation, Wahlkampf-Dynamik, Fehler in der Datenerhebung, Messzeitpunkt usw..

Der Fall zeigt deutlich, wie eine Messung die Realität verändern kann. Und welche Macht Demoskopen immer noch haben. Und wer viel Macht hat, der hat auch große Verantwortung, wie bereits Spiderman-Autor Stan Lee seinem Helden mit auf den Weg gab.

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hg/cb

 

Diskutieren Sie mit!     

  1. Menno Smid am 21.09.2020
    Guter Austausch bekannter Argumente, wenn ma so eine Diskrepanz erklären will. "Mangelnede Mobilisierung": nun ja, wie wird so etwas gemessen? Berufsbedigt bin ich Messfetischist. In diesem Zusammenhang: mich würde interessieren, wie das Institut die Mobilfunk-- Stichprobe (ich gehe davon aus, dass es sich um eine Dual Frame, Zufallsstichprobe gehandelt hat) regionalisieren konnte. Das ist eigentlich nicht möglich. Das heißt: vielleicht handelt es sich um ein Stichprobenproblem?
  2. Kölner Marktforscher am 21.09.2020
    Einen Methodenfehler habe ich selbst bemerkt: Ich wurde von Infratest angerufen, konnte aber gerade nicht, da wir Gäste hatten. Ich gestattete der Interviewerin aber ausdrücklich, mich erneut anzurufen und bekundete zudem meine Bereitschaft zu dem Interview. Obwohl dieser Kontakt in der ersten Woche der Feldzeit war, wurde ich nicht mehr kontaktiert (und dies war auch der erste Anruf bei mir zu der Studie). Dies zeigt auch das Anrufprotokoll meines Routers. D.h. für mich liegt der Schluss nahe, dass Mehrfachkontakte bei Nichterreichen/Nicht möglichem Interview unterblieben - was zu einer schiefen Stichprobe führt.
  3. Torsten Brammer am 21.09.2020
    Das sieht in der Tat wie ein Stichprobenproblem aus. Ich tippe zudem auf die "marktübliche" Ausschöpfungsquote von bestenfalls 30% mit anschließender fehlerhafter Gewichtung.
    Oder einfach ausgedrückt: da sind versehentlich Rohdaten rausgegangen :-)

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