Eine Studie beweist: Marktforschung ist langweilig.

Oliver Tabino (Q | Agentur für Forschung)
Von Oliver Tabino
Natürlich gibt es keine Studie, die so etwas behauptet oder gar empirisch beweist. Das war nur ein Versuch, die Aufmerksamkeit zu erregen, denn wie gelingt einem das in der Marktforschungs-Branche? Zählt bei uns auch "Sex sells"? Oder genügt es die eigene Branche (siehe Überschrift) zu provozieren oder gar zu beleidigen?
Provokation kann ein Stilmittel sein, um jemanden aus der Reserve zu locken, um jemandem etwas Unangenehmes vor Augen zu führen. Provokationen werden aber oft als Angriff gesehen und schnell hat man den Ruf weg, ein Nestbeschmutzer zu sein.
Die Überschrift "Marktforschung ist langweilig" ist einerseits vollkommen falsch und andererseits vollkommen richtig. Das muss auch so sein, denn eine solche Behauptung kann aus den unterschiedlichsten Perspektiven gespeist sein und deswegen empfinden manche Menschen unsere Branche als langweilig und andere als spannend. Würde ich dieses Gedanken-Spiel weiterspielen, landen wir in einer sinnlosen, weil nicht aufzulösenden Diskussion. Der eigentliche Grund, warum ich diese Kolumne mit diesem Thema schreibe, hängt damit zusammen, dass mich die Fremd- und Eigenwahrnehmung unserer Branche wirklich interessiert, beschäftigt und fasziniert. Nicht erst seit heute, sondern seit meinem Einstieg in die Branche vor über 10 Jahren, aber gerade wieder aktuell: Erstens durch die Frage, ob sich die Marktforschung beim Thema Social Media Research "die Butter vom Brot nehmen lässt" und zweitens exemplarisch durch einen aktuellen Trend in der Design-Branche, nämlich dem sogenannten Design Thinking bzw. User Driven Design.
Machen wir einen kurzen Ausflug nach Dänemark: Im Danish Design Center in Kopenhagen (wirklich sehr empfehlenswert) gab es in diesem Sommer eine Sonderausstellung zum Thema, wie Design das Leben verändert und zu Lösungen von sozialen oder gesellschaftlichen Problemen einen Beitrag leisten kann. Verkürzt dargestellt, einmal konnte die Aggressivitäts-Rate in einem dänischen Gefängnis und ein anderes Mal konnte die Belegungsdauer in einem dänischen Krankenhaus durch Design und Farbgebung signifikant gesenkt werden. Der Clou: Die zugrunde liegenden Konzepte beruhten darauf, dass die Designer in Kontakt mit den Betroffenen getreten sind, sie beobachtet haben, ihnen Fragen stellten, kreative Workshops veranstalteten mit Collagenarbeit, etc. Die überraschende Erkenntnis: Man muss seine Kunden verstehen, um Designkonzepte besser zu machen oder überhaupt Design for the people zu machen.
(Eine kurze Zwischenfrage: Wie geht es Ihnen jetzt? Sind Sie als Leser überrascht und geplättet durch diese Erkenntnis?)
Um den Pfad der Ironie wieder zu verlassen, schildere ich kurz meine eigene Reaktionen: Zuerst war ich irritiert. Ich dachte, das kann doch nicht wahr sein. Da werden Methoden und Techniken als revolutionärer Paradigmenwechsel im Design dargestellt, die meines Erachtens zum absoluten Standard-Werkzeugkasten eines jeden qualitativen Marktforschers gehören und das seit mindestens 50 Jahren. Meine zweite Reaktion war: Hmmm, was machen wir als Marktforscher falsch? Müssen wir einfach coole, neue Anglizismen wie Design Thinking erfinden und unsere Methoden so benennen? Ist dann die gute alte ethnographische Forschung so etwas wie "Natural Consumer Habitat Research"? Oder eine Gruppendiskussion wird aufgepimpt als "Meet & Greet the Consumer Session"? Die dritte Reaktion war: Eigentlich ist das ja ein richtiges Kompliment der Designer, jetzt müssen wir nur dafür sorgen, dass der ganzen Welt klar ist, dass wir Markt- und Sozialforscher diese genialen Methoden und Techniken virtuos beherrschen und kreativ weiterentwickeln.
Eine weitere Beobachtung ließ vor kurzem das Mafo-Adrenalin wieder hochkochen. Während einer Fortbildung zum Thema Innovationsmanagement wurde die ganze Gruppe zu einer Agentur eingeladen, die sich das Thema "Design Thinking" auf die Fahne geschrieben hat. Der Vortrag über das eigene Schaffen und die eigene Herangehensweise, um auf innovative Ideen und Umsetzungen zu kommen, fing ungefähr so an (kein Original-Zitat, sondern eine Art Gedächtnisprotokoll): "Ja, wir wollen jetzt kein Marktforschungs-Bashing machen (Ich war übrigens inkognito und hatte nicht meine I love Mafo-Tasse dabei), aber Marktforschung ist hier nicht sinnvoll. Das bringt einem nichts. Halten wir gar nichts von." Ich blieb ruhig und dachte: Ich liebe Klischees! Der Vortrag ging weiter und uns wurde ein aus der Sicht der Agentur hervorragendes Beispiel gezeigt, wie man vorgehen sollte, um Insights zu generieren, die einem helfen, ein Gespür für die Zielgruppen zu entwickeln. Das sei dann die Basis für die Umsetzung. Ich war ehrlich gespannt. Was kam, war ein Clip, der ca. 10 Menschen zeigte, die zuhause oder in einem Fortbewegungsmittel zum Thema Mobilität interviewt wurden. Daraus wurden Mobilitätstrends abgeleitet und in einem Booklet aufbereitet. Schön gemacht, keine Frage.
(Ich weiß nicht, was Sie gerade denken. Vielleicht geht es Ihnen anders, aber ich war sprachlos)
In meinem Kopf ratterte es. Ich habe überlegt, ob ich etwas nicht ganz verstanden hatte. Aber ich kam nicht darauf. Also war meine Interpretation: Ethnographische Interviews (denn faktisch war das nichts anderes) zu führen, ist offensichtlich hier keine Marktforschung, sondern ist der Anfang von „Design Thinking“. Im Übrigen genügt es, offensichtlich auch Menschen aus dem eigenen Umfeld zu befragen oder zu interviewen, denn Rekrutierungskriterien, Fallzahlen, Stichprobenqualität, Repräsentativität, etc. werden eh überbewertet.
Ich habe mich nun selbst gefragt, aus welchen Gründen ich empört reagiert habe. Bin ich empört, weil jemand Marktforschung macht, es aber anders nennt und behauptet, etwas völlig Neues und Geistreiches erfunden zu haben? Bin ich empört, weil ich mich in meiner Forscherehre beleidigt fühle und die Gefahr sehe, dass Gütekriterien als Basis guter Forschung nichts mehr wert sind? Bin ich empört, weil man uns von allen Seiten das Wasser abzugraben versucht? Bin ich empört, weil ich nicht selbst auf die Idee komme, klassischen Methoden eine nicht-langweilige Verpackung zu geben? Bin ich empört, weil ich nicht in einer Branche arbeiten will, die sich die Butter vom Brot nehmen lässt und langweilig daher kommt?
Was mir immer wieder klar wird, DIE Marktforschung gibt es natürlich nicht. Genauso wenig wie DIE richtige Methode. Marktforschung ist vielfältig und eintönig, spannend und langweilig, komplex und einfach, konstant und dauernden Änderungen unterworfen, inspirierend und abtörnend, Handwerk und Kunst zugleich.
Für mich lautet eine Herausforderung, wie entwickeln wir unser "Handwerk", welches die Basis unserer Berufung ist, weiter und schaffen so die Grundlagen für die Mafo-Kunst? Oder, um etwas Marketing-Sprech zu verwenden: Zukunft braucht Herkunft. Aber, sich nur auf die Herkunft zu berufen, reicht nicht.
Falls jemand Antworten auf die Fragen hat, ich bin gespannt und interessiert.
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