Nachbericht Behavioral Science Akademie Ein Tag mit dem homo emotionalis, paradoxen Konsumenten, schizophrenen Kühlschränken und geheimen Zutaten

Die Nähe zu Kunden und Mitarbeitenden stand Ende Februar im Mittelpunkt der diesjährigen Behavioral Science Akademie. Dort ging es unter anderem um Irrwege in der Konsumentenforschung, die Potenziale mobiler Ethnografie, psychologische Trigger und die Bedeutung der Markenidentität. Ein Rückblick.

Der Wirtschaftspsychologe Prof. Dr. Georg Felser sprach in seiner Keynote darüber, wie das Konsumverhalten von Menschen beeinflusst werden kann. (Bild: Top Service Deutschland)

„In den heutigen krisenhaften Zeiten ist die Nähe zu Kunden und Mitarbeitern doppelt wichtig“ – mit diesen Worten begrüßte Christian Roeb, Geschäftsführer des Veranstalters Top Service Deutschland, am 23. Februar die rund 100 Teilnehmenden der Behavioral Science Akademie – darunter viele Marketingleiter, Serviceleiter, Leiter Customer Experience. Die Worte waren passend zum diesjährigen Motto „Kundenorientierung und Mitarbeiterzufriedenheit durch Behavioral Science“ gewählt. Die Worte klingen simpel, ihre Umsetzung ist es bekanntermaßen nicht. Wie Unternehmen die genannten Zielgruppen mittels verschiedener Ansätze der Behavioral Science erforschen, binden und aktivieren können, machten die Rednerinnen und Redner im Verlauf des Tages in Fachvorträgen, Workshops und Podiumsdiskussionen deutlich. Hier einige Auszüge aus dem Programm.

Irrweg: Den homo oeconomicus durch den homo emotionalis ersetzen

Den Auftakt machte Prof. Dr. Georg Felser. Der Wirtschaftspsychologe von der Hochschule Harz sprach über „Unbewusste Einflüsse auf das Konsumverhalten“. In diesem Zusammenhang beobachtet er einen Irrweg in der Konsumentenpsychologie: Ökonomen hätten sich mehrheitlich zwar vielfach zurecht vom Konzept des „homo oeconomicus“ verabschiedet, diesen aber fälschlicherweise durch den „homo emotionalis“ ersetzt – dort, wo Menschen nicht rational in ihrem Sinne entschieden, werde nun zu häufig Emotion als Treiber vermutet. Wichtiger sei ihm die Unterscheidung zwischen zwei Systemen der Verhaltenssteuerung: System 1, automatisch ablaufend und stets aktiv, dabei aber inflexibel und System 2, kontrolliert, muss aktiviert werden, ist aber flexibel.

Am Praxisbeispiel des Versuchs eines Online-Händlers, Retouren zu reduzieren, zeigte Felser anschließend effektive Beeinflussungsstrategien anhand von vier Patterns auf: Verlustaversion, Reziprozität, Konsistenz/Commitment und Konsensinformation/Social Proof – letzteres für den Wissenschaftler „eine der meistunterschätzen Beeinflussungsstrategien“. Im vorliegenden Fall wurde Konsumierenden beim Kaufabschluss im Sinne des Patterns Social Proof beispielsweise die Nachricht eingeblendet:

Viele Kunden finden direkt die richtige Größe…Wusstest du, dass sich 83 Prozent unserer Kunden für eine Größe entscheiden?

Der paradoxe Konsument

Mit „Marketing in paradoxen Zeiten“ aus kulturpsychologischer Sicht setzte sich Thomas Ebenfeld, Gründer und Managing Partner von concept m research + consulting, auseinander. Der Tiefenpsychologe beobachtet, dass unsere Zeit von vielfältigen Widersprüchen auf Marketing- und Konsumentenseite durchzogen ist: Eine Tube veganer Senf kann die Aufschrift „Geeignet für alle Fleischprodukte“ tragen und im „schizophrenen Kühlschrank“ des ebenfalls nicht ganz konsequenten Verbrauchers neben dem verpackten Billigfleisch liegen. An Porsches auf dem Aldi-Parkplatz sei man auch schon gewohnt…

Ebenfeld sieht solche Phänomene als Ausdruck einer Gleichzeitigkeit von zwei Kulturen – einer Maximierungs-Kultur (Stichworte: „Anything goes“ / Selbstinszenierung) und einer Rückbesinnungskultur („Suche nach Sinn“ / Lessness). Ergebnis: Der „paradoxe“ Konsument. Mit Blick in die Zukunft erkennt er einen wachsenden Wunsch nach einem „integrierten“ Lebensideal – einer Balance zwischen Bindung, Erhaltung, Sicherheit und Lebensgenuss. Seine Lehre für die künftige Markenführung:

Die Markenführung bietet Gestaltungsspielräume für psychisches Wachstum an – verknüpft mit der Repräsentation relevanter, bewegender Spannungsfelder!

Ein Plädoyer für die Qual-Forschung – als Teil eines Methoden-Mixes

Prof. Dr. Anna Schneider während ihrer Keynote zum "Erfolg durch Kundenverständnis". (Bild: Top Service Deutschland)

Prof. Dr. Anna Schneider, ebenfalls Wirtschaftspsychologin und zum 1. März von der Hochschule Fresenius an die Hochschule Trier gewechselt, erläuterte den Teilnehmenden, „Wie der moderierte Perspektivwechsel die unbewussten Bedürfnisse von Kunden aufdeckt“. Als Ausgangspunkt nahm sie die Erfahrung, dass bei quantitativen Befragungsmethoden viele Kreuze bei „Weiß nicht“ unter anderem auf unklare Fragen und unpassende Antwortalternativen zurückgeführt werden können. Zusätzliche offene Antwortfelder seien hier eine Lösung, qualitative Forschungsansätze oftmals die noch bessere.

Was qualitative Forschung für mich ausmacht, ist die Neugierde dahinter, der Perspektivwechsel. Menschen zu mögen hilft übrigens auch,

so die Wissenschaftlerin, die sich in diesem Kontext zudem als „großer Fan der mobilen Ethnografie“ bezeichnete. Schneider wollte allerdings keinen Methodenstreit wiederbeleben, idealerweise würden in der Marktforschung mehrere Methoden verzahnt: „Am besten dafür sind Kampagnen, die man vom Start weg begleiten kann […] Wenn wir quantitative und qualitative Methoden von Anfang an kombinieren, kann man vollumfängliche Informationen erhalten.“

Praxisbeispiel: Mobile Ethnografie bei einem Food-Lieferanten

Wie die zuvor von Prof. Schneider erwähnte mobile Ethnografie in der Praxis zu spannenden Insights führt, beschrieb später Kathrin Schaarschmidt, Director Qualitative Research bei SKOPOS RESEARCH. Qualitative Online-Forschung habe sich nicht zuletzt durch die Restriktionen der Corona-Zeit deutlich weiterentwickelt und könne heute noch besser auf eine gestiegene Nachfrage nach einem tieferen Verständnis von Gewohnheiten im Umgang mit Produkten und Services eingehen.

Zu Hause bewegen sich Leute natürlicher und sind ehrlicher,

stellte Schaarschmidt fest. Diese Erkenntnis zu den Grenzen von Testsettings in Studios galt auch für das Praxisbeispiel eines Projektes mit dem Food-Lieferanten HelloFresh, auf das Schaarschmidt näher einging. Was passiert eigentlich rund um den Moment des Unboxings der Produkte? Für die Märkte Deutschland und Australien lieferten Testpersonen hierzu von zu Hause aus mittels Video-/Audio/Foto-Upload, Screenrecording, Texteingabe und Surveys spannende Insights, die halfen, ein noch kompletteres Bild von der Customer Journey zu erhalten.

Geheime Zutat: Illusion of Control

Im gewissen Sinne kulinarisch ging es weiter. Dennis Herzberger, Senior Consultant bei konversionsKRAFT, verriet „Die geheime Zutat für erfolgreiche Verhaltensänderung im Digital Marketing“. Er sprach über den Einsatz von Behavioral Patterns zur Optimierung von Webseiten und Online-Shops. Spannend sein Praxisbeispiel des Schul- und Kindergartenbedarf-Händlers Betzold, der die Zahl der Online-Bestellungen im Sinne des Behavioral Patterns „Reziprozität“ mit einem Geschenk für treue Kunden erhöhen wollte – in diesem Fall bei Lehrern bekanntermaßen beliebte Magnet-Haftis. Ohne Erfolg, den auch die prominentere Platzierung der entsprechenden Infobox nicht erhöhte.

Die Leute mögen das Gefühl nicht, etwas schuldig zu sein,

lautete eine Erklärung Herzbergers. Positive Effekte zeigten sich erst durch Aktivierung des Patterns „Illusion of Control“. Die Möglichkeit für die Shopper, zwischen mehreren Geschenken zu wählen, erhöhte die Zahl der Käufe um 5,7 Prozent. Bemerkenswert: 97 Prozent der Käuferinnen und Käufer wählten am Ende die Magnet-Haftis.  

Erst die Mitarbeitenden mitnehmen, dann nach außen gehen 

Prof. Dr. Christoph Burmann, Experte für innovatives Markenmanagement von der Uni Bremen, erläuterte die „Markenidentität als wichtiger Erfolgsfaktor im Internal-, Employer und Influencer Branding“. Er stellte die Markenidentität als interne Perspektive dem Markenimage als externe Perspektive gegenüber. Zentrale Voraussetzung für eine gelebte Markenidentität sei das „Mitnehmen der Mitarbeiter“. Denn: Markenführung sei die Aufgabe von jedem im Unternehmen, so Burmann. Insofern komme dem Markenwissen der Mitarbeitenden eine wichtige Rolle zu: „Die Verbundenheit zur Gruppe reicht nicht – Mitarbeiter müssen inhaltlich hinter der Marke stehen“. In Sinne einer erfolgreichen Markenführung müsse daher das Internal Branding an erster Stelle stehen – erst danach sollten Unternehmen mit Marketing-Maßnahmen nach außen gehen.

Last not least: Die Bedeutung der Ethik in Behavioral Sciences

In verschiedenen, über den Tag verteilten Podiumsdiskussionen ging es unter anderem auch um ethische Aspekte der Konsumentenpsychologie. Als Negativbeispiele wurden manipulierte Zahlen beim künstlichen Verknappen von Produkten oder verfügbaren Hotelzimmern und gekaufte Kundenrezensionen genannt. Mit einer ernüchternden Erkenntnis und gleichzeitiger Mahnung zum verantwortungsvollen Umgang mit Beeinflussungstechniken soll Prof. Georg Felser in diesem Kontext das letzte Wort haben:

Wenn man sich den Kunden als mündigen Verbraucher vorstellt, hat man es zu gut gemeint. Wir müssen uns schon zu 50 Prozent als Maschine vorstellen. Die Gesetze des klassischen Konditionierens funktionieren auch beim Menschen. Das sollten wir nicht ignorieren.

Im Nachgang zur Veranstaltung zeichnete Top Service Deutschland die besten Unternehmen Deutschlands in Sachen Kundenorientierung aus. Die Gewinner in den Bereichen B2C und B2B sowie die Branchensieger finden Sie hier.

Bilderstrecke zur Behavioral Science Akademie

 

Über die Personen

Alexander Kolberg ist seit Februar 2022 Redakteur beim Smart News Fachverlag und Ansprechpartner für redaktionelle Themen auf marktforschung.de und CONSULTING.de.

Alexander Kolberg ist Redakteur beim Smart News Fachverlag und Ansprechpartner für redaktionelle Themen auf marktforschung.de und CONSULTING.de.

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