E-Procurement und Reverse Auctions in der Marktforschung – der Anfang vom Ende oder Chance für eine Neubesinnung? – Ein Kommentar von Daniel R. Schmeißer, phaydon

Daniel R. Schmeißer, phaydon

Daniel R. Schmeißer, phaydon

Die Zeiten, in denen Markforschung vor allem ein "peoples business" gewesen ist, gehören längst der Vergangenheit an. Procurement-Abteilungen haben sich in den letzten Jahren auch der wissensintensiven Dienstleistungen bemächtigt und über Standardisierung eine Anpassung auch der Mafo-Leistungen an die Vorgaben der Unternehmen erzwungen. Mafo-Leistungen über den Einkauf abwickeln zu lassen, hat durchaus Vorteile. Für die Großunternehmen, die höhere Transparenz der Leistungen und Kosten erzielen und damit eine faire Vergleichbarkeit von Studienangeboten sicherstellen. Für die kleinen und spezialisierten Anbieter, die bei Ausschreibungen die Gelegenheit erhalten, mit einem guten Preis-Leistungsverhältnis und Spezialisierung zum Zuge zu kommen. Für die großen Anbieter, über standardisierte und erprobte Tools ihre Effektivität und Kosteneffizienz unter Beweis zu stellen.

Aber auch die Nachteile liegen auf der Hand: Sobald sich der Procurement-Prozess verselbständigt, zählt am Ende nur noch der Preis. Was zunächst wie ein sinnvoller Prozess für mehr Transparenz und Vergleichbarkeit erscheint, wird sich am Ende als ruinöser Preiswettbewerb entpuppen. Da Procurement Abteilungen nur ein einziges (!) Ziel verfolgen (nämlich die Kosten zu senken), zwingt der Preis- und Wettbewerbsdruck zu stärkerer Standardisierung und geringer Innovationsleistung, sofern nicht preisferne Entscheidungskriterien (Methodik, Referenzen, Innovationsgrad, Service) weiterhin eine Rolle bei der Vergabe spielen. Dies war zu Beginn der Procurement-Umstellung in der Marktforschung durchaus spürbar: Betriebliche Marktforscher setzten sich dafür ein, das neben dem Preis auch weiterhin andere Kriterien eine Rolle bei der Vergabe spielen müssten. Leider gehört auch dieses (Zwischen-)Kapitel weitgehend der Vergangenheit an, denn in dem Maße, in dem Procurement gemerkt hat, dass der ausgeübte Preisdruck Wirkung zeigt (und die Institute dem Druck auch teils bereitwillig nachgaben), konnten im Gegenzug auch die Bedingungen für die Leistungserbringung erhöht werden. Dies geschah, indem alle "weichen" Kriterien (Service, Schnelligkeit, Innovationskraft, Erreichbarkeit etc.) als selbstverständlich zu erbringende Basisleistungen definiert wurden. Nun hieß es nicht mehr "Sie können sich durch innovative Ansätze hervorheben", sondern "Es wird vorausgesetzt, dass alle Anbieter der Ausschreibung im selben Maße innovativ und serviceorientiert arbeiten". Damit wurde mit größter Selbstverständlichkeit ein Faktor nivelliert, der Institute tatsächlich voneinander differenziert. Dass dieser Aspekt so einfach nivelliert werden konnte, ist sicherlich auch auf die Schwierigkeit zurückzuführen, guten Service, Analysetiefe und echte Innovationskraft nachweisbar (und nicht bloß als PR-Geplänkel) unter Beweis zu stellen und kostenmäßig zu beziffern.

Wird dieser Faktor nivelliert, in dem er als Voraussetzung einfach unterstellt wird (was faktisch nicht sein kann und auch in der Realitität nicht so stattfindet, auch wenn Einkäufer dies leugnen), bleibt die pure Leistungserbringung auf standardisiertem Niveau als Basis für die Preisverhandlung übrig. Es ist also folgerichtig und absolut konsequent, wenn Procurement nun zum nächsten Schritt übergeht und diese standardisierten Dienstleistungen genauso behandelt wie den Einkauf von Klopapier oder Büroklammern.

Und an dieser Stelle kommen die Online-Auktionen ins Spiel, sogenannte Reverse Auctions oder auch "umgekehrte Auktionen". Der Bedarf wird via Internet an eine Reihe potenzieller Lieferanten übermittelt bzw. über eine Bedarfsermittlung mit ausgewählten Lieferanten definiert. Diese geben dann jeweils online ein Angebot ab, wobei sie  anonym bleiben und sich dabei gegenseitig unterbieten können. Bei der umgekehrten Auktion erhält grundsätzlich der günstigste Anbieter den Zuschlag - sie eignen sich daher für Güter, bei denen der Preis das wichtigste Kriterium ist. Bei Ausschreibungen dagegen kann sich der Einkäufer einen Lieferanten aussuchen, auch wenn es sich dabei nicht um das preisgünstigste Angebot handelt.

Bei den Online-Auktionen wird unterstellt, dass sich Anbieter rational verhalten, was gemäß der Spieltheorie schlichtweg nicht dem Wesen des Menschen entspricht: Alle Anbieter (die ja untereinander anonym bleiben) unterstellen sich gegenseitig, dass sie die Preise unterbieten, so dass die Preise am Ende tatsächlich gegenseitig unterboten werden und keiner mehr profitabel arbeiten kann. Alle verlieren. Nur wenn tatsächlich jeder Anbieter rational handeln und seine Preise im profitablen Bereich halten würde, profitierten alle (zumindest langfristig, auch wenn es kurzfristig gerade für kleinere Institute durchaus rational erscheinen mag, die Auslastung ihrer Ressourcen durch günstige Preise sicherzustellen). Umgekehrt erscheint es rational, wenn Großunternehmen die Einkaufsprozesse optimieren und  günstige Leistungen einkaufen – aber gerade bei wissensintensiven Dienstleistungen bleiben auf diese Weise langfristig Know-How, Entwicklung und Innovation auf der Strecke (was wiederum beim Einkauf standardisierter, materieller Güter eine deutlich geringere Rolle spielt).

Verknüpft mit der scheinbaren Nivellierung bzw. versuchsweisen Standardisierung differenzierender weicher Faktoren (Qualität der Berichte, Service, Qualifikation des Personals etc.) führen die Praktiken des E-Procurements im Bereich der Marktforschung im schlimmsten Fall zum "Marktversagen". Mikroökonomen beschreiben dieses Phänomen als Adverse Selection: Es stehen zwei Güter zur Auswahl, deren Qualität tatsächlich verschieden ist, aber den Qualitätsunterschied erkennt nur der Anbieter, nicht der Nachfrager (in diesem Fall der Einkauf). Die asymmetrische Information vor dem Zeitpunkt der Vergabe darf getrost unterstellt werden, wenn der Einkäufer Mafo-Leistungen in ihrer Komplexität beurteilen soll. In der Folge wird immer das günstige Angebot gewählt, denn wegen der tatsächlich schlechteren Qualität sind einige Anbieter bereit, günstiger anzubieten, so dass langfristig nur noch Produkte mit geringerer Qualität gehandelt werden, denn für gute Qualität ist der Nachfrager nicht mehr bereit zu bezahlen. Auf diese Weise wird langfristig nicht mehr angeboten, was aus Sicht des Marktes und der Unternehmen angeboten werden sollte.

Online-Auktionen sind nicht neu, sondern haben eine lange Tradition. Die mit Vergabe-Auktionen verbundenen Befürchtungen führten bereits Mitte des 19. Jahrhunderts zur Entstehung des deutschen Vergaberechts, um den damaligen ruinösen Preiswettbewerb durch faire Vergabeverfahren abzulösen. Dennoch haben es die Reverse Auctions im Gewand des modernen E-Procurement in jüngster Zeit wieder zu einer gewissen Popularität gebracht. Dies scheint vor allem darin begründet, dass Procurement-Abteilungen begehrte Sprungbretter für Karriere orientierte Berufseinsteiger sind, die sich über möglichst hohe Kosteneinsparungen profilieren können (müssen). Für diesen Zweck bieten die neuen E-Procurement-Tools zahlreiche Möglichkeiten. Leider werden die Fehler der Vergangenheit dabei aus Mangel an Wissen und Erfahrung wiederholt.

Eine wirtschaftswissenschaftliche Studie an der Universität zu Cambridge in Großbritannien, die bereits 2007/2008 in Deutschland durchgeführt wurde, hat an Hand weitreichender Interviews in deutschen Unternehmen untersucht, wie sich die Verbreitung globaler Geschäftsstrategien auf die Einkaufspraktiken von Großunternehmen  und deren Zuliefernetzwerke im verarbeitenden Gewerbe auswirkt. Die Studie kam unter anderem zu dem Schluss, dass die aggressiven preisgetriebenen Einkaufspraktiken global agierender Großunternehmen einen starken Wettbewerbsdruck auf andere Unternehmen ausüben und häufig von diesen ohne Rücksicht auf die speziellen Eigenheiten verschiedener Industriezweige übernommen werden. Diese wettbewerbsgesteuerte Fokussierung auf Preisreduzierung im Einkauf, gepaart mit einer oft mangelhaften Kenntnisse von Einkaufsmanagern über die technischen und teils sehr spezifischen Anforderungen in den betroffenen Zuliefererindustrie, können, so die Studie, dazu führen, dass komplexe Innovationstechnologien (und andere wissensintensiver Produkte) vom Einkauf wie standardisierte Massenprodukte behandelt werden. Das einseitige Ziel der größtmöglichen Kostenreduzierung und der virtuellen Maximierung von "shareholder value" kann dabei aber zur Untergrabung nachhaltiger Produktionsstrategien führen. Im Falle der Marktforschung bedeutet dies ein Stillstand an Innovation, verbunden mit dem Weggang qualifizierter Mitarbeiter, die nicht mehr bereit sind, dass die Folgen des Preiswettbewerbs auf ihren Schultern ausgetragen werden.

Die Studie fand auch heraus, dass extrem preisgetriebene Einkaufspraktiken wie Online Auktionen zu nicht haltbaren Preisverfällen und "Hyper-Competition" der Teilnehmer führen können, die langfristig nicht nur die Existenz ganzer Zulieferindustrien in Deutschland gefährden, sondern auch die Innovationsfähigkeit der von diesen Firmen abhängigen Kunden aushöhlen kann. In anderen Worten, der von den Großunternehmen gewollte Preisverfall kann zum Kannibalismus unter den Zulieferern führen, die sich gegenseitig unterbieten, bis Profitabilität und Innovation in der Industrie unmöglich geworden sind. Am Ende stehen Firmensterben und die Konzentration der betroffenen Industrie in der Hand einiger weniger, global agierender Großzulieferer.

Ob diese Entwicklung im Sinne der Großunternehmen ist, hängt insbesondere von den Eigenschaften der globalen Wertschöpfungskette und dem innovativen Bedürfnis der Kunden ab. In den wissensintensiven Industriezweigen der deutschen Wirtschaft jedoch weist die Studie nach, dass die Ausrichtung der übrig gebliebenen Großzulieferer nach Asien und anderen Wachstumsmärkten das Entwicklungspotential der deutschen Wirtschaft in einigen Industrien bereits nachhaltig geschwächt hat. In einigen Industriezweigen haben Großkonzerne daher ihre aggressiven Einkaufstrategien zu Gunsten von mehr kooperativen Beziehungen aufgeben müssen, um lokale Zulieferpartner in Deutschland zu erhalten und somit die Zukunft ihrer eigenen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten in Deutschland weiter durchführen zu können.

Zu diesem Schluss könnte auch die Mafo-Industrie in einigen Jahren kommen, wenn Innovation abgewürgt und vor allem kleine, spezialisierte Institute vom Markt gedrängt wurden. Es muss aber nicht soweit kommen. Der einzige Weg, dieses Szenario zu verhindern, kann aber nur darin bestehen, nicht auf die Rationalität der Bieter zu vertrauen, sondern gar nicht erst an Online Auktionen teilzunehmen. Denn wer teilnimmt, verliert, soviel steht fest. Gar nicht erst teilzunehmen wäre durchaus rational und (sofern sich alle so verhalten) ein Vorteil für die ganze Branche, auch für die Unternehmen, die weiterhin auf Innovation angewiesen sind, auch in der Marktforschung. Eine solche Entscheidung wäre aber nicht nur rational, sie setzt auch Mut und Standfestigkeit voraus. Eine Haltung, die der Mafo-Branche in letzter Zeit leider etwas fehlte, die aber nötig ist, damit sie auch weiterhin eine Zukunft hat.

Daniel R. Schmeißer ist Managing Director bei phaydon | research+consulting

Literatur:
Utz Helmuth (2006): Public electronic Procurement (PeP). Zeppelin University.
Schmeisser, David (2012): China and the Changing Structure of Global Production Networks, PhD Dissertation, University of Cambridge, Department of Politics and International Studies.
George A. Akerlof (1970): The Market for "Lemons": Quality Uncertainty and the Market Mechansims. In: Quarterly Journal of Economics, Vol. 84(3), 1970, S. 488–500

 

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