Martins Menetekel Dynamische Zuspitzung

Wie verträgt sich die hohe Anzahl an Neuinfizierten in dieser Woche mit der Aufhebung der gesetzlichen Notlage und den vielen Lockerungen? Es scheint, dass erneut die Fehler des letzten Herbstes 2020 gemacht werden. Die Zahlen und Prognosen deuten auf eine dynamische Zuspitzung der Sachlage hin. Wie die Prognosewerte tatsächlich aussehen und wie Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern abschneidet, erklärt Ihnen der Mathematiker Martin Lindner anhand neuer Grafiken und Analysen.  

Kolumne Martin Lindner: Dynamische Zuspitzung. (Bild: Lindner)

Viele meiner Leser und Leserinnen werden es schon in den Nachrichten gehört haben: Heute hatten wir den höchsten Tageszuwachs an als infiziert gemeldeten Neuzugängen. Da ich meine Daten aus der Johns Hopkins University JHU beziehe und diese im allgemeinen um einen Tag den Zahlen des RKI vorlaufen, sieht es noch schlimmer aus: Der Zuwachs von Mittwoch auf Donnerstag dieser Woche betrug 41.203 Neuinfizierte.

Wie verträgt sich das mit der Aufhebung der gesetzlichen Notlage und den vielen Lockerungen? Die Antwort ist: Überhaupt nicht.

Es wird wieder der Fehler des letzten Herbstes in 2020 gemacht. Man will den Menschen Normalität ermöglichen und macht alles schlimmer. Um es eindeutig zu sagen: Wenn wir Weihnachten normal feiern wollen, müssen wir jetzt die Bremsen anziehen, da hilft kein Hoffen auf Impfen oder Durchseuchung.

Dabei kann die Politik sich nicht entschuldigen, dass sie erst jetzt durch die Steigerung der Zuwächse vor einer neuen Sachlage steht.

Wir wissen es besser. Zwar haben alle Daten einen erheblichen Nachlauf zur wirklichen Entwicklung. Zur Prognose können aber unsere Referenzkurven dienen. Wir hatten vor einigen Wochen gesehen, dass der Wendepunkt am 5. September nur eine scheinbare Verhulstkurve mit Limitierung angezeigt hatte. Es war nur eine Delle der 4. Welle. Wenn die Fallzahlenzuwachskurve die Referenzkurve um circa zehn Tage stabil nach oben verlässt, müssen alle Warnanlagen angehen und wieder Einschränkungen angeordnet werden, obwohl man es noch nicht an den absoluten Höhen der Zuwächse sehen kann.

Fazit: Wenn die Zuwächse nicht so stark fallen, wie es die Referenzkurve angibt, ist Gefahr im Verzug.

Sehen wir uns das alte Bild der Zuwächse an:

Seit mindestens Mitte Oktober hätten also alle Einschränkungen eines harten „Lockdowns“ gelten müssen, um die Lage in den Griff zu kriegen.

Ich habe zum vierten Male wieder den exponentiellen Ansatz durchgerechnet, Optimierungszeitraum vom 23. 9.bis 28.10.:

Eine dramatische Zuspitzung 

Wie man sehen kann, ist sie zu niedrig.

Fazit: Die nächsten Wochen deuten eine dramatische Zuspitzung der Sachlage an. Corona läuft aus dem Ruder!

Das zeigen auch die Inzidenzen:

Vergleichen wir die Grafik mit den Inzidenzen seit Beginn meiner Aufzeichnungen:

Das allgemeine Mantra besagt, dass durch Impfung der besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen die schweren Krankheitsfälle und Todesfälle nicht steigen werden. Die Analyse der Todesraten kann das nicht in vollem Maße bestätigen. Ich hatte letzte Woche eine Grafik der Quotienten Todesrate/Fallzahlen gezeigt. Ein aufmerksamer Leser beanstandete zu Recht, dass hier das Verhältnis der Zuwächse zueinander angemessener wäre. Hier ist es:

Rot sieht nicht viel besser als blau aus, zwar kleiner, aber es gibt keinen Trend gegen 0.

Ich habe dazu eine ältere Datei ausgegraben, um diese beiden Verhältnisse mit denen im Frühjahr zu vergleichen. Da war das Verhältnis blau um ein halbes Prozent höher und rot auch etwas größer, aber nicht wesentlich.

Eigentlich wollte ich die Grafik mit den Todesfallzahlen nicht mehr zeigen. Ich mache heute eine Ausnahme, weil sie mächtig in Richtung 100.000 zeigt. Das hätte ich mir nie vorstellen können:

Innerhalb von vier Wochen stieg die Rate von 94.000 auf 96.000, vielleicht wird die 100.000 noch dieses Jahr erreicht, wenn sich der Zuwachs pro Tag bei etwa 70 einpendelt.

Die Zuwächse pro Tag verheißen nichts Gutes.

Vergleichen wir diese Grafik mit der Grafik aus der Datei mit Verhulst-Wendepunkt ab 22. Juli 2021, um zu zeigen, wie sehr wir uns verschlechtert haben:

Das Minimum lag bei knapp über zehn pro Tag!

Noch einige Meldungen:

In den absoluten Zugängen pro 28 Tage haben wir uns kräftig nach oben gearbeitet und liegen jetzt gleich hinter Indien an 7. Stelle in der Welt, noch vor Brasilien und dem Iran und weit vor Frankreich und Spanien oder Italien, auch in den Inzidenzen. Vietnam hat etwas mehr Einwohner als die Bundesrepublik und war vor einigen Monaten noch vor uns. Jetzt haben sie weniger als ein Drittel unserer Zuwächse. 

Musterknabe war einmal. 

Über Martin Lindner

Martin Lindner
Martin Lindner ist promovierter und habilitierter Mathematikprofessor im Ruhestand und beschäftigt sich intensiv mit nachhaltiger Wirtschaft und der Zukunftsfähigkeit unserer heutigen Lebensformen. Zusätzlich hat er eine Ausbildung und auch Berufserfahrung in Wirtschaftsmediation.

Täglicher Newsletter der Insightsbranche

News +++ Jobs +++ Whitepaper +++ Webinare
Wir beliefern täglich mehr als 9.000 Abonnenten

 

Diskutieren Sie mit!     

  1. Ein Leserbrief an die Redaktion am 11.11.2021
    Hallo Herr Lindner,

    zunächst einmal vielen Dank für Ihre regelmäßigen Updates zur Entwicklung der pandemischen Lage. Ich muss auch gestehen, dass ich etwas erstaunt bin, dass die Inzidenzen trotz des hohen Prozentsatzes an Geimpften und Genesenen (> 75%) an der Gesamtbevölkerung so schnell derart in die Höhe gegangen sind.

    Folgende Anmerkungen möchte ich allerdings doch zur Aussage machen, dass die "gesetzliche Notlage aufgehoben wurde":

    Zum einen hat die Aufhebung der nationalen pandemischen Lage vor allem das Ziel, die Kontrolle endlich wieder dem Parlament zurückzugeben und bedeutet nicht, dass damit alle Maßnahmen aufgehoben sind. Im Gegenteil, die Länder haben einen großen Kasten mit Instrumenten zur Verfügung, um entsprechend ihrer jeweiligen Lage individuelle Maßnahmen zu ergreifen. Ich begrüße es als doppelt Geimpfter auch ausdrücklich, dass auf diese Weise zwischen einem Bundesland mit niedriger Impfquote, hoher Querdenkerquote und entsprechend höheren Inzidenzen und einem Bundesland mit hoher Impfquote und niedrigen Inzidenzen ein Unterschied gemacht werden kann, was die Härte der Maßnahmen angeht.

    Auch halte ich es zum Schutz unserer demokratischen Institutionen für gut und richtig, die Kontrolle wieder primär an den Bundestag als höchstes Gremium unserer Landes zurückzugeben und diese seltsame Runde aus Kanzleramt und Ministerpräsidenten, die in der Vergangenheit bestenfalls eine Schein-Einigkeit erzielt hatte, schlimmstenfalls sogar mit völlig unpraktikablen Vorschlägen (wie z.B. zusätzliche spontane "Feiertage" vor Ostern, damit sich noch mehr Menschen in den sowieso schon übervollen Supermärkten auf die Füße treten) aus den Sitzungen kam.

    Ich unterstütze ebenfalls die Aussage der neuen Regierung, dass für doppelt Geimpfte und im Falle von über 70jährigen dreifach Geimpfte in der Regel keine Gefahr mehr besteht, einen schweren Verlauf von Covid-19 zu erleben. Natürlich gibt es wie immer Ausnahmen und der eine oder andere Geimpfte im hohen Alter oder mit Vorerkrankungen landet trotzdem auf der Intensivstation. Aber auch die Influenza hat jedes Jahr für zwischen 5.000 und 20.000 Tote allein in Deutschland gesorgt (darunter immer auch jüngere Menschen) ohne dass wir deshalb den nationalen Notstand ausgerufen haben. Wer sich schützen möchte, soll sich impfen lassen. Wer trotzdem (berechtigte oder unberechtigte) Sorge hat, schwer zu erkranken, kann und soll zu Hause bleiben. Und wer sich nicht impfen lassen möchte, hat sich dann halt für eine "natürliche Impfung" entschieden. Hier stellt sich nur noch die unschöne Frage, wem wir im Krankenhaus bei Vollbelegung Priorität geben: der geplanten Tumor-Operation oder dem an Corona schwer erkrankten Impfverweigerer?

    Aus meiner Sicht gibt es jedenfalls keinen Grund mehr, den Menschen, vor allem den jungen Menschen, die sowieso schon nur ein geringes Erkrankungsrisiko hatten, was durch die Impfung noch einmal massiv reduziert wurde, weiterhin derartige Einschränkungen in ihrem Leben vorzuschreiben, wie wir das in der Vergangenheit getan haben. Dazu sind auch einfach die Nebenwirkungen und Folgen dieser Maßnahmen zu hoch, wie meine Frau, die im Bereich Familien, Kinder- und Jugendpsychiatrie und u.a. auch für das Jugendamt tätig ist, leider eindrücklich berichten kann.

    Insofern volle Zustimmung zur weiteren Bekämpfung des Corona-Virus soweit sinnvoll und ohne unverhältnismäßigen Aufwand bzw. Kollateralschaden möglich. Aber ein klares Nein zu harten bundesweiten Lockdowns für alle ohne Berücksichtigung lokaler Inzidenzwerte und persönlichem (z.B. durch Impfung drastisch reduziertem) Risiko.
  2. Ein Leserbrief an die Redaktion am 11.11.2021
    ich habe ihre Stellungnahmen zu Martins Ausführungen mit Interesse wahrgenommen.

    Schon früher habe ich hier Stellung bezogen, gerne möchte ich meine Sicht noch einmal mit neuen Erkenntnissen preisgeben.
    Die Impfungen und die Inzidenzen müssen unbedingt getrennt betrachtet werden. Wenn Geimpfte nicht getestet werden bedeutet das nicht, dass sie nicht infiziert sind.
    Das Virus SARS-CoV2 und seine Mutanten fliegt durch die Luft, sowohl im Freien als auch in allen Innenbereichen. Wenn wir es einatmen und in dem Moment getestet werden, sind wir positiv. Und das, ob wir geimpft sind oder nicht. Wenn wir nicht getestet werden, bedeutet es nicht, dass wir nicht positiv sind!
    Je mehr getestet wird, umso mehr steigt die Inzidenz. Daher sollte bei der mathematischen Betrachtung der Inzidenzen auch unbedingt die Anzahl der Test mit einfliessen. Leider wird diese Zahl nicht erhoben.
    Bis vor vier Wochen war mein Wissensstand durch Veröffentlichungen beim RKI, Charite oder BGM, dass der Wirt, den das Virus benötigt, um sich zu vermehren, eine Zelle in unseren Organismus sein muss. Aber dann habe ich vom führenden Virologen der Harvard University (Namen leider nicht gemerkt) in einem Nebensatz gelesen, dass auch Bakterien Wirte für Viren sind. Bakterien befinden sich natürlich auch in unseren Atemwegen, aber eben auch an anderen Orten.
    Die meisten Infizierungen finden in Krankenhäusern, Altenheimen, Schulen und öffentliche Verkehrsmittel statt. Wo befinden sich sehr viele Bakterien? Von schweren Verläufe(COVID-19) sind Menschen mit Vorerkrankungen unabhängig, ob geimpft oder nicht geimpft, betroffen.
    Die Vorerkrankungen sind das Problem unserer Gesellschaft und unseres Gesundheitssystems. Diabetes, Arthrose, Bluthochdruck, etc. verursachen Entzündungen. Das sind die Feinde unseres Immunsystems. Wir sollten nicht vergessen, dass es jährlich 500.000 neue Krebskranke in Deutschland gibt. Es sterben jährlich ca. 220.000 Menschen an Krebs. Warum sorgt die Politik nicht dafür, dass das aufhört? Als es die HIV-Pandemie gab, wurde auch nicht eingeschritten?
    Einige von Euch/von Ihnen wissen, dass ich ein Gesundheitsstudio betreibe. Ich habe noch ca. 2.500 Mitglieder. Wir haben uns mit den anderen Premium-Anbietern Bremens in der Pandemie zusammengetan. Die 10 Studios haben wir von Januar 2020 bis heute trotz fast 10 monatiger behördlicher Schließung über 1.000.000 Besuche gehabt. Die Inzidenz liegt bis heute bei 0,0! Keines der Studios wurde von den Gesundheitsbehörden bzw. vom Ordnungsamt mit Kontaktanfragen aufgrund von positiv getesteten Meldungen kontaktiert.
    Ich empfehle noch das neueste Buch von Prof. Dr. Streek: Unser Immunsystem.
    Übrigens: Ich bin inzwischen auch vollständig geimpft, auch wenn es mir schwer gefallen ist, diesen Schritt zu tun.
    Wenn ich einen Wunsch offen habe: das vierte G = Gesund!

Um unsere Kommentarfunktion nutzen zu können müssen Sie sich anmelden.

Anmelden

Weitere Highlights auf marktforschung.de