Dr. Andreas Giger: "Marktforscher müssten aufhören, die Menschen als Datenmelkkühe zu betrachten"
Hamburg / Köln - Dr. Andreas Giger, Zukunftsphilosoph, Werteforscher, Studienautor und Zukunftsreferent stand marktforschung.de im Rahmen des diesjährigen BVM-Kongress in Hamburg zum Videointerview zur Verfügung. Die Fragen für marktforschung.de stellte Sabrina Verenice Gollers.
Auszüge aus diesem Interview finden Sie auch als Videopodcast in unserer Rubrik "Video".
Sanbrina Verenice Gollers für marktforschung.de: Ich stehe hier neben Dr. Andreas Giger, Zukunftsphilosoph und Werteforscher. Herzlich willkommen.
AG: Danke.
SG: Herr Dr. Giger, was erwarten Sie vom diesjährigen BVM-Kongress?
AG: Ich bin ja nun Schweizer und deswegen nicht Mitglied in diesem Verein, von daher betrachte ich das Ganze von außen. Aber ich nehme an - und soweit hat es sich auch angelassen - es ist eine Standortbestimmung der Branche.
SG: Eines der Kernthemen des Kongresses ist ja die Attention Society. Wie kann man denn Ihre Aufmerksamkeit gewinnen?
AG: Mit originellen Ideen. Also alles, was sich so im Mainstream bewegt, erregt meine Aufmerksamkeit nicht. Ich bin nunmal trainiert darauf, Abweichungen und Entwicklungen festzustellen. Das erregt meine Aufmerksamkeit.
SG: Und wenn Sie Ungewöhnliches so gerne mögen: Zu welchem ungewöhnlichen Thema würden Sie denn gerne mal einen Kongress besuchen?
AG: Zum Beispiel zu dem Thema "Welche Auswirkungen haben Werte auf Konsumverhalten, auf das Verhalten der Menschen generell". Wie wichtig sind Werte, was verändert sich dabei. Das wäre ein Thema für mich.
SG: Für Sie als Werteforscher: was war denn der schönste Forschungsmoment Ihres Lebens?
AG: Der schönste – weiß ich nicht. Aber vielleicht einer der spannendsten war tatsächlich: Ich mache seit etwa 10 Jahren bei meinem Netz regelmäßig Befragungen, welche Werte wie wichtig sind. Daraus mache ich eine Hitparade der heißen Werte und ungefähr bei der dritten Welle kam mir dann selber dieser alte Begriff der Lebensqualität wieder in den Sinn. Und zack – war er schon auf Platz Zwei. Also von Null auf Zwei in der Hitparade, das war schon ein sehr spannender Moment.
SG: Und jetzt wollen wir natürlich auch den ersten Platz erfahren.
AG: Das war - und das ist auch für Deutsche vermutlich relativ spannend zu hören – Selbstverantwortung. Weil es natürlich zusammen gehört. Also wie gesagt, Lebensqualität betrachtet man heute als das, wofür man mehrheitlich selber zuständig ist. Eigenverantwortlichkeit ist auch gefragt, wenn es um die eigene Lebensqualität geht. Von daher ist es wieder nicht so überraschend.
SG: Welche anderen Werte sind gerade ganz heiß?
AG: Das ist sicherlich Nachhaltigkeit, also diese ganzen "Grünen Werte" sind wichtiger geworden. Ich glaube, die verschwinden auch nicht mehr so schnell, wie sie teilweise schon verschwunden sind. Und etwas, was sich gerade ankündigt, was auch nicht völlig neu und überraschend ist, ist das Thema Sinn, Lebenssinn, Sinnsuche. Damit hängen dann natürlich auch wieder die ganzen religiösen Geschichten zusammen, aber eben nicht nur. Man findet sie auch in der Natur, oder in sozialen Beziehungen. Aber die Frage "Was gibt meinem Leben Sinn" ist eine der zentralen geworden.
SG: Wie unterscheiden sich da Jung und Alt bei der Sinnsuche?
AG: Vielleicht kann man es so formulieren, wie es mal eine Tochter von C.G. Jung getan hat, die war Astrologin. Die habe ich mal interviewt im früheren Leben. Die meinte, die Aufgabe in der ersten Lebenshälfte sei es, herauszufinden, was zu einem passt, was der eigene Weg sei und in der zweiten Lebenshälfte müsse man diesen Weg dann gehen. Das kann ich eigentlich nur unterschreiben, wobei einem Gott sei Dank nie klar ist, wann die Lebensmitte ist im individuellen Fall. Also man kann auch früher schon damit anfangen, sein Leben zu leben. Man muss nicht bis 40 suchen.
SG: Welche globalen Trends kann man gerade auf der ganzen Welt beobachten?
AG: Es gibt in der Zunft der Zukunftsforscher ja den Begriff der Megatrends, der wird leider Gottes manchmal ziemlich falsch verstanden oder auch missbraucht. In der ursprünglichen Form war das eine Liste von Trends, die wirklich global sind. Das sind nicht mehr als Zehn oder Zwölf. Dazu gehört zum Beispiel die in meinem Vortrag angesprochene Individualisierung. Ganz interessant ist sie auf der ganzen Welt feststellbar - nicht überall auf demselben Ausgangsniveau logischerweise - aber die Richtung ist überall dieselbe. Das ist einer. Die älter werdende Gesellschaft ist so ein Trend – auch global. Dann natürlich die Globalisierung per se, also die immer stärkere Vernetzung von Wirtschaften und Kulturen. Ein weiterer Megatrend - das wird Sie besonders freuen - ist die zunehmend wichtigere Rolle der Frauen. Und was mir jetzt gerade noch so einfälllt ist das immer weiter steigende Bildungsniveau. Das sind wirkliche Megatrends, die sich global auswirken.
SG: Unterscheiden sich Frauen und Männer in ihren Werten, oder bewegen sie sich immer mehr aufeinander zu?
AG: Was die Grundwerte anbetrifft, würde ich keine großen Unterschiede mehr feststellen. Hingegen wenn es dann konkreter wird, in konkrete Lebenssituationen, Stichwort Karriere, da stelle ich doch immer noch gewisse Unterschiede fest.
SG: Und welche?
AG: Dass Frauen sich mehr fragen: "Lohnt sich der ganze Aufwand und Rummel wirklich?" Männer glauben immer noch viel stärker an vorgegebene Karrierewerte, dass es sich auf jeden Fall lohnt. Frauen sind da ein bisschen klüger.
SG: Wie kann man die Bevölkerung nachhaltig dazu bringen, auch weiterhin an Marktforschungprojekten teilzunehmen?
AG: Also das sage ich jetzt ganz bewusst ein bisschen drastisch. Sie müssten aufhören, die Menschen als Datenmelkkühe zu betrachten und müssten in wirklichen Dialog mit ihnen treten. Das heißt zum Beispiel auch, sehr viel mehr die Ergebnisse transparent zu machen. Das sehe ich bei meinen Befragungen. Da ist ein ganz zentrales Motiv teilzunehmen: die Neugier, wie ticken eigentlich Gleichgesinnte. Bin ich da am Rande, oder bewege ich mich in der Mitte. Also diese Neugierde drauf, was die anderen eigentlich denken, das ist ein ganz zentrales Motiv mitzumachen. Das könnte man noch wesentlich stärker bedienen. Und natürlich, wenn es noch weiter ginge - das wäre dann aber schon der Idealzustand: wenn ich in einem Jahr nach der Marktforschung von der Marke hören würde, wir haben gelernt, das haben wir jetzt besser gemacht. Das wäre dann die wirkliche Transparenz. Aber davon sind wir noch weit entfernt.
SG: Wer ist Ihrer Meinung nach der größte Feind der Marktforschung?
AG: Ich glaube, zu kurzsichtiges, zu oberflächliches Denken. Also wenn ich - wie letzte Woche - für ein Telefoninterview angerufen werde und muss einfach queerbeet aus einer Liste von 30 Herrendüften am Telefon die auswählen, die ich bevorzuge, dann muss ich sagen: "Moment!" Also da hat jemand seine Hausaufgaben ganz offensichtlich nicht gemacht. Also auch dort, wieder drastisch formuliert, wird zu viel gelogen. Wenn die anrufen und sagen, es dauert fünf Minuten und nachher dauerts 20, dann ist das wiederum dieser fehlende Respekt vor dem Dialogpartner, den ich bemängele. Also da ist im Moment, glaube ich, das größte Problem. Gar nicht methodisch, sondern wirklich im Verhältnis zu den Menschen, um die es eigentlich geht.
SG: Ich sage Ihnen drei Stichworte, die auch mit Marktforschung zu tun haben, und Sie sagen mir dann bitte, wie wichtig diese Werte heute in der deutschen Bevölkerung sind: Ehrlichkeit.
AG: Ja, da besteht ein echtes Defizit, wäre aber ein ganz zentraler Wert.
SG: Also wie wichtig ist es in der Bevölkerung?
AG: In der Bevölkerung nimmt es zunehmend zu.
SG: Und wie wichtig ist die Privatsphäre, also gerade auch bei Marktforschungsbefragungen?
AG: Mir scheint, Datenschutz ist in den Eliten ein größeres Thema als in der Bevölkerung. Dort scheint das gar nicht so sensibel zu sein, wie oft befürchtet wird. Privatsphäre als solches ist natürlich wieder was ganz anderes. Also dass die Daten anonym bleiben muss beispielsweise gewährleistet sein, völlig selbstverständlich. Privatsphäre ist für mich übrigens noch - also als Assoziation - auch eine methodische Frage. Telefoninterviews verletzen die Privatsphäre sehr oft. Ich bin gerade unter der Dusche und gebe dann halt nur abgelenkte Antworten. Bei allen Methoden, wie der schriftlichen, aber auch Online-Befragung kann ich wählen, wann ich es machen will, in welchem Tempo ich es machen will. Das ist für mich auch ein Stück Privatsphäre.
SG: Wissenschaft.
AG: Es war wahrscheinlich eine der größten Tragödien der Marktforschung, dass sie immer Wissenschaftsansprüche erhoben hat, weil sie damit den falschen Wissenschaften gefolgt ist, nämlich irgendwelchen exakten Naturwissenschaften. Und das menschliche Gehirn oder Bewusstsein oder Denken ist einfach keine exakte Wissenschaft. Also ich wäre sehr für Wissenschaft, aber dann müssten es die wirklich neueren sein, wie Chaos-Theorie und solche Geschichten. Dann wäre ich sehr dafür. So wie es im Moment ausschaut, ist es für mich nur ein Vorwand für Denkfäule. Also für mich wird eine der zentralen Entwicklung die sein, wen fragen wir eigentlich, interessiert uns wirklich die flaue und nichtssagende Meinuung von irgendwelchen Leuten, die sich mit dem Thema nie beschäftigt haben, oder nehmen wir, wie ich es in der Kundenzufriedenheitsforschung als sehr überzeugenden Vorschlag gefunden habe, als Kriterium: nur wer auf einer 10er Skala mindestens 8 erreicht, ist interessant. Oder dann 3 oder weniger, weil: alles in der Mitte bringt keine wirklich interessanten Ergebnisse. Also dieser Mut zur Abkehr von diesem Dogma der Repräsentativität, mehr hin zu Leuten, die wirklich was zu sagen haben, das scheint mir eines der zentralsten Themen der Zukunft.
SG: Sie haben eben von einer Liste der heißen Werte gesprochen. Wo kann man Ihre Hitparade der heißen Werte finden?
AG: Also wie gesagt, ich mache seit 12 Jahren solche Befragungen, und eben ganz genau bei einem Netz, das sich wirklich interessiert. Ich nenne das sogar die Bewusstseinselite, also eine Elite, die nicht elitär ist, aber bewusstseinsmäßig etwas voraus. Da habe ich natürlich dieses Gebot nach Transparenz auch erfüllt. Die Ergebnisse sind alle tatsächlich immer im Netz zu finden unter www.sensonet.org. Da sind diese Hitparaden der heißen Werte zu finden, oder auch: "Was heißt reife Lebensqualität?" Das war eines der letzten Themen. "Was bedeutet Nachhaltigkeit?", ist es schon durchgedrungen, dass das nicht nur ökologisch gedacht ist, sondern auch sozial und ökonomisch. Also lauter solche Fragen und auch die Antworten sind dort zu finden.
SG: Herr Dr. Giger, vielen Dank für diesen Blick in die Zukunft. Jetzt noch mal eine letzte Frage: Welchen Wert hat denn Marktforschung für Sie?
AG: Wenn ich auf eine mich interessierende Frage Antworten bekomme, dann ist das wirklich ein gefühlsmäßiger Höhepunkt in meinem Leben. Ein kleiner Orgasmus wäre zu viel gesagt, aber es geht in diese Richtung. Also meine Neugier wird damit befriedigt.
SG: Dankeschön.
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