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Interview mit Lisa Wiese, eye square (Teil 1) "Digitales Wohlbefinden ist ein komplexes Konzept. Das spiegelt sich auch in dessen Messung wider"

UX betrachtet, ob Nutzende mit einer App oder Website gut zurechtkommen. Ignoriert wird dabei, dass es langfristige Effekte auf das Wohlbefinden geben kann. Die Digital Wellbeing-Bewegung nimmt sich dieser Lücke an. Lisa Wiese von eye square forscht zu diesem Bereich und erklärt im Interview, wie man das Digitale Wohlbefinden messen und in die UX-Forschung integrieren kann.

Ein gutes Leben führen, für viele gehört Sport dazu. "Digital Wellbeing" analysiert, ob eine App das Leben der Menschen langfristig verbessern kann (Bild: picture alliance / Zoonar | Robert Kneschke).

Warum sollte man sich als Unternehmen neben dem Thema UX auch mit dem Konzept „Digital Wellbeing“ befassen? Inwiefern grenzen sich UX und Digital Wellbeing voneinander ab? 

Lisa Wiese: Digital Wellbeing stellt in gewisser Weise eine Erweiterung des Begriffs User Experience (UX) dar. Dabei werden das menschliche Erleben und Wohlbefinden noch ganzheitlicher als bisher bei der Entwicklung und Testung digitaler Produkte und Applikationen berücksichtigt. Für Unternehmen ist das relevant, weil so deren digitales Produkt noch besser an die Bedürfnisse der Nutzenden angepasst werden kann. Dadurch wird langfristig die Kundenzufriedenheit und Kundenbindung gestärkt, sowie die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens gesichert.   

Die aktuelle Ausrichtung der User Experience Forschung in der Praxis entspricht eher einer hedonistischen Definition menschlichen Wohlbefindens, also dem Wunsch, sich “gut zu fühlen” und möglichst häufig positive Emotionen und möglichst selten negative Emotionen zu erleben. Typische UX-Ziele sind entsprechend eine kurzfristige, meist auf die Produktinteraktion beschränkte Maximierung positiver Gefühle, zum Beispiel durch die ästhetische Gestaltung des User Interfaces oder das Erzeugen positiver Emotionen bei der Produktnutzung und eine Minimierung negativer Gefühle, zum Beispiel durch das Beheben von Usability-Problemen und Nutzungsbarrieren.  

Dies spiegelt sich auch in standardisierten UX-Skalen wie dem AttrakDiff oder dem UEQ wider. Neben pragmatischen Qualitäten der Produktnutzung, also den klassischen Usability-Faktoren wie Ease of Use, Effizienz oder Nützlichkeit, werden dort auch hedonische Faktoren wie „Stimulation“ oder „Neuartigkeit“ erfasst, deren Optimierung dazu beitragen kann, die Produktinteraktion “angenehmer”, “ansprechender” oder “lustiger” zu machen. In der Praxis wird dieser hedonische Aspekt häufig auch als “Joy of Use” bezeichnet.   

Das Produkt oder die Produktinteraktion wird dabei meist als direkte Quelle positiver oder negativer Gefühle verstanden, die es zu steigern beziehungsweise zu reduzieren gilt (On-Platform-Effekte). Dementsprechend fragen gängige UX-Skalen auch nach einer Bewertung des Produkts oder des User Interfaces an sich.  

Zudem liegt der Fokus der UX-Research meist auf kurzzeitigen Effekten, die in der direkten Produktinteraktion sichtbar werden und folglich auch sehr gut in Lab- oder Remote-UX-Tests gemessen werden können. Langfristige Effekte, die erst mit zeitlicher Verzögerung oder durch wiederholte Interaktionen mit dem Produkt oder Service auftreten (sogenannte Digital Habits) und die über die unmittelbare Nutzung hinausgehen (Off-Platform-Effekte), und gegebenenfalls Auswirkungen auf die mentale Gesundheit, das Sozialverhalten oder die politische Orientierung einer Person haben können, werden meist nicht erfasst und auch nicht mitgedacht. Das liegt auch daran, dass solche langfristigen, Off-Platform-Effekte schwerer zu messen sind. Allerdings sind negative Langzeitfolgen der Nutzung interaktiver Technologien in vielen Lebensbereichen inzwischen gut beforscht.  

Digital Wellbeing integriert Aspekte des eudaimonischen Wohlbefindens, das beschreibt, wie man ein “gutes Leben” führt, in das Design digitaler Produkte und Services.  

Dabei geht es verstärkt um das Erfüllen tieferliegender, menschlicher Bedürfnisse, wie zum Beispiel nach einem selbstbestimmten Leben oder engen sozialen Beziehungen, das Erreichen wichtiger Lebensziele, Erfolg, Selbstakzeptanz und persönliche Weiterentwicklung. Um diese Aspekte zu fördern, übernimmt das digitale Produkt eher die Rolle eines Unterstützers oder Vermittlers. So kann es beispielsweise bedeutungsvolle Erlebnisse und Aktivitäten erleichtern oder Menschen dazu ermutigen, sinnstiftende Lebensziele zu definieren und zu erreichen. Typische Beispiele sind Online-Kalender oder Travel-Websites.  

Digital Wellbeing zielt zudem darauf ab, interaktive Technologien so zu gestalten, dass sie einen langfristigen Mehrwert für das Leben der Nutzenden erzeugen, der über den unmittelbaren Nutzungskontext hinausgeht. Das nennt man Real-Life Value.  

Viele Services adressieren bereits eudaimonische Wellbeing-Effekte. So ist es beispielsweise das selbsterklärte Ziel von Sozialen Netzwerken wie Facebook oder Instagram “die Welt näher zusammenzubringen” und “Gemeinschaft zu fördern” - also enge soziale Beziehungen im echten Leben zu unterstützen. LinkedIn möchte Business Professionals “erfolgreicher” und “produktiver” machen, also zu deren beruflichen Erfolg beitragen.  

Wenn Unternehmen diese Ziele in der Produktentwicklung tatsächlich ernst nehmen, ist die alleinige Messung und Optimierung hedonischer Produktqualitäten nicht mehr ausreichend. Zusammengefasst erweitert Digital Wellbeing den aktuellen Begriff User Experience – aus meiner Sicht - in fünf wesentlichen Bereichen (s. Tabelle 1).  

Tabelle 1: Digital Wellbeing erweitert den Begriff “User Experience” in fünf Bereichen.

User Experience Digital Wellbeing, Human Experience
Hedonistisches Wohlbefinden (“sich gut fühlen”) Eudaimonisches Wohlbefinden (“gut leben")
Positive Emotionen Sinnhaftigkeit, Bedeutsamkeit
Usability-Probleme Auswirkungen auf Individuen und Gesellschaft
Kurzfristige Effekte Langfristige Effekte
On-Platform Effekte, Produkt-Interaktion Off-Platform Effekte, Real-Life Impact

Für Unternehmen ist Digital Wellbeing ein relevantes Konzept, weil Nutzende digitaler Services sich langfristiger negativer Auswirkungen der Technologie-Nutzung zunehmend bewusstwerden und diese durch eine Reduktion der Nutzungsdauer minimieren wollen, zum Beispiel durch “Online Diets”, “Digital Detox” oder die Nutzung von “Screen Time Tools”.  

Wenn Unternehmen durch eine Überpriorisierung kurzfristiger Aufmerksamkeits- und Engagement-Metriken den tatsächlichen langfristigen Wert, den ihr digitales Produkt für das Leben der Nutzenden schafft, nicht im Blick haben, riskieren sie außerdem, im Wettbewerbsvergleich das Nachsehen zu haben. So hat Facebook beispielsweise im Februar 2022 erstmalig in der Unternehmensgeschichte sinkende tägliche Nutzungsraten an seine Investoren berichten müssen. Alternative soziale Netzwerke wie BeReal und Snapchat, die explizit eudaimonische Faktoren wie Authentizität in den Vordergrund stellen, erfreuen sich dagegen wachsender Beliebtheit in jüngeren Nutzergruppen. Digital Wellbeing kann also einen Wettbewerbsvorteil in einem gesättigten Markt darstellen.  

Gute Usability oder auch Freude bei der Produktnutzung sind keine alleinigen, differenzierenden Merkmale mehr.  

Nachhaltiges Wohlbefinden wird angeblich eher durch unser Handeln als durch unseren Besitz bestimmt. Das trifft dann wohl auch auf „Digital Wellbeing“ zu. Was bedeutet diese Annahme für die Testung von Produkten und digitalen Applikationen? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? 

Lisa Wiese: Forschungsergebnisse in der Positiven Psychologie zeigen, dass positive Veränderungen unserer Lebensumstände wie mehr Wohlstand oder das Erwerben materieller Güter unser Wohlbefinden nur für kurze Zeit steigern. Das hat mit dem Phänomen der hedonistischen Adaptierung zu tun. Wir gewöhnen uns an positiven Veränderungen. Das wurde unter anderem bei Personen beobachten, die im Lotto gewonnen haben, beobachtet, die nach kurzer Zeit im Durchschnitt nicht glücklicher waren als andere Menschen.  

Zudem steigen unsere Erwartungen. Wir wollen also immer mehr. Dies führt in letzter Konsequenz dazu, dass wir versuchen, immer mehr Besitz anzuhäufen, um immer wieder neue, kurze Glücksmomente zu erzeugen, die leider nicht von Dauer sind. Dies ist kostenintensiv, schädigt die Umwelt und ist zudem nicht zielführend, das heißt es steigert unser Wohlbefinden nicht nachhaltig. Wir sind sozusagen in einer “hedonistischen Tretmühle” gefangen.  

Glücklicherweise gibt uns die psychologische Forschung aber auch Anhaltspunkte, wie wir unser Wohlbefinden langfristig steigern können. Der Schlüssel hierfür liegt in unserem täglichen Handeln. Entscheidend ist dabei die Art der Aktivitäten, die wir regelmäßig ausführen. Dabei gibt es bestimmte Aktivitäten, die sog. Positiven Interventionen, die besonders förderlich für unser Wohlbefinden sind. Dazu gehören zum Beispiel soziale Beziehungen pflegen, etwas Gutes für Andere tun, positiv denken, die Leistungen anderer anerkennen, dankbar für das sein, was man hat, aber natürlich auch sich um seine körperliche und mentale Gesundheit zu kümmern.  

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Zudem sind hedonistische Adaptierungsprozesse bei Aktivitäten weniger stark ausgeprägt als beim Erwerb materiellen Besitzes. Das liegt unter anderem daran, dass diese Art von Aktivitäten unser Selbstbild positiv und nachhaltig verändern und wir uns in Bezug auf persönliche Erlebnisse und Aktivitäten weniger stark mit anderen vergleichen, was bei materiellem Besitz eine Quelle von Unzufriedenheit sein kann.  

Für die Gestaltung und Testung digitaler Produkte und Services birgt diese aktivitätszentrierte Sichtweise sehr großes Potential.  

Digitale Produkte sind anders als materielle Güter ohnehin schon stärker auf die Unterstützung von Aktivitäten und Erlebnissen ausgerichtet und zudem in viele Bereiche unseres Alltags eingebunden. 

Sie sind dabei allerdings eher “Mittel-zum-Zweck" als eine direkte Quelle von Wohlbefinden, das heißt sie können das Interesse für positive Aktivitäten bei den Nutzenden wecken, sie motivieren, die Aktivitäten auszuführen oder die Aktivitäten erleichtern. Hierbei geht es also nicht darum, wie stark das Produkt oder die Interaktion selbst Wohlbefinden erzeugt, sondern wie effektiv das Produkt wohlbefindenssteigernde Aktivitäten unterstützt. Typische Beispiele sind Fitness-, Meditations- oder Ernährungs-Apps.  

Aber – und das ist ein sehr wichtiger Punkt – auch alltägliche Consumer Technologies wie Email-Clients, Messaging Services, Social Networks oder Travel Websites, deren Hauptziel nicht die Optimierung von Wohlbefinden ist, enthalten häufig Features oder User Flows, die so gestaltet werden können, dass sie Wohlbefinden erhöhen. Jede Form des sozialen Austauschs über das Internet kann beispielsweise als eine Möglichkeit verstanden werden, enge und wertschätzende soziale Beziehungen zu fördern.  

Bewertungen von Restaurants, Verkäufern oder das Verteilen von “Kudos” bei LinkedIn und Team-Collaboration-Tools wie MS Teams sind technologiegestützte Momente, Dankbarkeit auszudrücken. Die Herausforderung für das Interface Design ist nun, wie diese Features so (um)gestaltet werden können, dass tatsächlich auf Seiten des Nutzenden Dankbarkeit entsteht und im Idealfall auch das Wohlbefinden der Rezipierenden von Bewertungen oder Kudos gesteigert wird.  

Für die UX-Research bedeutet das, dass der “Erfolg” eines solchen Features entsprechend daran gemessen werden müsste, wie häufig oder wie effektiv ein Produkt, seine Nutzenden dazu motiviert, Dankbarkeit auszudrücken. Hier möchte ich uns als UX-Forschende ermutigen. Eine Optimierung des “Digital Wellbeing” klingt vielleicht komplex, ist aber bereits durch kleine Veränderungen des User Interfaces auf Feature- oder User-Flow-Ebene möglich, die auch in agilen Software-Entwicklungs-Prozessen adressiert werden können.  

Wie testet man, ob eine konkrete App oder eine bestimmte Technologie zum „Digital Wellbeing“ beiträgt? Wie verändert sich das Setting für einen Usability-Test, wenn auch überprüft werden soll, ob die App zum „Wellbeing“ beiträgt? 

Lisa Wiese: Neben kurzfristigen, hedonischen Aspekten, die sich direkt in der Produktinteraktion zeigen, sollten auch langfristige, eudaimonische Komponenten des Wohlbefindens und Effekte im echten Leben der Nutzer gemessen werden.  

Hierfür eignet sich am besten eine Kombination verschiedener Messmethoden (zum Beispiel Usability-Test, Online-Befragung, Verhaltensdaten, ethnografische Ansätze), die zu verschiedenen Messzeitpunkten eingesetzt werden und unterschiedliche Aspekte des Wohlbefindens erfassen. Im Usability-Test selbst können weiterhin vor allem kurzfristige Effekte auf Interface-Ebene gemessen werden. Dazu gehören wie bisher auch hedonische Aspekte, aber auch kurzfristige Prädiktoren für erwartete, langfristige eudaimonische Effekte. Also zum Beispiel wie stark oder effektiv ein Produkt während der Produktinteraktion das Engagement in positive Aktivitäten motiviert oder erleichtert. 

Ob die Nutzung eines Produkts dann tatsächlich zu langfristigen, positiven Wohlbefindens-Effekten führt, könnte durch fortlaufende UX-Tracking-Surveys und Analytics-Metriken überprüft werden. Dabei sollte auch sichergestellt werden, dass keine unbeabsichtigten negativen Effekte wie Technologieabhängigkeit oder Dauernutzung auftreten.  

Da es bei Digital Wellbeing stärker um die Qualität als die Quantität der Interaktion mit einem Produkt geht, ist ein reines behaviorales Tracking des Nutzerverhaltens anhand von Engagement-Metriken (“was die Nutzenden tun“) nicht ausreichend und sollte durch explizite Nutzerbefragungen (“was die Nutzenden wollen“) ergänzt werden.  

Für diese Befragungen - innerhalb des Usability-Tests oder im Rahmen von Online-Surveys - müssten bestehende UX-Skalen durch eudaimonische Aspekte erweitert werden. Hierfür können Skalen aus der Positiven Psychologie für den Technologie-Kontext angepasst werden. Welche Bereiche des eudaimonischen Wohlbefindens für ein bestimmtes Produkt relevant sind, hängt dabei sehr stark von der Produktkategorie und dem spezifischen User Flow oder Feature ab, das getestet werden soll. Wird beispielsweise ein Feature entwickelt, das enge und wertschätzende soziale Beziehungen fördern soll, könnte gemessen werden, wie sehr die Nutzenden sich tatsächlich von ihren Kontakten unterstützt fühlen, wie nah sie sich diesen fühlen oder wie sehr das Feature Gefühle von Einsamkeit reduziert.  

Es gibt hier also keinen “one-size-fits-all" Ansatz. Wohlbefinden ist ein komplexes Konzept. Das spiegelt sich natürlich auch in dessen Messung wider.  

Zuletzt würde ich empfehlen, bei UX-Tracking-Studien auch Auswirkungen auf langfristig orientierte Business-Metriken wie zum Beispiel Customer Satisfaction und Customer Loyalty mitzuerfassen, um sicherzustellen, dass der Mehrwert einer Optimierung von Digital Wellbeing auch Entscheidern und Entscheiderinnen außerhalb des Produkt- oder Design-Teams bewusst wird.  

Lesen Sie den zweiten Teil des Interviews mit Lisa Wiese am 14.07.

 

Über die Person

Lisa Wiese ist Expertin für qualitative und quantitative User Experience Forschung und beschäftigt sich bei eye square mit der Entwicklung von innovativen Methoden im Bereich User Experience und Digital Wellbeing. Neben ihrer Tätigkeit bei eye square forscht Lisa Wiese am Institute for Positive Design an der TU Delft in den Niederlanden. Ihre Doktorarbeit beschäftigt sich mit der Frage, wie alltägliche digitale Technologien, z.B. Email- und Messaging-Services, Soziale Netzwerke oder Online Shops... mehr

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74

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