Happy Thinking People & Leifheit Digitale Ethnographie – The New Normal: Close from a Distance?

Ethnographie – der direkte Draht zum Kunden
Ein bedeutender Zweig der qualitativen Marktforschung ist die Ethnographie, was wörtlich übersetzt "Völkerbeschreibung" bedeutet.
Ziel hierbei ist es, die Zielgruppe, ihre Motivation und ihre Bedürfnisse genauestens kennenzulernen und zu verstehen. Dabei spielen teilnehmende Beobachtung, Befragung und das authentische Erleben der Zielgruppenvertreter in ihrem natürlichen Umfeld eine entscheidende Rolle.
Das Eintauchen in die Lebens- und Erlebniswelt der Zielgruppe ermöglicht echte Insights, die als Basis für Produkt- und Markenentwicklung, Markenpositionierung und Kommunikation äußerst relevant sind.
Ein klassischer und wohl auch der gängigste ethnographische Ansatz in der Marktforschung sind Besuche vor Ort, in der natürlichen Produktumgebung der Zielgruppe.
Diese sogenannten In-Home Interviews dauern oft mehrere Stunden und können, je nach Projekt, auch eine Tour durch die Wohnung oder einen Blick in den Kühlschrank beinhalten. Sie geben den Forschern durch den direkten Kontakt und die persönliche Interaktion mit den Endverbrauchern wertvolle Einblicke in das gesamte Umfeld rund um die zu untersuchende Produktwelt und deren Nutzung. Dabei kann das Eintauchen in die Konsumentenwelt mit allen Sinnen zusätzliche wertvolle Insights liefern.
Braucht Ethnographie physische Nähe?
Was macht man aber, wenn ein physisches Treffen z.B. aufgrund von Lockdown-Beschränkungen während der Covid-19-Pandemie, nicht möglich ist?
Ist das derzeitige Szenario etwa "der Tod der Ethnographie"? Oder anders gesagt, können die Nutzer und deren Bedürfnisse jetzt nicht mehr "verstanden" werden?
Die Antwort auf diese Frage ist offensichtlich ein klares "Nein!".
Doch dann stellt sich natürlich die Frage, wie man diese wertvollen Einblicke aus der Ferne erhalten kann. Und die einfachste Antwort auf diese Frage gibt die Digitalisierung, die seit Beginn des letzten Jahres vermehrt Einzug in das Alltagsleben der Leute gehalten hat. Dadurch wurden ideale Voraussetzungen geschaffen für die erfolgreiche Umsetzung eines rein digitalen Untersuchungsdesigns.
Dabei stellen sich allerdings die folgenden Fragen:
- Wie lassen sich Nähe und Empathie, die als entscheidende Faktoren erfolgreicher Ethnographie verstanden werden, in der digitalen Welt erzielen?
- Wie kann der Kontext, in dem das Erlebte und Gesagte steht, voll umfänglich erfasst werden, wenn man nicht vor Ort in die Lebenswelt eintauchen kann?
- Wie lässt sich gewährleisten, dass man auch die vielen kleinen, non-verbalen Informationen wahrnimmt, die man in einem physischen In-Home Interview sammeln kann?
- Wie können bisher unbekannte Bedürfnisse aufgedeckt werden, wenn nicht alles beobachtet werden kann, sondern nur ein Ausschnitt, und dieser noch nicht einmal in Person, live vor Ort?
- Wie lässt sich sicherstellen, dass man mit so einem Ansatz auch tatsächlich alle Zielgruppen erreicht, auch Ältere und nicht nur Technik- und Online-Affine?
Im Grunde genommen gehen diese Vorbehalte mit einem sehr traditionellen und teilweise idealisierten Verständnis von Ethnographie einher. Sie beruhen auf der Annahme, dass man nur über den direkten, physischen Austausch eine Verbindung zu seinem Gegenüber aufbauen und dadurch Einblicke fernab des Gesagten und "zwischen den Zeilen" erhalten kann.
Es mag zwar sein, dass es schwieriger ist, genau diese Art von Information in einem online-geführten Gespräch zu erhalten, unmöglich ist es jedoch nicht.
Auch screen-to-screen lassen sich Emotionen und Kontext wahrnehmen, es bedarf nur ein wenig mehr an Vorbereitung. Und auch bei einem "Offline-Interview" ist nicht garantiert, dass alles, was zwischen den Zeilen passiert, auch wahrgenommen und verwertet werden kann.
Digitale Ethnographie – aber wie?
Aber was versteht man jetzt unter dem Begriff "digitale Ethnographie" und wie kann eine solche Studie konkret aussehen?
Digitale Ethnographie wird als die Umsetzung ethnographischer Studien mit rein digitalem Ansatz und Mitteln verstanden. Hierbei hat es sich bewährt, ähnlich wie in der traditionellen Ethnographie, eine Kombination verschiedener qualitativer Methoden zu verwenden, um den Untersuchungsgegenstand bestmöglich in all seinen Facetten zu erfassen.
Eine inzwischen absolut etablierte ethnographische Methode sind Online Insight Communities. Dabei bloggen Zielgruppenvertreter zu Erfahrungen, Erlebnissen und ihrem Alltag auf einer eigens kreierten, themenspezifischen, geschlossenen Plattform und beantworten zusätzlich Fragen.
Mit first@thePool® setzt Happy Thinking People Online Insight Communities bereits seit 2007 ein, als damals einer der ersten in Deutschland. Mithilfe dieser Methode lässt sich ein sehr gutes Verständnis der Zielgruppe gewinnen sowie ein umfassender Einblick in den Nutzungskontext eines Produkts.
Wenn allerdings noch tiefergehende Insights zu spezifischen Aspekten benötigt werden, sind Tiefeninterviews unverzichtbar. Auch diese können screen-to-screen stattfinden. Happy Thinking People hat schon vor Beginn der Pandemie digitale Tiefeninterviews durchgeführt. Die neuen Grundprinzipien der Online-Empathie wurden dabei auch schriftlich festgehalten.
Online Insight Communities und digitale Tiefeninterviews lassen sich hervorragend miteinander kombinieren, um tiefgehende Insights und Bedürfnisse zu generieren.
Digitale Ethnographie als etablierte Methodik – Zukunft oder Gegenwart?
Leifheit und Happy Thinking People haben 2020 einen zu 100% digitalen Studienansatz sehr erfolgreich realisiert.
Im Rahmen einer ethnographischen Studie sollten relevante Consumer Insights und Bedürfnisse identifiziert werden, als Inspiration für bahnbrechende Produktlösungen mit großer Verbraucherrelevanz und hohem Zufriedenheitspotenzial.
Hierbei wurde ein zweistufiges Studiendesign mit den bereits genannten Methoden Online Insight Community und online geführten Face-to-Face Interviews gewählt:
Während der 10-tägigen Dauer der Online Insight Community tauschten sich die Zielgruppenvertreter aktiv zum Untersuchungsgegenstand aus – sowohl mit den Marktforschern als auch untereinander in der Community. Ihre tägliche Aufgabe war es in der Community ein Tagebuch über ihre Gewohnheiten und Tätigkeiten zu führen. Zusätzlich sollten bestimmte Aufgaben bearbeitet werden. Dabei wurden die Teilnehmenden aktiv motiviert, nicht nur Textbeiträge zu posten, sondern auch Bilder und selbst gedrehte Videos.
Dieser Mix an freier Interaktion untereinander und angeleiteten Aufgaben gewährleistete vielfältige und dennoch auf den Untersuchungsgegenstand zielgerichtete Einblicke zu den Bedürfnissen der Teilnehmenden. Gerade durch den längeren Zeitraum von 10 Tagen, in denen die Befragten begleitet wurden, konnten viel authentischere Insights und Informationen gewonnen werden als in einem 1-2 stündigen und angekündigten In-Home Interview.
Durch die Dauer der Online Insight Community hat man in den Posts der Teilnehmer auf direktem Weg auch einiges Privates, viel Kontext und Umfeld rund um ihre persönlichen Verhältnisse erfahren können, was man in "klassischen" In-Home Interviews typischerweise nur indirekt und implizit erhält.
Darüber hinaus konnten die Teilnehmer durch ihre zahlreichen Beiträge aus vielen verschiedenen Blickwinkeln wahrgenommen und kennen gelernt werden. Dadurch ist es möglich, die Befragten für die Face-to-Face Interviews strukturiert und zielgerichtet auf Basis der Beiträge in der Community auszuwählen.
Im Anschluss an die Online Insight Community wurden gezielt Teilnehmer für vertiefende Screen-to-Screen-Interviews ausgewählt. Dabei führten die Befragten per Video mittels eines mobilen Endgeräts durch ihr Zuhause, beschrieben und zeigten bestimmte Anwendungsbereiche und -tätigkeiten und schilderten ausführlich ihre Bedürfnisse und Anforderungen.
Genauso als wäre man in Person vor Ort gewesen, konnte man dabei die Gesprächspartner bitten, zu einer bestimmten Stelle zu gehen, etwas noch genauer zu zeigen oder bezüglich bestimmter Stellen, die man zuvor im Video gesehen hatte, nachzuhaken.
Die Interviews ermöglichten es, relevante Themen noch ausführlicher und tiefgehender zu explorieren und dadurch noch besser zu verstehen, was den verschiedenen Zielgruppenvertretern wichtig ist und aus welchem Grund.
Digital durchgeführte Ethnographie: viele Vorteile
Auch wenn man nicht mit allen Sinnen vor Ort ist wie in traditionellen In-Homes, nicht riechen oder die Luftfeuchtigkeit fühlen kann und auch nicht in alle Ecken der Wohnung sieht, bekommt man durch die Beobachtung der Nutzer in ihrem natürlichen Umfeld und über eine längere Zeit hinweg all die Insights, die man benötigt.
Trotz des rein virtuellen Raums, in dem man mit den Teilnehmern kommuniziert und interagiert, ist es möglich, eine emotionale Bindung zu ihnen, ihrem zu Hause und ihren Bedürfnissen aufzubauen.
Man fühlt sich den Teilnehmern und ihren Bedürfnissen so nah, als würde man bei ihnen zu Hause in ihr Leben eintauchen - und ist tatsächlich online auch nur einen halben Meter entfernt.
In der beschriebenen Studie war es möglich eine gleichwertige Vielfalt, Granularität und Tiefe an Erkenntnissen und Bedürfnissen zu gewinnen wie in einem traditionellen physischen Ansatz.
Insgesamt bietet ein digitaler, ethnographischer Ansatz zumindest bei bestimmten Erkenntniszielen äquivalente Ergebnisse zu klassischen In-Home-Tiefeninterviews. Und zusätzlich ergeben sich die folgenden Vorteile:

...unter bestimmten Voraussetzungen
Die Usability ist mitentscheidend für den Erfolg: Sowohl die Plattform der Online Insight Community Plattform als auch die Software für die Video-Interviews müssen selbsterklärend und für jeden einfach zu bedienen sein, damit alle Altersgruppen in die Studie miteingeschlossen werden können.
Außerdem sollte jederzeit ein technischer Support verfügbar sein, um die Studie nicht durch technische Unwägbarkeiten in ihrem Ablauf zu stören oder gar zu gefährden.
Das Thema "Schutz personenbezogener Daten" sowie "Nutzungs- und Urheberrechte" bekommt bei digitalen Studien einen größeren Stellenwert. Durch die rein digitale Kommunikation über Online-Plattformen gibt es teilweise Vorbehalte bei den Teilnehmern bezüglich des Datenschutzes.
Außerdem muss beachtet werden, dass die Nutzungs- und Urheberrechte bei selbst aufgenommen Videoposts bei den Teilnehmern liegen, was bei einer späteren Verwertung dieses Materials mit einem erhöhten Aufwand zur Sicherung der Nutzungsrechte einhergeht.
The New Normal: Digitale Ethnographie?
Über digitale Ethnographie als etablierte Methodik zu sprechen wäre vielleicht etwas verfrüht, aber sie als Kandidaten zur Definition des "New Normal" anzusehen, durchaus gerechtfertigt.
Es ist davon auszugehen, dass die digitale Ethnographie als Methodik in der näheren Zukunft vermehrt Einzug in die qualitative Marktforschung halten wird und schon bald nicht mehr aus dem Repertoire der Konsumentenforschungsansätze wegzudenken ist.
Über die Autoren



/jj
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