Nicole Hanisch, innerSense Digital, hybrid und auf der Suche nach lebendiger Teilhabe

Tiefenpsychologie und digitale KI-Welt stehen sich bislang eher unverbunden und etwas skeptisch gegenüber. Eine sinnvolle Verknüpfung zwischen beiden Perspektiven kann neue Synergien schaffen (Bild: picture alliance / Frank May | Frank May).
Digitale Entwicklungen ermöglichen besondere Agilität, Schnelligkeit, Echtzeit, Simulation und Kontrolle. Gleichzeitig gehen sie mit einer Sehnsucht nach analogen, echten menschlichen Gefühlen und selbst durchgemachten Schicksalen und Geschichten einher. Das sieht man zum Beispiel bei jungen Zielgruppen in Bezug auf den Hype rund um Second Hand-Kleidung, die nicht nur Ersparnis und Nachhaltigkeit ermöglicht, sondern gleichzeitig besondere Individualität und Geschichtlichkeit symbolisiert. Auch die Alltagsberichte der Influencer, oder die Geschichten von Start-up-Gründern ermöglichen eine besondere Teilhabe, die vor allem junge Zielgruppen fasziniert.
Entwicklungen sollen also einerseits bequem auf Knopfdruck oder am liebsten per Sprachbefehl erfolgen. Gleichzeitig will man sie auch verstehen, nachvollziehen und daran teilhaben – gerne auch mit Höhen und Tiefen, so dass echte, individuelle Charaktere sichtbar werden. Aus unserer Sicht sollte sich auch die qualitative Marktforschung in beide Richtungen bewegen beziehungsweise synergetische Formen finden.
Der Streit der Intelligenzen: Künstlich oder menschlich?
Bisher stehen sich insbesondere Tiefenpsychologie und digitale KI-Welt eher unverbunden und etwas skeptisch als zwei sehr unterschiedliche Welten mit anderen Sichtweisen gegenüber. Vorbehalte der Tiefenpsychologie gegenüber digitalen Auswertungsmethoden sind zum Beispiel:
- Es stellt sich die Frage, ob ganzheitliches Denken und Vorgehen durch Einbindung von digitalen Methoden/KI und Konsorten verloren geht beziehungsweise sinnvolle Zusammenhänge zerreißt.
- Es besteht die Annahme, dass Emotionen, zumindest komplexe, nur durch Menschen erfasst werden können.
- Wirkliche Tiefe ist durch Datensammeln nicht zu erreichen. Dies ist eher nur ein oberflächliches Sammeln vieler Daten.
- KI erfasst nur Zusammenhänge, auf die sie trainiert wurde.
- Insgeheim besteht auch die Angst, dass künstliche Intelligenz die menschliche Intelligenz übertrumpft. Der qualitative Marktforscher könnte unwichtig werden - man sollte also den Maschinen nicht zu viel beibringen (Geheimwissen).
Andererseits gibt es auch aufseiten der digitalen KI-Welt Vorbehalte gegenüber der Tiefenpsychologie. Diese bestehen unter anderem in folgenden Punkten:
- Tiefenpsychologie gilt als zu umständlich, komplex, unverständlich, ausgedacht, interpretiert.
- Warum soll man etwas befragen, wenn man es direkt an einer großen Fallzahl beobachten kann? Ist es nicht besser, Verhalten zu beobachten als Erleben zu befragen?
- Tiefenpsychologie basiert im Ursprung auf alten, überkommenen Theorien aus einer anderen Zeit (Freud). Ist die Tiefenpsychologie noch zeitgemäß und braucht es heutzutage nicht völlig andere, moderne Erfassungsmethoden?
Synergie statt Beweis für Lebensberechtigung
Eine stärkere, sinnvolle Verknüpfung zwischen beiden Perspektiven kann neue Synergien schaffen. Statt nur den Beweis für die Lebensberechtigung der Tiefenpsychologie anzutreten, ist es wichtiger, beide Perspektiven in Austausch miteinander zu bringen. Beide Intelligenzen können voneinander lernen. Folgende Benefits und Synergien könnten durch die Verknüpfung möglich werden:
- Durch digitale Methoden ist es möglich, noch mehr Alltagsnähe zum Verbraucher herzustellen, bei mehr Personen und Haushalten: Intime Settings sind durch Inhome Visits im Online-IDI möglich. Der Alltag lässt sich durch mobile Diaries und Communities begleiten. Das Verstehen aller Daten, auch der unbewussten Motive und das Aufdecken der Zusammenhänge, ist dabei mithilfe der Tiefenpsychologie möglich.
- Auch Maschinen können das Gefühl von Nähe herstellen insbesondere durch Sprachbefehle (siehe die kleinen Dialoge mit Alexa). Das heißt, auch durch Voice Bots lassen sich zukünftig kleine Befragungen im Alltag herstellen. Diese Befragungen können ergänzt werden mit tiefenpsychologischen Erfassungsmethoden.
- Digitale Methoden ermöglichen es, immer und direkt in Kontakt zum Verbraucher zu stehen und so einen direkten Zugriff auf Erkenntnisse zu ermöglichen. Durch beständig laufende Communities oder andere Trackingverfahren kann zum Beispiel immer der aktuelle Status erhoben werden. Tauchen bestimmte Problemstellen oder Fragestellungen auf, können diese mithilfe von einigen tiefenpsychologischen Explorationen vertieft werden.
- Auf diese Weise ist es auch möglich, den Kunden unmittelbarer und direkter am Forschungsprozess zu beteiligen. So erhält er durch Communities, zu denen er sich dazuschalten kann, das Gefühl mittendrin dabei zu sein und durch Dashboards bessere Kontrollmöglichkeiten. Fragen können leicht in die Community gegeben werden, ohne dafür direkt eine ganze Forschung aufzusetzen.
- Digitale Methoden ermöglichen zum Teil eine schnellere Auswertung, beispielsweise durch Data Mining-Unterstützung, aber auch eine nachhaltigere Verwertung der Findings. Denn durch die Vielzahl und Menge der qualitativen Daten, zum Beispiel von 40 zweistündigen Interviews, ist es auch möglich, durch KI Sekundäranalysen zu betreiben. Auf diese Weise ist eine nachhaltigere Verwertung durch Re- und Upcycling möglich.
- Innovationen können durch virtuelle Proberäume noch lebensnäher und experimentierfreudiger befragt werden. Es können Verfassungen simuliert werden, in denen Kaufprozesse vorgenommen oder Innovationen ausprobiert werden. Diese Art der Exploration kann unter anderem auch spielerischer und entdeckender gestaltet werden, zum Beispiel mit kleinen Avataren, wechselnden Rollenverständnissen et cetera. Was sonst die projektive Technik, Rollen- und Phantasiespiele ermöglicht haben, könnte durch digitale Verfassungen und Anprobe-Räume experimentierfreudiger gestaltet werden. Die Tiefenpsychologie bildet dabei eine wichtige Ergänzung, um die dahinterliegenden Motive zu verstehen.
Fazit und Ausblick
Die Zukunft der qualitativen Forschung sollte aus unserer Sicht Synergie und das Prinzip Austausch zwischen digitalen Methoden, KI und Tiefenpsychologie, noch stärker betonen. Das bedeutet für uns: Ein gemeinsames Schaffen mit und für Kunden ermöglichen, auch einmal gemeinsame Case Studies entwickeln und auf Forschungsreise gehen.
Ziel und Route dieser Forschungsreise sind nicht festgesetzt, sondern entwickeln sich lebendig. Gerade über Widerstände, neue Herausforderungen und auch Fehlversuche können neue Wege entdeckt werden. Denn eigentlich ist morphologische Tiefenpsychologie auch ein Entwicklungs- und Experimentierraum.
Über Nicole Hanisch
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