Kolumne von Florian Tress Dieses Jahr wird alles anders, wirklich!
2016 war ein verwirrendes Jahr, an dessen Ende wir in einer gesellschaftlichen Realität aufgewacht sind, die viele von uns zum Jahresanfang noch für undenkbar hielten: das Brexit-Referendum, der Wahlsieg von Donald Trump oder die politischen Folgen der Flüchtlings-Krise. Kampfvokabeln wie "Populismus", "post-faktisch", "Lügenpresse" oder "Gut-Menschen" polarisieren die Gesellschaft. Es ist unübersichtlich und ungemütlich geworden und es spricht auch viel dafür, dass es nicht bald wieder besser wird: wir sind in der Gegenwart angekommen.
Um diese neue Situation zu verstehen, müssen wir uns kurz ans Ende des 19. Jahrunderts versetzen. Das Zeitalter der Massenproduktion und des Massenkonsums bricht an und alles läuft auf eine Gesellschaft hinaus, deren Erfolg auf der Einmittung von Wissen, Geschmack, Moral und Nachfrage beruht. Dazu trägt einerseits das entstehende Schulwesen bei (insbesondere die Schulpflicht, sowie die Curricularisierung von Bildung), zudem integrieren Leitmedien (Zeitung, Radio, Fernsehen) zu einer gesellschaftlichen Mitte. Es ist weitgehend klar, was gewusst werden kann beziehungsweise was wünschenswert ist und dazu trägt natürlich auch in besonderem Maße die Werbewirtschaft bei.
Seit mehreren Jahren verabschieden wir uns jedoch von dieser Gesellschaftsform. Vor allem an den sozialen Medien lässt sich das deutlich ablesen: Informationen werden hier von den Nutzern entweder selbstbestimmt aufgrund der eigenen Interessen gesucht, oder aber automatisch aufgrund von Nutzerprofilen zugespielt. Auf diese Weise entstehen geschlossene Kommunikations-Blasen, die ihre Mitglieder integrieren und bisweilen sogar Identität stiften. Die Gesellschaft insgesamt wird dadurch aber auch fragmentiert und polarisiert, die gesellschaftliche Mitte ist gewissermaßen zum Auslaufmodell geworden.
Auch in der Politik zeigt sich dieser Wandel. Bewegungen wie die AfD funktionieren ja gerade nicht mehr über die Orientierung am bürgerlichen Mainstream. Die großen Leitmedien werden als "Lügenpresse" abgelehnt und stattdessen eigene Stimmungen stark gemacht. Selbst Donald Trumps Wahlerfolg soll in besonderem Maße darauf beruhen, die Befindlichkeiten der unentschlossenen Wähler auf sozialen Medien individuell angesprochen zu haben. "Perception is Reality", die Kommunikations-Blase lässt grüßen.
Interessant ist deshalb, wie die Leitmedien auf diesen Wandel reagieren. Soziale Medien verstärken ja gesellschaftliche Stimmungen und ähneln in diesem Sinne stark der herkömmlichen Boulevardpresse: reißerische Überschriften werden geklickt und geteilt. Vor diesem Hintergrund passen immer mehr Medien ihre journalistische Arbeit diesem Mechanismus an, um in der digitalen Welt wirtschaftlich bestehen zu können; das Geschäftsmodell "Qualitäts-Journalismus" gerät dagegen zunehmend unter Druck.
Schließlich erleben wir auch in der Wirtschaft einen Bedeutungszuwachs von Nischenmärkten, von Customizing oder Targeting. Konsumenten organisieren sich selbständig entlang ihrer Interessen in Communities, um Erfahrungen mit bestimmten Produkten auszutauschen und Orientierung in der immer unübersichtlicheren Warenvielfalt zu bekommen. Und weil auch hier Stimmungen die Wirklichkeit machen, ist das Image und Reputationsmanagement von Marken wichtiger denn je.
All das betrifft natürlich auch die Markt- und Meinungsforschung. Wo es keinen Mainstream mehr gibt, machen Durchschnittsbetrachtungen über die breite Masse kaum noch Sinn. An dessen Stelle treten immer stärker feingliedrige Segmentierungen. Das alles hat Auswirkungen auf die Definition und Operationalisierung von Zielgruppen und deren Erreichbarkeit bei der Datenerhebung. Und in diesem Zuge stellt sich dann auch die Frage nach der Generalisierbarkeit von sozialwissenschaftlichen Daten neu: Für wen sind die Ergebnisse eigentlich repräsentativ und wo liegen die Grenzen der Belastbarkeit von Daten?
Und auch in Hinblick auf ihre gesellschaftliche Aufgabe sieht sich die Meinungsforschung gefordert: Orientierung in einer Welt geben, die unübersichtlich und bisweilen widersprüchlich geworden ist. Dazu braucht es sicherlich mehr als "One-Size-Fits-All"-Forschung aus dem Bauchladen. Dafür braucht es Empathie für den Auftraggeber, persönlichen Service und echte Beratung. Ja, dafür muss man sich die Hände schmutzig machen. Und ja, das alles geht natürlich nicht kostenlos.
Eines steht in jedem Fall fest: 2016 haben wir vielleicht zum ersten Mal erlebt, welche tiefgreifenden Brüche sich durch den aktuellen, gesellschaftlichen Wandel ergeben können. Dabei ist jedoch noch lange nicht ausgemacht, welche Chancen darin für uns liegen. Lasst uns 2017 das Beste daraus machen. Dieses Jahr wird alles anders, wirklich!
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