Die zweite Hälfte des Himmels: Chinas Frauen in der Marktforschung
Von Matthias Fargel
Über Jahrtausende war allein der Kaiser für die Harmonie zwischen Himmel und Erde zuständig gewesen. Sollten im kommunistischen China Frauen jenem revolutionären Aufruf folgen, die althergebrachte Ordnung umwerfen und die Verantwortung für die himmlische Harmonie selbst schultern? Ist Maos Spruch als Metapher für die Gleichstellung der Frauen zu verstehen, die sich ihren Anteil an Freiheit vom Himmel holen sollen? Oder handelt es sich um eine poetische Umschreibung der Romanzen des Revoluzzers? Wie auch immer, seit Maos Regierungszeiten gilt in der Volkrepublik der 8. März als internationaler Frauentag. Mit besonderer Note: Chinas berufstätige Frauen bekommen alljährlich am 8.3. nachmittags frei, einen symbolträchtigen halben Tag. Ist dieses alljährliche „Super Sales Event“ der Vorgeschmack auf den halben Himmel? Für den beobachtenden Marktforscher allemal!
Heute könnte das o.g. Zitat die Rolle der chinesischen Frauen am fulminanten Wirtschaftsaufschwung ihres Landes gemeint haben. Nicht, dass die chinesische Wirtschaft insgesamt himmlisch sei. Zumindest ist aber die Frauenbeschäftigungsquote mit 72% himmelhoch. Chinas Frauen verdienten 2012 50% der privaten Haushaltseinkommen. Welche Dynamik dahinter steckt, macht der Trend deutlich: 1950 lag der Frauenbeitrag zum privaten Haushaltseinkommen erst bei 20%; 1990 bei 40%. Seit 2009 sind an den chinesischen Universitäten mehr Frauen als Männer eingeschrieben und sie stellen bis zum Masterstudium die Mehrheit der Studenten. Chinas Frauen besetzen inzwischen 51% der mittleren Managementpositionen in Chinas Unternehmen – laut Grant Thornton International Business Report (2013) ist dies Weltspitze. Im neuen China haben es Frauen in viele von Männern dominierte Berufe geschafft: Sie konstruieren Brücken und buddeln Tunnels; sie lenken Taxen, Hochgeschwindigkeitszüge, Jets und als Geschäftsführerinnen 20% der lokalen Mittelstandsfirmen. Über die Hälfte aller Ärzte in China sind Frauen. Weibliches Sicherheitspersonal tastet an den Flughäfen mit großer Selbstverständlichkeit Passagiere beiderlei Geschlechts ab. Lokale Frauenverbände drängen auf mehr Unisex-Toiletten.
Im Weltvergleich gehören Chinas Frauen zu den „early adopters“, die technischen Neuerungen mit großer Offenheit begegnen; sie sind überdurchschnittlich bereit, Innovationen in ihren Alltag zu integrieren, sobald diese in ihren finanziellen Rahmen passen. Der Boom der chinesischen Telekommunikation, der lokalen Social Media und e- Business profitiert von der Kaufkraft und Experimentierfreude der Konsumentinnen, die bei der Nutzung dieser Möglichkeiten den Vorsprung der Männer rapide auf- und punktuell überholen. Chinas Frauen nutzen das Internet vor allem als soziales Netzwerk und zur Informationssammlung als kritische Verbraucherinnen. (Mehr Details dazu später)
„The future is female“ schreibt die HSBC in einem ihrer strategischen China-Analysen im Hinblick auf den Markt an Luxusgütern. Das zeigt sich u.a. bei einem der begehrtesten Produkte im Land der Mitte: Auto. Stellten Frauen in den neunziger Jahren weniger als 10% der Käufer, waren es 2008 bereits 34% und 2012 zum ersten Mal über 50%. Das Magazin „Women of China“ (WoC) erhob in einer Studie 2011, dass Frauen bei 77% der Haushaltsausgaben die Entscheidung treffen; namentlich aufgeführt sind Aufwendungen für Lebensmittel, Körperpflege, Ausbildung (vom Kindergarten über Schule bis zur Universität), Möbel, Kleidung und Bankgeschäfte. Als Leitfigurenfiguren gelten nicht mehr die rotbäckigen Heldinnen der Arbeit in blauer Einheitskluft, sondern weltgewandte Filmstars, elegante Models und besonders erfolgreiche Unternehmerinnen. Laut Forbes stellen Chinesinnen 50% aller weltweiten Milliardärinnen. Für Chinesinnen sind solche Karrieren ihrer „Schwestern“ nicht nur beneidete Lebensläufe, sondern auch Ansporn für die Laufbahn. Man darf in China den kollektiven Stolz auf das „Wir, das Volk des Drachens“ und dessen Sogwirkung nie unterschätzen.
Soweit zu dem, wie chinaselige Medien die Marktteilnehmerinnen im 21.Jahrhundert gerne im Rampenlicht inszenieren.
Doch Chinas Drache hat einen langen Schweif. Der reicht historisch weit zurück und wird weniger gern ausgeleuchtet. Bis in jene Zeiten, in denen ein völlig anderes Menschenbild, äußerst haltbar geschmiedet worden war: Patriarchalisch, hierarchisch und später von konfuzianischer Ethik sanktioniert; damit bis heute salonfähig und auch aktuell in Talk Shows immer wieder (von Männern) zitiert. Seit der Gründung der kommunistischen Volksrepublik sind erst 64 Jahre vergangen; wenig mehr als 1% jener Zeitspanne, in der die chinesische Kultur und deren Verhaltensmaximen bis dato gereift sind.
Das heißt, die sichtbare chinesische Emanzipation und Modernität der Frauen schwimmt noch immer als merklich dünne Schicht auf anders gepolten Grundströmungen. Woraus sich mächtige Verspannungen für den weiblichen Alltag ergeben.
Am intimsten betrifft dies Frauen in der politisch geregelten Familienplanung. China ist traditionell familienorientiert, kinderliebend und söhnebevorzugend. Die Einkindpolitik und deren unerbittliche Durchsetzung führte dazu, dass über 55% aller erwachsenen Frauen bisher einen Abort, 36% mehrfache Abtreibungen erdulden mussten; teilweise vom Arbeitgeber oder der „Hukou“- Behörde erzwungen, teilweise nach einer embryonalen Geschlechtsbestimmung von der Familie getrieben. Diese elementare Erfahrung der totalen Fremdbestimmung bis ins Privateste prägt Chinas Frauen ebenso wie deren Erlebnisse von „gläsernen Türen“ bei Bewerbungen am Arbeitsmarkt und „gläsernen Decken“ bei Beförderungen in leitende Positionen. Fakt ist, dass Frauen auf Spitzenpositionen in chinesischen Großunternehmen und politischen Ämtern eine absolute Rarität sind; dass es noch nie eine Frau in das Ständige Komitee des Politbüros der CCP geschafft hat. Je nach Umfrage berichten 2/3 bis 3/4 der Befragten Frauen über geschlechtsspezifische Benachteiligungen in der Arbeit. Über 60% der Ehefrauen merken an, dass zwischen den Eheleuten die Hausarbeit zuungunsten der Ehefrauen verteilt sei. 3/4 der Mütter von Kleinkindern klagen über zu wenig Zeit für ihr Kind. Die außergewöhnliche 72%-ige Beschäftigungsquote der Chinesinnen ist erst durch Großeltern ermöglicht, die bei Kindern im Alter von 1 – 3 Jahren in über 80% der Familien die Betreuung wochentags, und in der Provinz oft sogar Monate lang, übernehmen. Aus den abweichenden Meinungen der Eltern und Großeltern zur Ernährung, Erziehung und Weltbild resultieren weitere ergiebige Konfliktherde für die Mütter und Elternpaare. Je nach Region und Studie klagen ca. 1/3 der berufstätigen Frauen über Schlafstörungen; bis zu 50% über Nervosität, Stress oder Depressionen.
Auf der anderen Seite gelten kinderlose, verheiratete Frauen bis Anfang Vierzig als latentes Schwangerschaftsrisiko bei Arbeitgebern. Unverheiratete Frauen ab Dreißig wiederum stehen als „verlorene Frauen“ unter sozialem und psychischem Druck ihrer Familien und Freundeskreises, einen Partner zu finden. Was den höher gebildeten, besser verdienenden Frauen, grundsätzlich nach sozialem Aufstieg strebend, besonders schwer fällt.
Der brutalste Indikator für die Empfindung, die Lasten seien im neuen China unerträglich und ungleich verteilt, ist aus der Selbstmordquote abzulesen: Neben Sao Tomé ist China das einzige Land der Welt, in dem mehr weibliche Selbstmorde registriert werden als männliche.
– Dem erleuchteten Antlitz des chinesischen Drachens folgt noch immer ein düsterer Schweif bis tief ins Dunkel der Kulisse. –
Fazit für die Marktforschung
Die hohe Beschäftigungsquote unter den Frauen Chinas ist nicht nur ein Indikator für deren straffe Zeitbudgets. Der 51%-ige Frauenanteil in mittleren Führungspositionen zeigt, wie stark sich die Rolle der Frau in China von der in benachbarten Nationen wie Süd Korea und Japan unterscheidet: In Süd Korea sitzen auf vergleichbaren Posten 9%, in Japan sogar nur 7% Frauen (Deutschland: 31%).
Chinas Frauen beanspruchen in den meisten Lebensbereichen, die die Marktforschung direkt thematisiert, ihren gleichberechtigten Platz neben den Männern; in Haushaltsfragen übernehmen sie oft die Kaufentscheidung. Frauen sind im B2B, sei es Wirtschaft, Industrie und Dienstleistung häufig die professionellen Ansprechpartner. Chinas Frauen tauschen sich gerne mit ihresgleichen aus; im direkten Gespräch oder mittels sozialer Medien, zu Produkten, Marken, Image und Produktsicherheit. Produktsicherheit ist bei Lebensmitteln, im Zusammenhang mit Qualitätsmängel, Umweltverschmutzung, Produktfälschung und Misstrauen inzwischen ein großes Thema. Ganz in der Guanxi-Tradition, folgen sie tendenziell eher der Erfahrung und dem Rat von Freunden als Herstellerinformationen und neutralen, offiziösen Quellen.
Diese ausgeprägte Kommunikationsfreudigkeit kommt der Marktforschung entgegen. In der direkten Datenerhebung treten Chinas Frauen selbstbewusst und offen auf. In Gruppendiskussionen ist keine Trennung zwischen weiblichen und männlichen Teilnehmern nötig, so lange die Themen unverfänglich und nicht zu emotional aufgeladen sind. Die qualitative Analyse von Foren und Blogs zur Studienvorbereitung kann ergiebig sein. Dennoch gelten alle Vorbehalte unter dem Aspekt „Gesicht“ und „Guanxi“.
Bei Themen aus dem familiären Alltag sollte man jedoch sorgfältig nach Berufsgenerationen und deren spezifischen Aufgaben trennen. Frauen gehen i.d.R. zwischen fünfzig und fünfundfünfzig Jahren in Ruhestand. Damit ändern sich deren Einkommenssituation und -Verteilung, die Nutzung moderner Medien und die Rollen. Z.B. in eine „ defacto haushaltsführende, erziehende Großmutter“ mit erheblichem direktem Einfluss auf alle kindbezogenen Aspekte und täglichen Einkauf.
Wirkten in den ersten Marktforschungsstudien vor dreißig Jahren die befragten Frauen in der sozialistischen Einheitskluft altmodischer als es ihre aufgeschlossene Haltung dann offenbarte, bietet sich heute ein anderer Trugschluss an: Die Befragten können oberflächlich betrachtet westlicher und moderner wirken, als sie es selbst und die sie treibenden und bremsenden Faktoren sind. Das Gros der chinesischen Gesellschaft, damit auch die Frauen, reiten noch immer denselben Drachen. Selbst wenn sie statt Fahrrad elektrische Roller nutzen, statt Werkskantinenkost Kentucky Fried Chicken goutieren und statt abendlichen Nachbarsplausch im Web surfen. Dieser Drache fliegt gemächlich; den halben Himmel wird er schon noch erreichen.
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