Stephan Teuber, GIM Die Zeit nach Corona: Zwischen prognostischer Bemühung und normativer Beschwörung

Kürzlich führte der ADM unter seinen Mitgliedsinstituten eine Umfrage zur aktuellen Situation durch. Eine der Fragen lautete dabei: Erwarten die Institute eher gestärkt, geschwächt oder unverändert aus der Krise zu gehen? Das Ergebnis war bezeichnend. Was sagt uns dieses Ergebnis?

Das Ergebnis des ADM vorab: Etwa ein Drittel der Institute ging zum Zeitpunkt der Befragung jeweils davon aus, die Pandemiephase gestärkt bzw. geschwächt zu bewältigen, ein weiteres knappes Drittel erwartete keine Veränderungen. Der kleine Rest – wegen der überschaubaren Fallzahl wohl zwei Institute – wollte keine Zukunftserwartung abgeben.

Der ADM hatte verständlicherweise keine Unternehmensdetails erhoben. Damit war auch keine Auswertung nach Unternehmensart oder sonstigen beschreibenden Variablen möglich (angesichts der Stichprobengröße von N=37 wäre es mit dem Anonymisierungsgebot denn auch schnell vorbei gewesen). Uns bleibt damit nur, dieses Ergebnis global zu verstehen, bzw. zu interpretieren. Doch ebenjener Blick aufs "big picture" zeigt ja zum einen gerade, wie brisant die aktuelle Lage ist. Zum anderen wird klar, wie dringend wir von einer prognostischen und eher passiven Erwartungshaltung in eine aktive Gestaltungshaltung übergehen müssen.

Im Ergebnis: Offene Prognosen

Das Ergebnis wirkt wie gewürfelt: Diejenigen, die eine Veränderung erwarten, antworten praktisch jeweils zur Hälfte, dass es besser oder schlechter wird. Der Rest übt sich in salomonischer Balance und erwartet "keine Veränderung" oder gibt implizit zu, dass sich die Entwicklung noch gar nicht abschätzen lässt. Diese annähernde Gleichverteilung der Antwortmöglichkeiten verdeutlicht, wie offen die Situation tatsächlich ist: für alle 3 Szenarien gibt es passende Gründe, bzw. plausible Argumentationen:

Szenario 1: Die Branche wird gestärkt

Hierfür könnte sprechen, dass mit der "neuen Normalität" auch eine "neue Realität" einhergeht, die erforscht werden muss. Die zentrale Frage lautet dabei: Wie gültig sind Insights, die vor Corona ("alte Normalität") generiert wurden, heute noch? Wenn sich Menschen (ergo Konsumenten) nunmehr "neu" verhalten, Unternehmen "neu" wirtschaften, sich gesellschaftliche und soziale Standards ändern, sich das Kommunikations- und Medienverhalten neu ausrichtet, sich neue Formen der Mobilität entwickeln, etc.: Dann sollte dies der Daten- und Insightsbranche gehörigen Auftrieb verschaffen und geradezu einen Marktforschungs-Boom auslösen. Befördert kann dieser zusätzlich dadurch werden, dass die öffentliche Diskussion von epidemiologischen Daten und Forschungsansätzen die Relevanz seriös erhobener Daten und daraus abgeleiteter Insights insgesamt gestärkt haben kann.

Szenario 2: Die Branche wird geschwächt

Hierfür könnte die Erfahrung  sprechen, wonach in allen Krisen Budgets für Dienstleistungen im Bereich Kommunikation, Beratung und eben Marktforschung sehr schnell gekürzt werden und die Unternehmen sich ihr Orientierungswissen selbst herstellen bzw. darauf einfach verzichten. Dies passiert aktuell auch schon.

Szenario 1+2: Einzelne Institute werden gestärkt, bzw. geschwächt

Hierfür kann ihr jeweilige Positionierung, ihre Methoden- und Kundenportfolio oder ihre wirtschaftliche Stärke verantwortlich sein. Beispielsweise ist f2f-Forschung durch das Distanzgebot deutlich unter Druck geraten, während Institute, die sich auf Remote-Techniken spezialisiert haben, davon weitaus weniger berührt sein werden. Damit entwickeln sich in der neuen Normalität neue komparative Vorteile einzelner Institute, die Koordinaten erfolgreicherer bzw. erfolgloserer Positionierung mögen sich verschieben und neue USPs entstehen. Es kann aber auch kommen, dass nach der Lockerung des Distanzgebotes die Sehnsucht nach f2f-Kommunikationen im Alltag und auch im Forschungskontext schneller zurückkehrt, als man aktuell glauben mag. Dann ergibt sich daraus ein USP für diejenigen, die solche Methoden noch glaubwürdig vertreten können. Zudem hat die Krise bereits jetzt die Differenz zwischen f2f und remote deutlich nivelliert – bleibt also alles beim Alten? Man kann auch vom eigenen Kundenportfolio her argumentieren: Wie stehen meine Kunden in der Krise da? Habe ich den richtigen Kundenmix im Portfolio? Aber was bringen solche Überlegungen in einer Krise, die praktisch sämtliche Branchen trifft und die weniger betroffenen in eine Vorsichtshaltung versetzt? Gelten heute noch die einstigen Diversifikationskriterien? Für die Erwartung der eigenen (Instituts-)Stärkung und Schwächung können darüber hinaus auch "simple" wirtschaftliche Überlegungen stehen: Überlebe ich die Krise einfacher als mein Mitbewerber? Wenn ja, woran liegt dies? Habe ich die besseren Angebote, reicht meine Liquidität länger, verbessert sich meine Position bei einer Marktbereinigung oder werde ich selbst "bereinigt"?

Szenario 3: Alles bleibt unverändert

Hierfür könnte sprechen, dass sich noch nach jeder Krise ein "back to normal" eingestellt hat, Schmerzen schnell vergessen werden und auch alle Akteure letztlich das größte Interesse daran haben, wieder in die Normalität zurückzukehren. Die große Varianz der Prognosen der Wirtschaftsexperten (man vergleiche nur mal die Prognosen des Sachverständigenrates, der EU und des IWF) mögen auch die Überzeugung bestärken, dass sich die unterschiedlichen Entwicklungsszenarien aufheben werden und sich unterm Strich nichts ändern wird.

Das Mindset entscheidet

Insgesamt scheinen all diese Erwartungen das Resultat subjektiver Einschätzungen. Sämtliche Variablen in diesen Szenarien sind eben wortwörtlich (sehr) "variabel". Und je nach der Abwägung dieser Gründe kommt man dann zu seinem persönlichen Ergebnis. Ich wage die These: Weil die Lage so neu, komplex, unbekannt und offen ist, kam auch dieses wie zufällig gewürfelt wirkende Ergebnis in der Befragung zustande. Es ist mühelos möglich, sich für das eine oder andere Szenario zu entscheiden, und das scheint mir so zu sein – unabhängig von der Unternehmensart oder vom Institutsprofil. Im Grunde handelte es sich ja auch um eine projektive Frage. Dabei diente die Corona-Situation als eine ideale Projektionsfläche, um die eigenen Potentiale in die Erwartung vermeintlich überschaubarer Entwicklungen zu projizieren. Das Ergebnis spiegelt mithin eher das Mindset der Befragten wider, als dass es Aufschluss über die Wahrscheinlichkeit der drei Antwortszenarien gibt. Vereinfacht gesagt: Die Optimisten entscheiden sich für die Option "Stärkung", die Pessimisten für die "Schwächung" und die „Unentschiedenen oder Fatalisten“ für die Option "keine Änderung".

Für eine normative Beschwörung

Die geäußerten Erwartungen stellen sich somit auch als die normativen Erwartungen heraus, die die Befragten an sich selbst stellen. Es geht nicht darum, "Ich komme aus der Krise gestärkt heraus.", sondern darum, "Ich muss und werde alles dafür tun, aus der Krise gestärkt heraus zu kommen." Bei einer solch offenen Situation geht es letztlich darum, wie sehr wir uns zutrauen, aus der Krise gestärkt herauszukommen oder eben wie sehr wir uns fürchten, geschwächt zu werden. Und da die Krise dynamisch ist und wir auch keine Blaupause für ihren weiteren Verlauf kennen, hoffe ich, dass sich noch viele pessimistische und fatalistische Stimmen in optimistische wandeln werden. Denn nur wenn wir als Branche und Institute daran glauben und alles dafür tun, gestärkt aus der Krise hervorzugehen, werden wir dies auch tun. Und es gibt ja doch viele gute Gründe für das optimistische Szenario.

Lesen Sie hier unsere Zusammenfassung zur Studie des ADM.

 

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