Soziologie Die Wirklichkeitswissenschaft

Soziologen wollen die soziale Wirklichkeit erklären und verstehen. Dafür brauchen sie die Sozialforschung. Welche empirischen Methoden die richtigen sind? Darüber gingen die Meinungen oft auseinander.

Von Stephan Degenhardt, marktforschung.de

Heute schon einen Kaffee getrunken? Beim Frühstück, um die Müdigkeit abzuschütteln? Oder beim ersten Date mit einer Online-Bekanntschaft? Ja? Dann waren Sie, vermutlich ohne es zu wissen, interessant für eine Wissenschaft, die oft für staubtrocken gehalten wird: die Soziologie.

Da ist erstens der symbolische Wert, den Soziologen dem Heißgetränk zuschreiben. Sich auf einen Kaffee zu treffen ist zu einem sozialen Ritual geworden, bei dem es eher ums Plaudern geht als ums Trinken eines Latte Macchiato, Cappuccino oder Espresso. Zweitens ist Kaffee eine koffeinhaltige Droge – wenn auch eine in unserer Kultur akzeptierte. Doch warum billigen die Menschen hierzulande auch exzessiven Kaffeekonsum, lehnen aber in der Mehrzahl Marihuana ab? Soziologen suchen hierauf Antworten. 

Das Beispiel zeigt, dass es bei der Soziologie um mehr geht als um Klassen und Schichten, als um Normen und Konventionen. Es geht um das menschliche Zusammenleben: im Kleinen, wie beim Kaffee – und im Großen. Die Wissenschaft untersucht beispielsweise, wie sich die Globalisierung auf das Individuum auswirkt. Oder warum der Bildungserfolg in Deutschland noch immer stark von der sozialen Herkunft abhängt. Oder, ein drittes Beispiel, welche Chancen Unternehmen vergeuden, wenn sie Mitarbeiter aufgrund ihres Alters oder ihres Geschlechts diskriminieren. 

Die Soziologie will „soziales Handeln deutend verstehen“, wie es beispielhaft einer der bekanntesten deutschen Vertreter Max Weber 1920 formulierte. Dafür brauchen Soziologen die empirische Sozialforschung: Datenerhebungen oder qualitative Auswertungen, die ihre Theorien und Erklärungen immer wieder mit der Wirklichkeit abgleichen. Zwischen 1930 und 1950 entwickelten sich in Deutschland die ersten privaten Forschungsbetriebe – die GfK, das Allensbacher Institut und TNS Infratest –, die mit Umfragen oder Interviews die Gesellschaft zu vermessen begannen. Die Geschichte der Soziologie ist auch eine Geschichte des Streits: Darüber, welche empirischen Methoden ihre wichtigsten Denker für richtig oder falsch hielten. Aber auch über die grundlegende Frage, unter welchem Aspekt die Gesellschaft eigentlich betrachtet werden soll, gingen die Meinungen immer wieder auseinander. 

Junge Wissenschaft

Die Wissenschaft ist recht jung. Sie entsteht Mitte des 19. Jahrhunderts, als im Zuge der industriellen Revolution Menschen in die Städte strömen, Arbeiter in Fabriken malochen und mit ihren Familien in engen Löchern hausen. Am Anfang steht die Diagnose, dass etwas schief läuft in der industrialisierten Gesellschaft. Der französische Philosoph und Mathematiker Auguste Comte prägt als erster das Wort Soziologie – die Lehre vom Zusammenleben: Er betrachtet die Gesellschaft wie einen kranken Patienten, die in der Krise steckt, weil es keine stabile politische und soziale Ordnung gibt. Comte schwebt eine Naturwissenschaft des Sozialen vor, er will die Gesellschaft nach dem Vorbild der Physik mit Hilfe weniger Universalgesetze erforschen. Ihm geht es um die erfahrbare „soziale Wirklichkeit“, konkrete institutionelle Prozesse in Schulen oder Universitäten, um im Alltag erlebbares Verhalten von Menschen. All das soll empirisch untersucht werden. 

Comte steckt das Feld ab, in dem sich die Soziologie seither bewegt. Dabei kommt es früh zu unterschiedlichen Auffassungen, was mit sozialer Wirklichkeit eigentlich gemeint ist. Um die Jahrhundertwende entwickeln Émile Durkheim und Max Weber unterschiedliche Konzepte – beide zählen zu den Klassikern und Begründern des Fachs. Für den Franzosen Durkheim bestimmen die „sozialen Tatsachen“ die soziale Wirklichkeit, für Weber ist es das bereits zitierte „soziale Handeln“.  

Was meinen die beiden damit? Weber setzt den Fokus auf den individuellen Akteur, der sein Handeln bewusst auf andere Menschen bezieht – er entwirft eine Handlungstheorie. Ein Beispiel für Weber ist die Sitte, bei der Begrüßung den Hut vom Kopf zu nehmen: Seiner Meinung nach ist es nicht eine von oben über den Menschen hereinbrechende  Konvention, eine äußere Macht, die den Hut vom Kopf nimmt. Entscheidend ist der Mensch, der die Norm aus inneren Motiven heraus befolgt, aus Gewohnheit etwa oder Höflichkeit. Diese Motive zu verstehen, das ist für Weber Aufgabe der Soziologie. „Soziales Handeln“ ist dabei nicht wertend gemeint: Hilft ein junger Mann einer alten Dame über die Straße, handelt er gemäß Weber sozial – aber auch, wenn er ihr die Handtasche stiehlt. In beiden Fällen betrifft sein Tun eine andere Person, darauf kommt es Weber an.

Durkheim hingegen konzentriert sich auf Institutionen und soziale Normen, auf jede durch die Gesellschaft festgelegte Art des Handelns. Diese „sozialen Tatbestände“, so der Kern seiner Systemtheorie, führen ein unabhängiges Eigenleben, die auf die Menschen – der sie paradoxerweise selbst geschaffen hat – eine „zwingende Macht“ ausüben und ihr Handeln prägen. Die Soziologie soll nach Durkheim den Zwangscharakter und die Prägekraft sozialer Gebilde – etwa von Familien, Staaten, Vereinen, Unternehmen oder Gewerkschaften – erfassen und untersuchen. Ihm geht es um die gesellschaftliche Struktur, nicht um den einzelnen Akteur.  

Verstehen versus Erklären

So unterschiedlich ihre Konzepte von Soziologie, so unterschiedlich auch die Methoden, mit der Weber und Durkheim die Gesellschaft zu erforschen versuchen. Beide sehen die Soziologie als empirisches Fach, doch ihre wissenschaftliche Herangehensweise ist jeweils eine andere. Weil es Weber um etwas geht, das sich nicht von außen beobachten lässt – Motive und Sinn einer individuellen Handlung –, setzt er auf die Methode des Verstehens. Hierfür entwirft er so genannte Idealtypen sozialer Handlungen, die er realen Situationen gegenüberstellt. Ein Beispiel: Idealtypisch verhalten sich Börsenhändler rational. Doch in der Realität werden sie oft von ihren Emotionen getrieben, sie jubeln Aktien in den Himmel oder verkaufen sie aus Panik. Aus dem qualitativen Vergleich des Idealtypus mit der empirischen Wirklichkeit leitet Weber allgemeine Regeln und Theorien darüber ab, wie die Gesellschaft, die Politik oder die Wirtschaft funktioniert. Diese Regeln sollen jeweils die historische Einzigartigkeit der gesellschaftlichen Phänomene erfassen. 

Durkheims Methode hingegen ist die des Erklärens. Er will die soziale Struktur, die sich über die Menschen stülpt, objektiv beschreiben, analysieren und beurteilen.  Er verbannt den einzelnen Akteur und subjektive Vorstellungen aus seinem Ansatz, und fokussiert sich – ähnlich wie ein Naturwissenschaftler – auf Fakten und Tatsachen, die in der Wirklichkeit überprüft werden können. Diese sozialen Fakten sind für ihn, wie bereits beschrieben, kollektive soziale Gebilde – etwa Konfessionen. Durkheim untersucht in seinem Werk „Der Selbstmord“ beispielsweise die unterschiedlichen Suizidraten von Katholiken und Protestanten. Dabei interessieren ihn nicht die individuellen Gründe einzelner Selbstmordfälle. Er betrachtet den Selbstmord als Phänomen, das durch soziale Ursachen erklärbar ist. Durkheim wertet Selbstmordstatistiken zwischen 1840 und 1880 aus, um den Freitod als harten sozialen „Tatbestand“ empirisch und quantitativ zu erforschen. Das Ergebnis: Je weniger Menschen in soziale Gruppen integriert sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie sich selbst umbringen. Für sein Beispiel heißt das: Weil unter Protestanten die soziale Bindung geringer ist, haben sie eine höhere Suizidrate als Katholiken.   

Durkheims Ansatz, sich bei der Forschung vor allem auf das Tatsächliche und die Erfahrung zu berufen, wird auch als Positivismus bezeichnet. Mitte des 20. Jahrhunderts flammt eine Kontroverse in der Soziologie auf, in dessen Zentrum diese wissenschaftliche Philosophie steht. Sie geht als Positivismusstreit in die Geschichte ein. Wieder geht es um die richtigen Methoden, verbunden mit der Frage, wie viel Weltverbesserungslehre in der Soziologie stecken soll. Der Konflikt schlägt sich vor allem in der deutschen Soziologie nieder. Gegenüber stehen sich zwei Lager: die Frankfurter und die Kölner Schule. 

Verschiedene Schulen

In der Tradition von Durkheim sieht sich das Kölner Forschungsinstitut, das vor allem mit dem Namen René König verbunden ist. In den 1950-er und 1960-er Jahren setzen sich König und seine Mitstreiter – etwa Alphons Silbermann – entschieden für die empirische Sozialforschung ein: Sie betrachten Forschungsergebnisse als das Fundament ihrer soziologischer Theorien. Sie wollen die gesellschaftlichen Realitäten frei von Weltanschauungen und Vorurteilen erfassen, fühlen sich einem nüchternen und neutralen Blick verpflichtet. Hauptaufgabe der Soziologie soll die humanistische Aufklärung und Bildung sein: Die Kölner verstehen ihre Disziplin als Instrument, mit dem sie die Deutschen nach Diktatur und Schreckensherrschaft im Dritten Reich  an die westliche Demokratie heranführen können. Jegliche Form von Ideologiesierung seines Fachs lehnt vor allem König nach der Nazi-Erfahrung ab: Soziologie ist für ihn „nichts als Soziologie“ – ein „wissenschaftlicher und systematischer Umgang mit der universalen Ordnung des gesellschaftlichen Lebens“.  

Die führenden Köpfe des Frankfurter Instituts für Sozialforschung – in den 1950-er Jahren Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, später auch Jürgen Habermas – brandmarken die Kölner Auffassung von Soziologie als Positivismus. Es ist für sie ein Kampfbegriff, mit dem sie die ihrer Meinung unpolitische und gleichgültige Haltung der Kölner Schule kritisieren. Die Frankfurter Soziologen hingegen verstehen die Soziologie politisch und sozialphilosophisch. Sie entwerfen, vom Marxismus inspiriert, eine Kritische Theorie, die sich stark von der klassischen empirischen Forschung abgrenzt: Wissenschaft könne nicht neutral sein – die Soziologie müsse die die Gesellschaft nicht erklären, sondern verbessern. Empirische Untersuchungen können nach Ansicht der Frankfurter nicht die Basis für soziologische Theorien sein, weil  Daten und Fakten blind für den dialektischen und antagonistischen Charakter der Gesellschaft seien. Adorno beispielsweise warnt davor, dass die Sozialforschung dafür missbraucht wird, die herrschenden Verhältnisse zu rechtfertigen. Wenn überhaupt könne empirische Forschung ein „Korrektiv für die Theorie“ sein. In seinem 1957 erschienenen Essay „Soziologie und empirische Forschung“ tritt Adorno für die Kraft des Geistes und der Inspiration anstelle institutionalisierter Forschungsverfahren ein. Die soziologische Arbeit sei kein stupides Verfahren, sondern gedankliche Anstrengung. 

Die von der Frankfurter Schule geforderte Politisierung hält – angefacht durch die 68er-Studentenproteste – bis in die 1970-er Jahre an. Danach ebben die ideologischen Debatten ab, der Zeitgeist verabschiedet sich von großen Gesellschaftsentwürfen. In der Soziologie macht sich in der Folge eine größere Bescheidenheit breit. Viele Vertreter des Fachs meiden die öffentliche Diskussion und ziehen sich in den „Elfenbeinturm der Wissenschaft zurück“, wie es Ulrich Beck formuliert. 

Weltrisikogesellschaft

Beck, weltweit einer der wichtigsten Soziologen der Gegenwart, kritisiert diese Haltung vieler seiner Kollegen. Er fordert sie auf, den globalen Wandel für die Menschen verständlich zu machen. Beck selbst prägt 1986 im gleichnamigen Buch den Begriff der „Risikogesellschaft“. Seine zentrale These: Die Existenz der modernen Menschen wird von Risiken bedroht, die nicht vor sozialen Grenzen Halt machen, sondern das Leben aller – egal ob arm oder reich – gefährden. Solche Risiken sind für ihn beispielsweise Umweltkatastrophen wie das Reaktorunglück von Tschernobyl. Nach den Anschlägen vom 11. September entwickelt Beck sein Konzept weiter: Weil etwa Terrorgruppen international agieren, spricht er nun von einem globalen Gefahrenraum – der „Weltrisikogesellschaft“. Beck plädiert daher dafür, dass die moderne Soziologie ihre Wurzeln aus dem 19. Jahrhundert kappt. Das damalige Bild vom territorial begrenzten Nationalstaat, der als Schöpfer und Garant der Gesellschaft der Gesellschaft auftritt, sei nicht mehr zeitgemäß. Theorien und Methoden, die sich auf den Nationalstaat beziehen, müssten verworfen werden – nötig sei eine „kosmopolitische Wende“. 

Beck fordert nichts geringeres, als dass sich die Soziologie angesichts der immer rasanter werdenden Globalisierung neu erfinden müsse. Wie vernetzt die Welt ist, zeigt übrigens auch das Beispiel des Kaffees: Angebaut wird er in Brasilien oder Äthiopien, gehandelt an Börsen in New York oder London, verschifft vielleicht von einer dänischen Reederei, gelagert in einem Speicher in Amsterdam, produziert von einem deutschen Hersteller – verzehrt am heimischen Küchentisch. 

 

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  1. Pflüger am 04.11.2014
    Ein knapper und guter Überblick! AP
  2. Pflüger am 04.11.2014
    Ein knapper und guter Überblick! AP

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