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Interview mit Dr. Martin Einhorn, Porsche "Die Tragweite der Entscheidung bestimmt den gerechtfertigten Aufwand und nicht ein veraltetes Maß für Signifikanzunterschiede."

"The Machine Age of Customer Insight" ist der Titel des Buchs. Ist "The Machine Age of Customer Insight" aus ihrer Sicht eine Chance für die Marktforschungsbranche oder eine Bedrohung? Oder ist die Frage eigentlich schon obsolet?
Martin Einhorn: Es ist eine große Chance für Konsumenten und Kunden von Customer Insights, schneller, einfacher und nachdrücklicher informiert zu werden bzw. an Entwicklungsprozessen teilzunehmen. Für die klassischen Player der Marktforschungsbranche möchte ich die Herausforderungen nicht klein reden. Diese Entwicklung erfordert einerseits Offenheit für komplett neue Wege, andererseits auch eine deutliche Dynamisierung von Kompetenzen und Fähigkeiten. Es geht um mehr als LISREL durch Generative Adversarial Networks (GANs) abzulösen. Es geht um messbare Entscheidungsunterstützung, Automatisierung und Emotionalisierung im eigentlichen Sinn.
In dem ersten Kapitel beschreiben Sie, wie das Porsche Insights-Team mittlerweile agiert. Können Sie den Weg beschreiben, wie Sie das Team in den letzten Jahren verändert haben? Woran haben Sie sich orientiert? Wurde Ihnen die Entwicklung von oben vorgegeben oder kam die Entwicklung aus dem Team, bzw. den Anforderungen selbst heraus?
Martin Einhorn: Unser Anspruch als Abteilung Customer Analytics und Insights ist es, kundenorientiert zu handeln. Das bedeutet, wir übernehmen Verantwortung für die Wünsche der Porsche-Kunden (Stichwort "Marktforschung als wichtiger Marken-Touchpoint"). Wir orientieren uns zugleich an den Bedürfnissen der Mitarbeiter, also der internen Kunden, nach Entscheidungsunterstützung. "Konsequente Orientierung am Kunden" beschreibt es besser als das klassische "Oben-Unten-Schema". Dadurch wird jeder methodische oder technologische Fortschritt erstmal zur Chance, die Ansprüche der Kunden besser zu erfüllen.
Wir schätzen uns glücklich, dafür Impulse von den Besten zu erhalten: von Universitäten in St. Gallen, der Sigmund-Freud-Universität Wien und der Universität der Künste Berlin zum Beispiel. Die Ideen und Anregungen testen wir möglichst früh und ergebnisoffen. Nicht jede Methode und Technologie erweist sich dabei als nützlich und effizient. Erst wenn sie unseren Kunden einen Nutzen bringt, setzen wir sie ein.
Übrigens: Ohne Validität oder Prognosegüte nutzt keine Methode, aber das allein reicht nicht.
Ich bin sehr froh, in einem Team von Kollegen zu arbeiten, die diese Lernbereitschaft teilen und offen dafür sind, Dinge abzulegen und neu bewerten.
Sie beschreiben in dem Buch den "Porsche Case". Für welche Unternehmen macht es Sinn das Insights-Department in vergleichbarer Art und Weise aufzuziehen?
Martin Einhorn: Mein Eindruck ist, dass viele Unternehmen auf einem ähnlichen Weg sind. Wir tauschen uns jährlich mit branchenfremden Customer Analytics und Insights Abteilungen aus. Daraus ziehen wir stets Impulse, lernen aber auch, dass die Branchen und Unternehmen sehr unterschiedliche Rahmenbedingungen für Customer Analytics und Insights haben. Gelegentlich lernen wir auch, dass wir uns zu den Vorreitern in einigen Bereichen zählen können. Das stärkt uns auf dem eingeschlagenen Weg des dynamischen Lernens.

Wie musste sich das Mindset bei Ihnen und Ihrem Team über die Jahre verändern? Was waren die schwierigsten Herausforderungen?
Martin Einhorn: Vielleicht war es die folgende Erkenntnis: Es ist die Kompetenz von Marktforschern, die Qualität von Daten und Datenquellen zu verstehen. Und diese Kompetenz wird im Zeitalter des Datenüberflusses dann zu einer Stärke, wenn man sie über die solide Verwaltung einer Einzelstudie hinaus anwendet. Das ist nicht immer einfach. Eine Einzelstudie verspricht unmittelbarere Anerkennung. Anders ein mühsames Destillieren der Essenz aus mehreren Studien und ein Anpassen an die Fragestellungen der Entscheider.
Wir haben auch erlebt, dass es Spaß macht und Erfolge bringt, Verantwortung für Kunden zu übernehmen. Institute, die "anonyme Befragte" als "nachwachsenden Rohstoff" betrachten, lösen bei uns mittlerweile eine natürliche Skepsis aus. Wir verstehen uns auch als Kundenbetreuer.
Die Übernahme von Verantwortung im Unternehmen befreit uns von der Illusion, als Marktforscher ein unbeteiligter Beobachter von Gesellschaft und ihrer Dynamik zu sein.
Wir sind mittendrin und ein aktiver Beteiligter an der digitalen Transformation. Das ist jeden Tag Herausforderung und Bereicherung zugleich.
Sie beschreiben, dass sie bei Porsche systematisch auf der Suche nach neuen Datenquellen sind. Welche neuen Datenquellen halten Sie aktuell am vielversprechendsten? Welche Bedeutung hat z.B. Facial-Coding für Porsche bekommen?
Martin Einhorn: Alle Quellen, die Verhalten beobachten und nicht nur erfragen und jene Quellen, die kontinuierliche Datenströme in kleinen Paketen erzeugen, helfen uns, Fragen auf ihren Kern zu reduzieren. Das sind Wünsche, Motive, Kontexte. Wir haben sehr früh Facial Coding getestet und ergänzend eingesetzt. So konnten wir Entscheidungen interner Kunden besser unterstützen. Wir waren deshalb auch schnell immun gegen unrealistische Versprechungen, was alles möglich sei. Zu unseren Leitplanken gehört: offen sein für Neues, testen im Kleinen und dann urteilen.
Zwei Aussagen fand ich besonders spannend: Erstens "The importance of data synthesis and the competencies required are another new feature of the machine age of customer insight". Und zweitens: "With our current information overload, the ability to tell a memorable story is the ultimate discipline in enhancing the relevance and conciseness of customer information". Wie erleben Sie die Marktforschungsbranche in diesem Zusammenhang aktuell? Wie gut sind Sie und Ihr Team mittlerweile selbst darin?
Martin Einhorn: Diese Kompetenz steckt nach meiner Erfahrung noch in den Kinderschuhen. In der Wissenschaft ist Datensynthese bereits State of the Art für A-Journals. Datensynthese und Storytelling gewinnen dort, wo Kundeninformationsexperten Verantwortung für ihre Entscheidungsunterstützung übernehmen. Sie gewinnt auch dort, wo "Storytelling" nicht als irgendeine hübsche Geschichte verstanden wird, sondern so: "Wir versetzen uns in den Entscheider und helfen ihm, möglichst ergonomisch die wichtigsten Informationen zu verarbeiten."
Dabei können wir viel von guten Erzählern und von Hollywood lernen. Unsere Lehre auf diesem Gebiet startete mit Ted Frank, der in dem Buch auch einen Beitrag publiziert hat. Dabei haben wir erfahren, dass es ein spannender und langer Weg ist, wie jedes Handwerk. Die Lehre hat uns letztlich beeindruckende "Kunstwerke" produzieren lassen.
"The classic rules for representative samples must be further developed and adapted for this purpose. For example, for many questions without price sales forecasts, a mixture of quota and convenience sampling is sufficient." Darf man diese Aussage als Plädoyer verstehen, sich als betrieblicher Forscher verstärkt mit Anbietern wie Civey, Dalia oder Appinio zu beschäftigen?
Martin Einhorn: Nicht nur. Es ist vor allem ein Plädoyer dafür, sich häufiger die Schwere oder Leichtigkeit der zu unterstützenden Entscheidung bewusst zu machen.
Die Tragweite der Entscheidung bestimmt den gerechtfertigten Aufwand und nicht ein veraltetes Maß für Signifikanzunterschiede.
Geht es darum, eine kleine Verbesserung in einem digitalen Angebot zu testen, oder darum, ein neues Werk zu bauen? Das erleichtert am Ende auch den Test von neuen Ideen und Anbietern und schärft die Bedeutung von "Methoden-Schwergewichten", wie einer Car Clinic. Es hat uns geholfen, den sehr erfolgreichen Porsche Advisors Club ins Leben zu rufen. Porsche-Kunden können dort direkt mit uns Kontakt aufnehmen, z.B. zu unserem Vorstand oder den Baureihen-Managern, und ihre Wünsche und Bedürfnisse einbringen. Entwickler von Porsche erhalten schnell Feedback zu ihren Konzepten. Das Ganze ist keine Einbahnstraße, wie klassische Marktforschung, sondern ein Dialog auf Augenhöhe. Für mich ein idealer Anwendungsfall, um Kundenorientierung von Customer Insights in jeglichem Sinn umzusetzen.
Wenn Sie selbst aktuell ein Unternehmen gründen würden, was würde das Unternehmen anbieten?
Martin Einhorn: Datensynthese und Storytelling mit Customer Insights. Das wäre zumindest der Sub-Titel auf der Homepage. Eine Herausforderung besteht dabei in dem Kompetenzaufbau und der Skalierung. Beide Funktionen erfordern es, sich den Wissensstand und die Denkstrukturen der Entscheider anzueignen. Gleichzeitig bedarf es Kompetenzen in Data Science, KI, Graphik Design und Psychologie.
Wie kamen Sie auf die Idee ein Buch herauszugeben?
Martin Einhorn: Die Idee entstand im Beirat zur Global School in Empirical Research Methods (GSERM) an der Universität St. Gallen. Wir sahen gemeinsam den wachsenden Bedarf in Unternehmen, die Chancen und Transformationen durch KI und Data Science besser zu verstehen. Gleichzeitig erkannten wir das Potenzial der sehr kompetenten Dozenten am GSERM und des Netzwerkes an assoziierten Unternehmen. So entstand ein Buch, um KI-interessierten Studenten und Praktikern einen schnellen Überblick über den State of the Art Wissenstand zu geben.
Hat Sie Porsche dafür zeitlich freigestellt oder ist die Arbeit an dem Buch vor allem in ihrer Freizeit geschehen?
Martin Einhorn: Das war eine der Extra-Meilen, die typisch sind für die Porsche-Kultur. Es war sehr lehrreich; zum Glück habe ich beim Projektstart den Aufwand völlig unterschätzt.
Über den Autor

/jj
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