Die Sekundärforschung: Alles andere als ein Stiefkind

Ein vorsätzlich subjektives Plädoyer für einen verkannten Traumjob. Vom Prekariat der Marktforschung zum Hero of Knowledge Management?

Von Jörg Kerler, Consultant mit Schwerpunkt Sekundärforschung und Wissensmanagement, ORBIT Gesellschaft für Applikations- und Informationssysteme mbH

Es betrübt mich doch sehr, für wie langweilig und unattraktiv viele Menschen – gerade auch solche aus dem Primärforschungskosmos – den Beruf des Sekundärforschers erachten, und welche negativen Assoziationen sie mit dem vermeintlichen Aschenputtel der Marktforschung verbinden. Offenbar scheint hier immer noch ein Bild aus grauen Vor-Internet-Zeiten zu dominieren, das Herr Lübbert eingangs seines Editorials zum Themendossier Sekundärforschung sehr treffend beschreibt:

"Als ich den Begriff "Sekundärforschung" zum ersten Mal hörte, fühlte ich mich unweigerlich an endlose Regale in tageslichtfernen Bibliotheks-Kellergewölben erinnert, in denen sich kaum jemand gern aufhält. An eingestaubte Bücher und aufwändige Recherche. An grauhaarige Aufpasser, die bei jedem Geräusch drohend den Finger heben."

Als ich vor einiger Zeit nach vielen Jahren des fröhlichen Recherchierens in völlig primärforschungsfreien Paralleluniversen, die sich „Knowledge Center“ oder „Market Intelligence Center“ nannten, als zunächst einziger Sekundärforscher in die friedliche Idylle eines weitläufigen Reservats für betriebliche Primärforschung eindrang, wurde ich von einem eigentlich durchaus liebenswerten Kollegen mit einem noch weitaus vernichtenderen Vorurteil konfrontiert:

„In meinen dunkelsten Stunden stelle ich mir den Sekundärforscher entweder wie eine Mischung aus indischem Asketen, Buchhalter und Steuerfachgehilfe vor oder wie einen ewigen Studenten mit Hang zu missbräuchlicher Nutzung von Genussmitteln aller Art, gerne auch leicht adipös, bestimmt aber mit deutlicher Neigung zur Fremdenscheue. Kreativität gehört jedenfalls nicht zur klischeehaften Vorstellung.“

Damit konnte ich mich nun so gar nicht identifizieren! Da fühlte ich mich mindestens so verletzt wie ein neuzeitlicher Primärforscher, den man als „Erbsenzähler“ tituliert hat. Mir erschienen als typische Vertreter des Sekundärforscherstandes die stets freundlichen und umtriebigen Gutmenschen mit Helferlein-Syndrom, die sich mit Hingabe auch den absurdesten Recherche-Anfragen widmen und noch mehr die gewieften, extrem kommunikativen Strippenzieher, die über umfangreiche berufliche Netzwerke verfügen, mit deren Hilfe sie fast immer irgendwie die nachgefragten Daten und Informationen beschaffen können. Ganz zu schweigen von den Koryphäen und schillernden Diven, die sich insbesondere auf dem Gebiet der Sekundärforschungslieferanten (namentlich in der Analystenszene) tummeln und das bunte Bild der Sekundärforschung abrunden.

Obwohl in unserer Abteilung (in der ich mich übrigens sehr wohl fühle) die Primärforschung weiterhin die Hauptrolle spielt, hält sich mein Futterneid doch in sehr engen Grenzen. Gut, die schneidigen Geheimagenten Ihrer innerbetrieblichen Majestäten genießen mehr Management Attention, und sie haben auch öfter Freigang, um sich in den Gemächern der Primärforschungsinstitute von – dem Vernehmen nach in dieser Branche sehr häufig anzutreffenden – Bondgirl-Lookalikes mit feinen Häppchen verwöhnen zu lassen. Und sie bekommen zu Weihnachten die leckeren Lebkuchen aus Nürnberg in schmucken Blechdosen und allerlei andere Präsentpakete von den Instituten kredenzt. Bei den Sekundärforschungsanbietern reicht es meist nur für wenig nahrhafte Grußkarten. Dafür wird der Sekundärforscher anderweitig reich entlohnt: Mit sozialem Kapital und mit einem außergewöhnlich spannenden, herausfordernden und abwechslungsreichen Tätigkeitsfeld.

Wie ist das zu verstehen? Nun, der Sekundärforscher erhält in der Regel täglich mehrere unterschiedliche Anfragen aus verschiedenen Unternehmensbereichen (im Gegensatz zum klassischen Primärforscher, der eher an wenigen, längeren Projekten arbeitet). Dadurch ist er ständig mit neuen Themen konfrontiert, lernt eine Vielzahl von Kollegen und deren Wissensbedarfe kennen und kann diese als „Enabler“ untereinander vernetzen. Er muss sich mit einer großen Quellen- und Meinungsvielfalt beschäftigen und kann sich ganz nebenbei eine beachtliche Allgemeinbildung aneignen. Die häufigste Assoziation, die ich im Zusammenhang mit dem modernen Sekundärforscher gehört habe, ist die einer „Spinne im Netz“. Und damit ist nicht das Spinnennetz in einer verstaubten Bibliotheksecke gemeint, sondern eine Stelle, an der viele Fäden zusammenlaufen (ob nun in Form einer „zentralen Auskunftei“ oder eines strategischen Knowledge Hubs).

Und hier ist auch genau der Punkt, wo der Sekundärforscher sich plötzlich gegenüber dem Primärforscher gar nicht mehr „sekundär“ fühlt. Der Primärforscher mag zwar näher am Forschungsgeschehen und am Forschungsobjekt sitzen, dafür hat der (betriebliche) Sekundärforscher in der Regel eine viel größere Nähe zum innerbetrieblichen Nachfragemarkt, ganz einfach dadurch, dass er mehr Anfragen bearbeiten und aus einem breiteren Quellenspektrum (und meist auch aus einem breiteren Quellenwissen) schöpfen kann und daher für eine viel größere Zahl von Anfragen der richtige Ansprechpartner ist. Wenn die Sekundärforscher halbwegs gut aufgestellt sind, so sind sie also der PRIMÄRE Ansprechpartner für unternehmensinterne Nachfrager nach Daten und Informationen und die Primärforscher nur ein SEKUNDÄRER Ansprechpartner, der von der Sekundärforschung, also dem „Wissensaggregator“ (diesen Begriff habe ich von Herrn Halemba entliehen) im Einzelfall hinzugezogen wird. In meinem beruflichen Umfeld schätze ich, dass mindestens 90% der Anfragen bei der Sekundärforschung landen. Übrigens kann ich auch von einem Fall berichten, in dem in einem Großunternehmen im B2B-Bereich die Primärforschung von der Sekundärforschung praktisch vollständig verdrängt wurde.

Aber soweit muss es ja nicht kommen. Die einstigen Schmuddelkinder der Marktforschung lassen sich nämlich auch ganz hervorragend einspannen, um die Primärforschung und damit die gesamte Marktforschungsabteilung viel relevanter, produktiver und präsenter zu machen. Folgende Assets und Kompetenzen kann die Sekundärforschung in diesem Zusammenhang in die Waagschale werfen:

  • Wissen über Bedarfe und Nachfragetrends und ggf. auch über Fragestellungen, die mit Sekundärforschung nicht zu beantworten sind und die proaktiv in der Primärforschung untergebracht werden könnten.
  • Quellenwissen und Netzwerke, welche – mit den Primärforschern geteilt – diese zu ganzheitlichen Marktforschern machen, die sich dann als strategische Berater positionieren können, weil sie das gesamte Spektrum an Quellen und Methoden kennen; auch Primärforschungsinstitute, die oft untereinander relativ austauschbare Leistungen anbieten, können sich durch Integration von Sekundärforschung besser als hochwertige Beratungsdienstleister positionieren.
  • Kenntnisse über Methoden, Prozesse und Quellen für das Wissensmanagement, die dazu beitragen, die Marktforschungsabteilung zum unternehmensweiten „Knowledge Center“ zu entwickeln – und das zu einem Zeitpunkt, in dem das Thema Knowledge Management in vielen Betrieben wieder auf der Agenda steht.
  • Kompetenzen auf dem Gebiet von Software-Lösungen für Content Management, Collaboration/Social Business, Enterprise Search, Portals und Competitive Intelligence, welche helfen, das Wissen der Marktforschung effizient im Unternehmen zu verteilen (Primärforscher beschäftigen sich tendenziell eher mit Statistik- und Befragungssoftware, welche nur für die eigenen Belange wirklich wichtig ist).

Und nebenbei bemerkt: Dass es in der Sekundärforschung auch nur annähernd so ruhig zugehen könnte wie in einer Bibliothek, kann ich mir kaum vorstellen. Der moderne Sekundärforscher ist ein Information Broker, der ständig im Austausch mit den verschiedensten externen und internen Informationslieferanten und den Anfragern steht. Primärforscher finden es nicht immer prickelnd, mit diesen lärmenden Dauertelefonierern ein Büro teilen zu müssen. Mich hat man deshalb in ein Büro mit den lautesten Vertretern der Primärforschungszunft einquartiert, mit denen die die schlimmsten Witze erzählen und am lautesten darüber lachen...

Abschließend kann ich nur die Marktforscher und die Marktforschungsmedien dazu aufrufen, dem „Mauerblümchen“ Sekundärforschung mehr Beachtung zu schenken und ein moderneres Bild dieses Berufs zu zeichnen, der sich schon stark in Richtung Knowledge Management entwickelt hat. Nach meiner Einschätzung (und persönlichen Erfahrung) ist die Sekundärforschung der Bereich im Unternehmen, der die besten Voraussetzungen hat, ein internes Wissensmanagement zum Erfolg zu führen. Ganz einfach deshalb, weil dort, wie oben beschrieben, sehr viele Ströme externen und internen Wissens zusammentreffen und erschlossen bzw. aufgeschlossen werden. Dafür sind aber vor allem zwei Dinge erforderlich:

  • Das Management der (zumeist von Primärforschung dominierten) betrieblichen Marktforschungsabteilungen muss bereit sein, sich das Thema Knowledge Management auf die Fahnen zu schreiben und die dafür erforderlichen Investitionen in Sekundärforschungsinhalte und -personal zu tätigen.
  • Das Berufsbild und die Position des Sekundärforschers müssen attraktiv sein, um motivierte und qualifizierte Menschen für die herausfordernden Aufgaben des von der Marktforschung getriebenen unternehmensweiten Wissensmanagements zu gewinnen und binden zu können.
 

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