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Interview zum Buch "Digitale Heilversprechen" mit Dieter Korczak Die Risiken und Nebenwirkungen der Digitalisierung in der Gesundheitsforschung - Stecker ziehen reicht nicht mehr!

Digitale Anwendungsformen werden auch im Gesundheitswesen als Schlüsseltechnologie propagiert. Immer mehr Gesundheitsdaten werden über Healthcare Wearables und Bio-Sensoren erhoben und an Drittanbieter weitergeleitet. Doch was passiert dann mit den Daten? Welche Auswirkung haben sie auf Krankenkassentarife oder die Kreditwürdigkeitseinschätzung der Menschen? Welchen Nutzen haben diese Entwicklungen für die Bevölkerungen? Dies und vieles mehr wird im neuen Buch "Digitale Heilversprechen" von Dieter Korczak, ehemaliger ESOMAR-Präsident und Leiter der GP-Forschungsgruppe, thematisiert.

Dieter Korczak

Sie sind langjähriger Marktforscher. Wie kommt es zu diesem Buch? Und wieso gerade jetzt?

"Digitale Heilversprechen - Zur Ambivalenz von Gesundheit, Algorithmen und Big Data" von Dieter Korczak
"Digitale Heilversprechen - Zur Ambivalenz von Gesundheit, Algorithmen und Big Data" von Dieter Korczak
Dieter Korczak: Ich habe in den letzten Jahren ja eine Reihe von Büchern zu Themen herausgegeben, die mich inhaltlich interessiert haben. So zum Beispiel zu Freundschaft (2018), zur Meinungsfreiheit (2016), zur neuen Schamlosigkeit (2013) und bereits im Jahr 2007 zu den Zukunftspotentialen der Nanotechnologien. Nanotechnologien galten vor 13 Jahren als Schlüsseltechnologien für Deutschland. Mit gleichen Erwartungen werden heute digitale Anwendungsformen im Gesundheitswesen verbunden, sowohl vom Minister für Gesundheit Jens Spahn wie von Finanzminister Olaf Scholz und auch Wirtschaftsminister Peter Altmaier. Aber was heißt in diesem Fall Schlüsseltechnologie und welchen Nutzen haben diese Entwicklungen für die Bevölkerung? Das sind spannende Fragen, denen ich gemeinsam mit einer kleinen Forschergruppe innerhalb der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) nachgegangen bin. Und das Buch ist jetzt ein erstes Résumé unserer Überlegungen und Erkenntnisse. Das Buch ist vor dem Einbruch der Corona-Krise konzipiert worden und passt jetzt inhaltlich und zeitlich sehr gut in die aktuellen Diskussionen.

Was begeistert Sie am Themenfeld "Digitalisierung und Gesundheitsforschung"?

Dieter Korczak: Als Soziologe kann ich gedanklich nicht abseits stehen, wenn solche großen Themen wie Industrie 4.0, Big Data und Digitalismus in Wissenschaft, Medien und Politik erörtert werden. Der Gegenstand der Lebenswissenschaften oder Life sciences hat sich in den zurückliegenden 30 Jahren rapide gewandelt. Daten werden als das neue Öl, "künstliche Intelligenz" als die neue Elektrizität bezeichnet und das Internet der Dinge (IoT) als ihr Nervensystem. Museen wie das Museum der Arbeit in Hamburg 2018 beschäftigen sich intensiv mit "Künstlicher Intelligenz". Und ec, wenn die Computer frech werden, wie es der Urvater der Computer Conrad Zuse mal formuliert hat.

Da stellt sich automatisch die Frage, in welche Richtung gehen all diese Entwicklungen? Der Verweis auf Globalisierung oder dass das Leben immer in einem ständigen Wandel begriffen ist, hilft da nicht weiter. Eine Gesellschaft, deren Strukturen und Prozesse auf Informationstechnologie basieren, auf der maschinengestützten Verwaltung und Verarbeitung von Informationen sowie auf Algorithmen und Automatisierung, wird seit Nicholas Negropontes Buch "Being Digital" (1995) Digitalismus genannt. Ray Kurzweil, der Pionier in der IT-Forschung und Verfechter des Transhumanismus glaubt sogar an die Verschmelzung von Mensch und Technologie, an die Cyborgisierung des Menschen. Gerade im gesundheitsbezogenen Bereich gibt es eine Vielzahl von Entwicklungen, die man als Weg hin zu einer transhumanistischen Gesellschaft deuten kann. Dazu gehören bereits jetzt alle Formen von Implantaten, zum Beispiel künstliche Gelenke, Stents und Biosensoren.

In dem Nanotechnologie-Buch hat Rolf Eckmiller unter dem Titel "Blinde werden wieder sehend!" vor dreizehn Jahren schon die Entwicklung von der Prothetik zu Mensch-Maschine-Symbiosen vorhergesagt. Der Wissenschaftszweig, der sich damit beschäftigt, ist die Biosystemtechnologie. Die Beobachtung der Begeisterung für dieses Thema im Gesundheitswesen hat mich seitdem nicht mehr losgelassen.

Ihr Buch heißt "Digitale Heilsversprechen". Was verspricht die Digitalisierung denn im Hinblick auf das Gesundheitswesen?

Dieter Korczak: Digitalisierung ist ja lediglich eine Formulierung für die Technik ein analoges in ein digitales Signal umzuwandeln und/oder Informationen in maschinenlesbare Daten umzuwandeln. Wer also über Digitalisierung spricht, sollte sich immer klar darüber sein, dass es um das Sammeln und Auswerten von Daten geht, um diese maschinenlesbar zu machen und schließlich automatisiert  mit Hilfe von komplexen Rechenoperationen (neudeutsch: Big Data Sciences) auszuwerten. Die Begehrlichkeiten richten sich daher auf sehr große Datenmengen und da drängen sich die Vitaldaten von Menschen förmlich auf. Die gesetzlichen Krankenkassen haben Daten über rund 70 Millionen Versicherte gespeichert. Gesundheitsdaten sind zehnmal so viel wert wie Kreditdaten. Der Geldwert von Gesundheitsdaten wird allein für Deutschland auf 4,5 Milliarden Euro geschätzt. Vor allem die Kombination aus mobil erhobenen Vitaldaten mittels smarten Gesundheitsapplikationen (Fitness-Tracker) und Persönlichkeitsdaten ist für die Ökonomisierung dieser Informationen hochinteressant. Beworben werden diese Apps mit dem Versprechen durch ein kontinuierliches Monitoring des aktuellen Gesundheits- und Fitnesszustands beide zu optimieren.

Ohne zu viel vorweg zu nehmen: Kann sie dieses Versprechen halten?

Dieter Korczak: Das generelle Ergebnis ist: Nein, denn es fehlt an Vielem. An der Validität der Daten, an Messgenauigkeitsproblemen, an einem zugrundeliegenden theoretischem Gesundheitsmodell mit entsprechender Operationalisierung, an dem ausreichenden Schutz vor unbefugter Nutzung, an fehlender Privacy by Design, um nur einige Probleme zu nennen.

Das Buch ist durchaus als Plädoyer dafür zu verstehen, dass der Mensch gegenüber der Technik die Oberhand behält, so fortschrittlich sie auch sein mag. Gerade aus Marktforschungssicht sind Daten natürlich die wichtigste Informationsquelle, um Lösungen oder - im Gesundheitswesen - Heilung zu finden. Inwiefern sehen Sie das anders?

Dieter Korczak: Vital- und Gesundheitsdaten gehören zu den elementaren Persönlichkeitsinformationen. Sie umfassen den physischen und psychischen früheren und gegenwärtigen Zustand eines Menschen sowie seine (genetische) Risikodisposition. Sie unterliegen nach Art. 9 Abs. 1 der Datenschutz-Grundverordnung (DSGV) und nach Art. 3 der Europäischen Grundrechtecharta dem besonderen Schutz. Daraus ergibt sich zwingend, dass die vollständige Information über Erhebung, Auswertung und Nutzung dieser Daten an die Datengeber gegeben sein muss und dass die ausdrückliche Zustimmung der Datengeber eingeholt werden muss. Aktuell wissen die Personen, die ihre Vitaldaten über Healthcare Wearables und Bio-Sensoren an Dritte weitergeben nicht, was mit diesen Daten in der Verarbeitung und Nutzung passiert. Sind die Daten einmal in den kommerziellen Verwertungsprozess geflossen, lässt sich anschließend nicht mehr nachvollziehen, wohin sie sonst noch fließen. Die Datengeber sind sich in der Regel auch nicht über die damit verbundenen Konsequenzen im Klaren, zum Beispiel hinsichtlich der Auswirkung auf Krankenkassentarife oder der Verbindung mit Kreditwürdigkeitseinschätzungen. In der aktuellen Corona-Krise zeigt sich ja, wie schnell Grundrechte auch in demokratischen Staaten eingeschränkt werden können und wie wenig erfolgreich rein digitale Lösungen (Stichwort: Corona-App) sind.

Eine der Hauptaufgaben der Zukunft wird sein, die Transformation von der solidarischen Nahgesellschaft in eine singularisierende Distanzgesellschaft zu beschränken, wenn nicht gar zu verhindern.

Ist das deutsche Gesundheitswesen, was Datennutzung, aber auch Datenschutz betrifft, zeitgemäß und gerüstet für die Zukunft? Wo stehen wir im internationalen Vergleich?

Dieter Korczak: Die DSGV ist ein Bollwerk. Aber, mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen und insbesondere der Einführung der Telematik-Infrastruktur kommt es zu einer Umwidmung von Gesundheitsdaten zu Sozialdaten, wenn die Daten von einer staatlichen Stelle auf der Basis des Sozialgesetzbuches (SGB I, IV oder X) abgerufen werden.

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Für kritische Infrastrukturen wie z.B. Krankenhäuser,  gilt in Deutschland seit 2015 das IT-Sicherheitsgesetz. Durch das eHealth-Gesetz (ebenfalls 2015) sind die Sicherheitsanforderungen an die Telematik-Infrastruktur (Vernetzung der Akteure im Gesundheitswesen) geringer als an ein einzelnes Krankenhaus. Die Informatikerin Sylvia Johnigk übt heftige und ausführliche Kritik an der Tatsache, dass Arvato, eine Bertelsmann-Tochter, den Auftrag bekommen hat, die Gesundheitsdaten zentral in der Telematik-Infrastruktur zu speichern und zu verarbeiten.

Zu Arvato gehört auch als Finanzdienstleistung der Inkassobereich, über den 2019 über 25 Millionen Inkasso-Briefe versandt worden sind.

Die Risiken und Nebenwirkungen der Digitalisierung werden bisher nicht genügend gesehen, insofern sind wir in Deutschland nicht zeitgemäß und nicht genügend gerüstet.

Wie sehen Sie die Zukunft der Datennutzung in Gesundheitsfragen in Deutschland? Im Hinblick auf Lösungen für COVID-19 in 2021, aber auch darüber hinaus.

Dieter Korczak: Auf der BitCom-Digital Transformation Week Mitte November 2020 hat der BitCom-Präsident Achim Berg in seiner Eröffnungsrede gesagt: "Eine Grundvoraussetzung für KI-Anwendungen sind Gesundheitsdaten." (!!) Gesundheitsminister Jens Spahn hat dort ergänzt, dass sich durch die mobilen Gesundheits-Apps "in den nächsten zehn Jahren so viel verändern (wird), wie wir uns heute noch gar nicht vorstellen können." Dieser Vorstellung von der schönen, neuen Digitalwelt stehen Dystopien gegenüber, die die Aneignung der Gesundheitsdaten und die daraus resultierende Wertschöpfung durch Unternehmen als eine neue Form des Kolonialismus bezeichnen, so der Soziologe Nick Couldry. Andere Autoren- wie Soshana Zuboff- sehen die "heimlich gestohlenen Verhaltensdaten" als Wachstumsmotor des "Überwachungskapitalismus". Südkorea wird ja in den Medien als leuchtendes demokratisches Beispiel - im Gegensatz zu China - für die totale Trackingkontrolle und als Erfolgsmodell für die Bekämpfung der Ausbreitung des Corona-Virus gesehen. Die  Corona-App war und ist ein zwiespältiges Angebot: Mehr Bewegungsfreiheit und vermutliche Sicherheit im Austausch gegen private Daten und die technische Kontrolle darüber, wann und wo man sich aufhält und mit wem man Kontakt hat. Weitgehend unerwähnt bleibt dabei, dass Südkorea eine streng paternalistische Struktur hat und die Suizidrate unter jungen Frauen in Südkorea, seitdem die Pandemie andauert, neue Höchststände erreicht.

Die Infektionsketten sollen mit der Corona-Warn-App digital unterbrochen werden, das ist die Absicht. Der mögliche Präventionseffekt einer Corona-App wird als Faktum gehandelt, aber nicht als Möglichkeit und das bei sehr unklarer Datenlage.  Die Realität zeigt, dass am 4. Dezember 2020 23,5 Millionen Handys die App heruntergeladen haben und rund 175.000 positive Testergebnisse mitgeteilt wurden. Davon haben sich 54% entschieden, ihr positives Testergebnis mit Kontaktpersonen zu teilen. Insgesamt sind es also 0,4% der Downloads, die ein positives Ergebnis teilen. Hier stellt sich vehement die Frage nach Nutzen und Aufwand.

Es geht, wie immer beim Einsatz von IT und dem Aufbau weltweiter digitaler Infrastrukturen zur Kontrolle und Steuerung sozialer Gemeinschaften, um Machtfragen.

Wie ist ganz allgemein Ihr Eindruck von der Marktforschungsbranche in diesen Zeiten? Was darf so weitergehen? Was sollte sich entwickeln? Was muss sich ändern?

Dieter Korczak: Der Unternehmensberater Benjamin Schulz hat in einem Interview mit marktforschung.de vor einem Jahr erklärt, dass zu den entscheidenden Skills von Marktforschern gehört, dass sie neugierig sind und einen großen Wissensdurst haben sollen, dass sie ein ausgeprägtes Ordnungsmotiv haben sollten und gut strategisch denken können. Reicht das aus, um auf die Änderungen in der Marktforschung durch Automatisierung, Digitalisierung, Algorithmisierung und Big Data angemessen reagieren zu können? Andere Autoren glauben, dass Machine Learning zu einem mächtigen (!) Werkzeug werden wird, das neue Möglichkeiten bietet für kreative Marktforschung auf höchstem Niveau.  

Ich möchte mich nicht an Spekulationen in so einem unsicheren Fahrwasser wie der Zukunft der Marktforschung beteiligen. Im Laufe meiner Berufstätigkeit ist die Marktforschung regelmäßig immer wieder als überholt bezeichnet worden. Die aktuellen Esomar-Zahlen zeigen, dass sich das Volumen der Marktforschung weltweit auf rund 90 Milliarden Euro beläuft. Offensichtlich leben Totgesagte länger. Was für mich dringend notwendig ist, dass die Marktforschung ihre ethischen Codes für den Umgang mit digitalen Daten weiterentwickelt.

Zur Person:

Dieter Korczak
Prof. Dr. Dieter Korczak, Diplom in Volkswirtschaft, Promotion in Soziologie an der Universität Köln. Er war u.a. tätig für als Abteilungsleiter psychologische Marktforschung bei MARPLAN, Marktforscher Markenteam bei H.F. & PH.F.Reemtsma, Projektgruppenleiter bei Infratest Gesundheitsforschung. 1985 Gründung und Leitung der GP-Forschungsgruppe. Er unterrichtet seit 2005 als Dozent für Medizinsoziologie an der DIPLOMA. Er war von 2011-2012 Präsident von Esomar und von 1997-2017 Vorsitzender von Interdisziplinäre Studiengesellschaft. 

/sh

 

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