Kolumne von Rochus Winkler Die Relevanz der psychologischen Forschung
Tiefenpsychologische Marktanalysen sind auch in Zeiten von "Big" oder "Smart" Data allein schon deswegen bedeutsam, weil bei der Produktverschreibung und -verwendung maßgeblich bewusste und vor allem auch unbewusste seelische Mechanismen und Bilder am Werk sind, die überhaupt den Umgang im Ganzen regulieren. Im Bereich der Pharma-Marktforschung stellen Behandlungskulturen den relevanten psychologischen Rahmen dar.
Doch was sind diese "Behandlungskulturen"?
Behandlungskulturen sind ganzheitliche, personen-übergreifende kulturelle (psychische) Regulationsformen. Sie lenken das Erleben und Verhalten aller Beteiligten. In sie geraten Ärzte, Patienten, Angehörige, und – förderlich, manchmal hemmend – Gesundheitssystem und Medikamente hinein. Bewusst kriegt man die Wirksamkeit der Behandlungskultur meist gar nicht mit, weshalb tiefenpsychologische Explorationen notwendig sind.
Ein Beispiel: In der westlichen Welt haben sich Verfahren medizintechnisch zwar weit fortgeschritten entwickelt, aber immer noch sind in ihnen vor Jahrhunderten geformte Bilder, Haltungen und Therapieformen wirkmächtig – wie zum Beispiel der Glaube an höhere (religiöse) Mächte, die über "krank" oder "gesund" entscheiden – oder andere, die wieder an Attraktivität gewinnen – zum Beispiel Naturheilmittelverfahren, die viele Fans aber auch Kritiker haben.
So sind Behandlungskulturen, unabhängig von der medizinischen Manifestation einer Erkrankung, stets auch von irrationalen Faktoren geprägt, die nichts oder nur wenig zu tun haben mit dem, was eine an Evidenz orientierte Medizin an Heilungsroutinen vorgibt. Damit ist die psychologische Dramaturgie gemeint, mit der die Krankheit für die Patienten einhergeht. Ein Beispiel: Bei Herzproblemen existieren teils unterdrückte, aber oft doch vehement eintretende Ängste, sterben zu müssen. Daraus resultieren Vorsätze zur Änderung der Lebensumstände, weil es eben um Leben und Tod geht. Das kann in der Konsequenz jedoch bedeuten, dass der Patient zwar gehorsam etwas mehr Sport treibt und weniger raucht, gleichzeitig auf sein regelmäßig (zu) fetthaltiges Essen und Alkohol aber nicht verzichten mag.
In der Behandlungskultur spielt der Arzt zudem eine entscheidende Rolle. Diese kann je nach Zustand des Patienten wechseln: zum Beispiel spielt ein Arzt bei Herzpatienten verschiedene Rollen als Mahner, Erzieher oder Retter in der Not etc. Bestimmte dazugehörige Beratungs-, Diagnostik- und Behandlungstätigkeiten wechseln sich ebenfalls nach der jeweiligen Arzt-Rolle ab.
Schaut man sich die Alltagswirklichkeit anhand einer konkreten Präparategruppe an – hier am Beispiel Lipidsenker bei Hypercholesterinämie – kann man unbewusst wirksame Bilder und gleichzeitig rational medizinische Setzungen beobachten: Es geht um die Behandlung einer Erkrankung, die der Patient nicht spürt, die aber ein hohes Risiko für Herzinfarkt oder Schlaganfall darstellen kann und für Arzt und Patient mit vielen Unsicherheiten besetzt ist.
Psychologisch wirksam ist hier das Bild eines "unsichtbaren Damoklesschwertes", das über den Patienten hängt. Der Schweregrad oder ob überhaupt eine Krankheit vorliegt, wird von Leitlinien für bestimmte Lipidwerte definiert. Für viele Ärzte ist die Hypercholesterinämie daher erst mal eine "Laborerkrankung". Lipidsenker werden nicht genommen, damit sich der Patient besser fühlt, sondern damit Labor-Lipidwerte in den grünen Bereich kommen. Wirksame und teure Präparate verschreibt man gerne solchen Patienten, die "mitarbeiten" und sich an Lebensumstellungsratschläge halten und die Medikamente auch regelmäßig einnehmen. Hier wirken verkürzt dargestellt unbewusst alte Bilder von Folgsamkeit aber auch Kontrolle und Strafe mit.
Erst der Blick durch das tiefenpsychologische Mikroskop lässt eben genau solche vielschichtigen, spannungsvollen Felder im Umgang mit Präparaten, Indikationen erkennen. Diese Kenntnisse sind letztlich mitentscheidend für das erfolgreiche strategische und operative Marketing. Denn psychologisch gesehen sind Pharma-Präparate als "in die Behandlungskultur eingebettet" zu verstehen. Ein pharmazeutisches Mittel zeichnet sich demnach nicht nur durch sein faktisches Wirkversprechen aus, sondern durch weitergehende psychologische unbewusste Versprechen, die es erfüllen muss.
Zur Person:

- Seit 1999 in der Morphologischen Markt- und Medienwirkungsforschung sowie der strategischen Beratung tätig
- Gesellschafter seit 2008 (Gründungsjahr)
- Lehrauftrag an der Hochschule Fresenius unter anderem zu "Marketing" und "Pharma Ökonomie" (2014)
- Arbeitsschwerpunkte: nationale und internationale Forschung in diversen Branchen, z.B. FMCG, Food & Beverages, Dienstleistungen, Medien, Telekommunikation, Energie, Mode, Electronics, Handel, Pharma, B2B, kulturpsychologische Fragestellungen
- Vortragsreferent bei Branchenkongressen und Marketing-Fachtagungen und Gastdozent an Hochschulen
- Grundlagenforschungen und zahlreiche Publikationen zur Markt-, Medien- und Kulturpsychologie in Fachzeitschriften
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