Die "Neurodiskussion" in der Marktforschung: Eine kritische Bestandsaufnahme.
Warum die Beurteilung der "Neurodebatte" schwierig ist …
Das Thema "Neuro" wird derzeit in der Marktforschung eifrig diskutiert. Der vorliegende Artikel möchte die zentralen Themen dieser Debatte rekonstruieren und überprüfen, was sie uns eigentlich über Markenkommunikation und über die Schaffung starker und attraktiver Marken lehrt.
Die Antwort auf diese Fragen ist dabei nicht so einfach wie es scheint. Zentraler Grund dafür ist die empirische Befundlage. Diese steht nämlich in eigenartigem Kontrast zu der gerne bemühten Neuro - Rhetorik vom "Großen Durchbruch". Denn derzeit liegen (noch?) keine für die marktforscherische Praxis wirklich bahnbrechenden empirischen Ergebnisse vor.
Nicht ohne Grund fasst Wolfgang Koschnick daher die bisher umfangreichste kritische Sichtung empirischer Neuro-Studien in dem Sprichwort zusammen: "Der Berg kreisste und gebar eine Maus".
Und das sind nicht bloß die bösen Worte eines übel wollenden Kritikers, wie das Fazit einer Übersichtsarbeit einiger führender Vertreter der Neuroökonomie zeigt:
"From a practitioner’s perspective (…) the current research is a patchwork of largely unrelated studies addressing a wide range of potentially relevant issues. It appears that, to date, no direct ‘recipes’ can be derived from this new research”.
(Plassmann et al.)
Wenn also (in der Marktforschung) über "Neuro" debattiert wird, dann geht es nicht um wegweisende empirische Mafo - Befunde. Um was geht es aber dann?
Das große Versprechen
Es geht um die Möglichkeit durch "neue" neurowissenschaftliche Einsichten und Ansätze Lösungen für drängende Probleme moderner Markenführung zu finden, die "traditionelle" Ansätze nicht bieten. Dieser Anspruch soll hier rekonstruiert und überprüft werden. Dazu diskutiere ich im Folgenden:
- Aus welcher Problemlage sich die "Neurodebatte" in der Marktforschung entwickelt hat;
- welche Theorien und Messinstrumente herangezogen wurden und werden, um einen Zugang zur Lösung dieser Problemlage zu finden;
- ob sich diese Theorien im Laufe der Zeit bewährt haben;
- ob die entwickelten Ansätze wirklich vielversprechende Lösungsvorschläge sind.
Beginnen wir mit der Rekonstruktion der Problemlage, aus der die "Neurodebatte" entstand.
Herbert Krugman und die Effekte von TV Werbung
Mit einigem Recht kann der amerikanische Marktforscher Herbert Krugman als der Pionier moderner Neuroansätze in der Marktforschung gelten. Er verstand Marktforschung als angewandte "biologische" Wissenschaft, war der erste, der das EEG dort einsetzte und führte 1965 den Begriff "Low Involvement" ein.
Sein Ausgangspunkt war die Einsicht, dass - anders als führende Medientheoretiker wie Marshall McLuhan seinerzeit behaupteten - das Medium Fernsehen passiv konsumiert wird.
Dies versuchte Krugman unter Verwendung einer damals populären Theorie der Hirnhälften zu erklären. Diese behauptete man könne ein rational - sequentiell arbeitendes "Sprach-Gehirn" von einem intuitiv - holistisch arbeitenden "Bild-Gehirn" unterscheiden.
TV-Werbung sollte nun nach Krugman die rechte (Bild-)Hirnhälfte ansprechen und zu einer anderen Reizverarbeitung führen als „linkshemisphärische“ Medien (wie etwa Print).
Wollte man die entsprechenden Effekte erfassen, dann musste man richtig messen:
"It is hard to get at right-brain memory with left-brain probes."
(Krugman)
Im Kern sollte also neurologische Einsicht zur Wahl der richtigen Messung verhelfen. Und das wiederum sollte eine angemessene Beurteilung von Werbeeffektivität in der Praxis ermöglichen: Nicht herkömmliche sprachgestützte Befragungen, sondern apparative Verfahren wie das EEG oder die Messung von Augenbewegungen, um ("rechtshemisphärische") Prozesse zu erfassen.
Das "klassische" Verständnis: Konsumentenforschung nach Kroeber-Riel
In Deutschland wurden diese Ideen von Werner Kroeber-Riel (1934 – 1995) weiter entwickelt, was 1975 zu einem "klassischen" Lehrbuch und Verständnis der Konsumentenforschung führte.
Um zu begründen, warum ein Ansatz wie der von Krugman so wichtig war, diskutierte Kroeber-Riel die Probleme von Markenkommunikation in gesättigten Märkten: Dort, so seine zentrale These, werden Bildkommunikation und emotionale Positionierungen immer wichtiger.
Während Krugman und Kroeber-Riel hinsichtlich der Erklärung der Wirkung von Bildern, der Bewertung des Mediums TV und in ihrer Nutzung der Geirnhälftentheorie übereinstimmten, vertiefte der deutsche Forscher den Ansatz aber auch weiter.
Besonders wichtig war dabei die Theorie des aufsteigenden Retikulären Aktivierungssystems (ARAS): Demnach existiert ein System im Hirnstamm, dessen Ansprache durch Reize für die Aktivierung des Gehirns verantwortlich ist und dadurch bestimmt, ob eine passive oder aktive Reizverarbeitung erfolgt.
Die kognitive Interpretation auftretender Aktivierung sollte dann zu "Emotionen" führen [1], auf denen „Motivation“ (= Emotion + Handlungsziel) und "Einstellung" (= Motivation + Gegenstandsbeurteilung) aufbauen.

Kein Wunder, dass das neurophysiologische Konzept der Aktivierung in diesem Ansatz einen sehr zentralen Platz bekam und eigentlich alle wichtigen Variablen auf einen Schlag erfassbar machen sollte:
"(…) psychobiological activation measurements can be used to measure the strength of emotions, motives, and attitudes. These can replace other less valid methods." (Kroeber-Riel)
Zwischenfazit: Was bleibt von den Pionieren?
Sieht man sich diese Ansätze heute an, so wird klar, dass sie sich zum größten Teil nicht bewahrheitet haben: Die Aktivierungstheorie ist überholt. Emotionen werden gerade auch von Neurowissenschaftlern inzwischen ganz anders aufgefasst. Die behaupteten Unterschiede zwischen „linkem“ - und „rechtem“ Gehirn erwiesen sich in dieser Form als falsch.
Insbesondere der Verlust der Aktivierungstheorie wog dabei schwer. Schließlich war sie es, die den Einsatz psychobiologischer Aktivierungsmessung als zentrales Instrument zu begründen vermochte. Brach sie weg, so musste auch die Relevanz solcher Messungen (etwa via EEG) in Frage gestellt werden.
Was bleibt also?
Nimmt man die Agenda der heutigen Diskussion, so wurde das schon von Kroeber-Riel implizit behauptete „Primat der Emotion“ wieder aufgegriffen. (Motivation und Einstellung sollten seiner Theorie zufolge ja auf der Emotion aufbauen.)
Auch das (bei nur passiv verarbeiteter Werbung) unreflektierte Konsumentenverhalten steht weit oben auf der Agenda.
Und last but not least spielt das Interesse, aus den Einsichten der Neurowissenschaften adäquate(re) Messverfahren für die Marktforschung zu entwickeln, wieder eine große Rolle – auch wenn heute nicht mehr über Messungen physiologischer Aktivierung diskutiert wird, sondern über bildgebende Verfahren der Hirnforschung.
Die Agenda der heutigen Diskussion ist also durchaus noch von den Ideen der Pioniere geprägt. Stellt sich nunmehr die Frage, was die neuere Diskussion ihrer Ideen erbracht hat. Wurden Fortschritte gemacht?
Das „Primat der Emotion“ in der neueren Debatte
Die These vom „Vorrang der Emotion“ erfuhr in jüngerer Zeit einige Aufmerksamkeit, wenn auch in einer „engeren“ Auffassung: Während Kroeber-Riel nämlich nur von einer allgemein fundamentalen Bedeutung von Emotionen ausging, wird ihr „Primat“ inzwischen gerne als zeitlicher Vorrang verstanden und ein Gegensatz von Kognition und Emotion konstruiert.
Eine einflussreiche Quelle für diese „engere“ Auffassung sind die Arbeiten von Robert Zajonc (1923 – 2008), einem amerikanischen Sozialpsychologen. Dieser versuchte in experimentellen Studien zu zeigen, wie affektive Reize ohne bewusste kognitive Verarbeitung Einfluss nehmen können.
Dabei konzentrierte er sich auf sehr einfache und spontane Bewertungen [2]. "Preferences need no inferences", so behauptete er. In den 80igern wurden seine Ideen in der Konsumentenforschung aufgegriffen und auch mit neurowissenschaftlichen Methoden untersucht.
Eine zweite prominente Quelle ist das einflussreiche Buch „The Emotional Brain“ des Neurowissenschaftlers Joseph LeDoux. Dort schildert er, warum die Theorie des „limbischen Systems“ überholt ist. Unter anderem hatte diese nämlich behauptet, Emotion und Kognition gingen im Gehirn getrennte Wege. LeDoux fand durch Untersuchung von Furcht im Rattenhirn aber eine umfangreiche Verschaltung von Emotion und Kognition, innerhalb derer der sog. „Mandelkern“ (Amygdala) eine zentrale Rolle spielt.
Er unterschied zwei neuronale Pfade: Eine „low road“, auf der oberflächlich analysierte Reize eine schnelle affektive Reaktion auslösen, und eine langsame „high road“, auf der eine differenzierte kognitive Analyse statt findet. Affekte sind schneller als Kognition, so wurde diese Einsicht verallgemeinert.
Ein dritter wichtiger Einfluss ist eine (inzwischen berühmte) Studie der Gruppe um den Neurowissenschaftler Antonio Damasio, die in einem Experiment Entscheidungen bei einem Gewinnspiel untersuchte. Zentral für die spätere Diskussion war dabei das Ergebnis, dass für die getroffenen Entscheidungen der Probanden rationale Prozesse keine Rolle spielten. Stattdessen sollten sie auf emotionalen Einflüssen basieren.
Obwohl Damasio selbst eine durchaus kognitive Emotionstheorie vertritt, wurde auch dieses Ergebnis oft so verstanden, dass Emotionen den Kognitionen vorausgehen und die letzteren nur eine Art von Rationalisierung der durch die Emotion gesetzten Entscheidung darstellen [3].
Aber stimmt diese „enge“ Version des Primats der Emotion auch?
Die Debatte um Kognition und Emotion
Die von Zajonc vertretene These wurde vor allem von dem amerikanischen Psychologen Richard Lazarus (1922 - 2002) heftig kritisiert. Daraus entwickelte sich eine umfassende Debatte in der Psychologie: Sind Affekte / Emotionen zuerst da – oder kommen Kognitionen zuerst?
In der Summe ergab diese Diskussion, dass die Frage so zu einfach gestellt ist: Manchmal kann eine Kognition die Emotion auslösen („Oh, schon 17.00 Uhr – ich komme zu spät zu meinem Termin!“), manchmal kann aber auch ein Affekt der Kognition vorausgehen.
Außerdem stellen Emotionen einen Prozess dar. Dadurch verliert die Frage nach der zeitlichen Abfolge an Relevanz. Im Prozess kann nämlich eine „spätere“ Kognition den früheren Affekt „überstimmen“ – oder umgekehrt.
Und schließlich werden Kognitionen oft Teil der Emotion („Die bringen mich um, wenn ich wieder zu spät bin!“) und die Grenze zwischen Emotion und Kognition verschwimmt.
Neben den Ergebnissen aus der Psychologie sprechen auch neurowissenschaftliche Befunde derzeit gegen Zajonc (und auch LeDoux), wie einer der führenden Emotionspsychologen unserer Tage zusammenfasst:
„Contrary to what Zajonc argued, affect does not precede cognition. Reaction time data show memory decisions to be faster than affective decisions. As Storbeck and Robinson conclude from an extensive review of neuroscience data an elaborate cascade of cognitive processes occurs prior to differential amygdala activation (…).”
(Frijda)
Bezüglich der Arbeiten von LeDoux bleibt dabei noch anzumerken, dass Furcht gerade für die Marktforschung ein schlechtes Modell für Emotionen ist. Sie beinhaltet nämlich das Meiden eines Reizes und nicht die Exploration und Annäherung. Letztendlich sind Exploration und Annäherung aber das eigentliche Ziel von Marketingaktivitäten - schließlich sollen Marken ja gekauft und nicht gemieden werden!
Auch die Studie der Damasio - Gruppe wird inzwischen kritisiert. So gelang es den beiden Psychologen Tiago Maja und John McClelland in einer Wiederholung der Studie einen Einfluss von Kognitionen auf die im Experiment gefällten Entscheidungen nachzuweisen.
Zudem zeigte eine Untersuchung an der Harvard University, dass sich die Befunde der Damasio-Gruppe vermutlich nicht durch die von Damasio behaupteten „somatischen Marker“ erklären lassen, sondern durch eine Einschränkung der Fähigkeit Umzulernen (erneut eine eher kognitive Variable).
Schlussendlich wird man der „verengten“ These vom Primat der Emotion also nicht folgen können.
Welche Vorteile eine weniger eingeschränkte Auffassung von Emotionen bietet, hat Nico Frijda jüngst noch einmal betont:
„One of the main functions of emotion awareness may precisely be to enable action when no automatic action (…) is available. That is, it recruits and enables controlled processing. (…) There is unlikely to be much striving for distant objects, even if within sight, if there is no affect drawing that striving, if there is no felt incentive value that draws.”
Gegensätzliche Auffassungen von Emotionen:
- Reaktion auf vorhandenen Reiz - Ausrichtung auf erwünschtes Ziel
- Bedeutung wird „ausgelöst“ - Bedeutung wird erschlossen
- Erster Eindruck zählt - Gesamteindruck zählt
- Reiz steuert Reaktion - Persönliche Belange steuern Reaktion
- Gegensatz von Affekt und Kognition - Kognition ist Teil der Emotion
Interessanterweise sind genau die Punkte die Frijda hier betont für Markenkommunikation ganz wesentlich! Schließlich stehen für den Umgang mit Marken keine Reflexe zur Verfügung. Und natürlich sollen sie auch so attraktiv gemacht werden, dass Konsumenten mehr über sie lernen wollen und ihren Erwerb aktiv anstreben.
Die Diskussion der Relevanz eines automatisierten und reizgesteuerten Verhaltens für das Marketing spielt nun auch bei der zweiten Idee der Pioniere – der Relevanz unreflektierten Verhaltens – eine zentrale Rolle [4]. Der Diskussion dieser Idee wenden wir uns nun zu.
Die Erfassung unreflektierten Verhaltens der Konsumenten
Um die Wichtigkeit unreflektierten Verhaltens zu unterstreichen wird in der neueren Diskussion gerne das Argument vorgebracht, die Neurowissenschaften hätten gezeigt, dass 90% des menschlichen Verhaltens „unbewusst“ seien. Höhere mentale Prozesse, so deutet man dieses Ergebnis gelegentlich, seien daher nicht wirklich relevant.
Dieses Argument beruht aber auf dem Fehlschluss von der Quantität auf die Relevanz, wie das folgende Gedankenexperiment verdeutlicht: Man stelle sich ein größeres Unternehmen vor, sagen wir mit 10.000 Mitarbeitern, und nun alle Entscheidungen, die in diesem Unternehmen getroffen werden (bis hin zur Raumpflegerin, die entscheidet den Mülleimer jetzt nicht zu leeren). Wie viele dieser Entscheidungen trifft der CEO? Und sind diese aufgrund ihres geringen prozentualen Anteils wirklich irrelevant? Wie man sieht, folgt das eine schlicht nicht aus dem anderen.
Natürlich bedeutet diese Einsicht nicht, die Erfassung „unterschwelliger“, „unbewusster“ oder „impliziter“ Einflüsse sei kein lohnendes Objekt der Marktforschung. Sie macht aber klar, dass man die Relevanz dieser Prozesse empirisch angehen muss und in ihrer jeweiligen Tragweite jeweils konkret zu klären hat.
Dass man dies kann, zeigen die inzwischen auch in der Marktforschung verwendeten Verfahren zur Messung sog. „impliziter“ (d.h. unbewusster) Einstellungen. Letztere können nämlich, wie man inzwischen weiß, selbst komplexe Verhaltensabläufe unbemerkt auslösen und sogar steuern.
Die Messung sog. „impliziter Einstellungen“ basiert dabei im Kern auf Reaktionszeiten: Je stärker bestimmte Inhalte (Begriffe, Wertungen) assoziiert sind, desto schneller sollten Probanden sie miteinander verknüpfen können. Durch Messung der Reaktionszeit kann so die Stärke der Assoziation ermittelt werden. Eine besonders beliebte Variante ist dabei der Implicit Attitude Test (IAT). Er misst die Reaktionszeit der Zuordnung von positiv-negativ Attributen zu Zielreizen (z.B. einer Marke).
Zwar liegt die Messgenauigkeit (Reliabilität) der impliziten Verfahren unter der Genauigkeit klassischer Einstellungsmessungen. Es zeigt sich jedoch auch, dass die Messung unter bestimmten Bedingungen bessere Vorhersagen des Verhaltens machen als die Erfassung expliziter Einstellungen oder Aussagen.
Eine Erklärung dafür ist, dass die Messsituation in diesen Fällen der realen Verhaltenssituation ähnelt: Wer in der Kaufsituation nicht nachdenkt, der sollte auch in der Messsituation nicht dazu gebracht werden, weil dann in beiden Fällen die gleichen Prozesse zum Tragen kommen.
WAS mit Verfahren wie dem IAT aber eigentlich gemessen wird, ist derzeit sehr umstritten: Sind es wirklich Einstellungen oder bloß Assoziationen? Diese Frage ist nicht ganz so belanglos, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Das verdeutlicht das folgende Zitat zweier führender Einstellungsforscher aus der Debatte um sog. „implizite Einstellungen“:
“Indeed people have been known to die in support of their explicit attitudes, but to
date there is no evidence that people are willing to passionately defend their
unendorsed automatic associations.”
(Petty & Brinol)
Wirkliche Bindung von Konsumenten an eine Marke ist demnach nur durch explizite (also: bewusst zugängliche) Einstellungen zu erreichen, umso mehr, da diese auch eher handlungsleitend wirken und schwerer zu verändern sind. Wer also eine starke Marke möchte, der muss auf explizite Einstellungen setzen.
Und dies gilt auch, weil für die Enkodierung von Inhalten im Langzeitgedächtnis - also beispielsweise das Erlernen der Positionierung einer Marke - Aufmerksamkeit notwendig ist.
Beides bedeutet aber nicht, dass nicht auch „implizite“ Prozesse das Verhalten in Kaufsituationen beeinflussen können: Handelt es sich um Produkte, über die wenig nachgedacht wird, Einkauf unter Zeitdruck oder spielen automatisierte Einkaufsroutinen eine große Rolle, dann können „implizite“ Prozesse durchaus wichtig werden.
Aber Achtung: Die „impliziten Einstellungen“ müssen der „expliziten Einstellung“ dabei nicht zwangsläufig widersprechen - wie etwa wenn ein Konsument unter Zeitdruck seine Lieblingsmarke kauft, von der er genau weiß, wo sie steht!
In solchen Fällen bringt die Messung „impliziter“ Einstellungen dann keinen Erkenntnisgewinn. Erst dort, wo der Konsument „explizit“ etwas anderes tun würde als „implizit“, wird die Messung von beidem wirklich interessant – wenn man zusätzlich auch weiß, welche der beiden Variablen für den Kauf die entscheidende Rolle spielt!
Unter bestimmten Bedingungen kann die Erfassung „impliziter Einstellungen“ also Sinn machen. Ähnlich wie schon in der Diskussion der Emotionsdebatte ist allerdings auch hier die Schaffung starker Marken an andere, „höhere“ Prozesse gebunden.
Kommen wir zum dritten Punkt auf der Agenda, den bildgebenden Verfahren.
„Blick ins Gehirn“?
Inzwischen ist nun das Methodenspektrum auch durch „bildgebende Verfahren“ aus der Hirnforschung erweitert worden FußN_5. Derzeit nur begrenzt verfügbar, teuer und für den Laien kaum zu verstehen, geben sie doch zu Hoffnungen Anlass. Ihren Ausdruck finden diese in dem gern verwendeten Slogan vom „Blick ins Gehirn“.
Eine Vorstellung dahinter ist, man könne Täuschungsversuche der Probanden und soziale Einflüsse ausschalten, wie das folgende Zitat zweier einflussreicher Marketing-Forscher zeigt:
„Unlike, for example, questionnaire data, neuroimagining data are much less susceptible to demand characteristics or social desirability. We are not able to control activation within a given brain area”.
(Mast & Zaltman)
Wie neuere Erfahrungen mit Hirnimplantaten und Gehirn-Computer-Interfaces belegen, ist diese Behauptung aber möglicherweise nicht richtig. Probanden (gelegentlich auch Affen) mit solchen Implantaten beeinflussen nämlich willentlich, was in ihrem Gehirn passiert, um beispielsweise bestimmte Maschinen zu steuern.
Außerdem ist zu berücksichtigen, dass der Einsatz von Geräten wie dem PET oder fMRI den Probanden einiges abverlangt. Dazu gehören die Einnahme von Chemikalien oder die Platzierung in einer engen Röhre bei großer Lärmentwicklung (vgl. Tabelle weiter unten).
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Neuere Verfahren der Hirnforschung
Im Wesentlichen werden zwei verschieden Vorgehensweisen verwendet: Die Messung elektromagnetischer Veränderungen im Gehirn und solche des Energiestoffwechsels.
Funktionale Magnet Resonanz Messung (fMRI): Der Energieverbrauch bei neuronaler Aktivität führt zu einer Veränderung des lokalen zerebralen Blutflusses. Das kann gemessen und ausgewertet werden. Die dabei auffallenden Veränderungen werden dann vor dem Hintergrund der jeweils gegebenen experimentellen Anforderung gedeutet: Wenn z.B. eine Marke erkannt wurde und in einem bestimmten Areal hohe Aktivität auftritt, dann sollte diese Aktivität zeigen, wo im Gehirn die Informationsverarbeitung stattfand.
Positronen Emissions Tomographie (PET): Hier wird ein radioaktives Pharmazeutikum verabreicht, das der für den Energiestoffwechsel des Gehirns wichtigen Glucose gleicht. Der chemische Zerfall dieses Stoffes kann beobachtet werden und erlaubt dann Rückschlüsse auf den Energiestoffwechsel im Gehirn.
Magnetencephalographie (MEG): Dieses Verfahren misst das durch die kohärente Aktivität von Neuronen entstehende Magnetfeld.
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Und auch der gelegentlich erweckte Eindruck, man sehe mit den neuen Verfahren irgendwie „direkt“ ins Gehirn, ist trügerisch, bedenkt man, was alles an physikalischer und medizinischer Theorie in den Messungen steckt!
Die Interpretation entsprechender Daten umfasst die Messwerte auf Hirnkarten richtig zu verorten, unterschiedliche „Stärken“ von Hirn-Aktivierung (durch statistische Verfahren) zu bestimmen, die teilweise notwendige Definition einer „Nulllinie“, gegen die gemessen wird (in einem Gehirn, das niemals „still“ ist) u.a.m.. Da der Einsatz sehr teuer ist, sind zudem die Stichproben oft sehr klein.

Die neurowissenschaftliche Erforschung der Anreizmotivation
Wo Chancen und Grenzen dessen liegen sei am Beispiel der Anreizmotivation kurz verdeutlicht: Die Mechanismen der hieran beteiligten und inzwischen gut lokalisierten Strukturen des mesolimbischen dopaminergen Systems konnten in Tierexperimenten geklärt werden. Demnach gibt es Neuronen, die so etwas wie Erfolgserwartungen (etwa bzgl. einer als attraktiv wahrgenommenen Marke) aufbauen und qua „Fehlermessung“ (Abweichung der Erwartung von der tatsächlich erzielten Belohnung) kontrollieren.
Als zentraler Botenstoff des Systems wurde Dopamin identifiziert. Aufgrund von Studien an Parkinson Patienten wurde zudem die Rolle von Dopamin mit der Handlungsplanung und der Auslösung von Handlungen in Verbindung gebracht – d.h. also der Frage, wann eine attraktive Handlungsmöglichkeit (Konsumtion der Marke) auch umgesetzt wird (Kauf der Marke).
Bildgebende Verfahren zeigten dann, dass z.B. bei attraktiven Marken und Produkten tatsächlich Hirnareale aktiv werden, die zu diesem Anreizsystem gehören.
Nun erlaubt die Identifikation des „Ortes im Gehirn“ durch „bildgebende“ Verfahren so zwar ein bestimmtes Verhalten in Teilen neuronal zu erklären – dies führt aber noch nicht an das wirkliche Hauptziel der Konsumentenforschung in der Praxis heran: Die Konsumenten in ihrem Erleben und Handeln „im Markt“ zu verstehen, um so die eigenen Marketingaktivitäten erfolgreich auf sie ausrichten zu können.
Warum das so ist, lässt sich unter Verwendung des sog. Multilevel-Ansatzes („doctrin of multilevel analysis“) von John Cacioppo und Gary Berntson gut verdeutlichen.
Nehmen wir dazu als Beispiel eine luxuriöse Automarke: Spricht sie Konsumenten an, so sollte das mesolimbische dopaminerge System im Gehirn dieser Menschen darauf reagieren. Dies kann nun aber aus ganz verschiedenen Gründen so sein: Das Auto als Statussymbol, mit dem sich die soziale Stellung dokumentieren lässt, das elegante Design, die moderne Technik oder die durch den Wagen gegebene Sicherheit im Straßenverkehr.
Cacioppo und Berntson bezeichnen dies als „multiple Determination“: Ein bestimmter Effekt kann auf verschiedene Weisen bedingt sein.
Diese sind dann auf verschiedenen Analyseebenen zu rekonstruieren. Im Beispiel sind dies die soziale (Statussymbol) und die persönliche (Ästhetik, Sicherheitsbedürfnis) Ebene.
Aus der „multiplen Determination“ ergibt sich unter Berücksichtigung dieser Ebenen der „nicht – additive Determinismus“: Man kann aus bestimmten Vorgängen auf der Ebene des dopaminergen Systems nicht auf die Ursachen auf der persönlichen oder sozialen Ebene schließen. Ob Statusgründe wirken, die Ästhetik den Ausschlag gibt oder das Sicherheitsbedürfnis – alles dieses führt dort ja zum gleichen Resultat.
Und: die unterschiedlichen Ebenen beeinflussen sich gegenseitig – ein Sachverhalt, den die beiden Wissenschaftler als „reziproken Determinismus“ bezeichnen.
Hat man sich dies einmal verdeutlicht, dann wird schnell klar, dass die Aufklärung neuronaler Verursachungen allein nicht ausreicht [6] um Fragen der Marktforschung zu klären. Wieder am Beispiel: Aus Marketingsicht muss schließlich analysiert werden, ob Statusgründe den Ausschlag geben oder Ästhetik und Technik, um zu wissen wie Konsumenten die Marke verstehen und was daran sie zum Kauf bewegt. Der Hinweis auf den generellen neuronalen Mechanismus reicht hier nicht aus.
Daher müssen „höhere“ Analyseebenen einbezogen werden, auf denen traditionelle Methoden dann in ihrem Element sind. Neuroforschung sollte dementsprechend also durch traditionelle Methoden ergänzt werden. Die Diskussion, wie dies geschehen kann, steht aus.
Fazit
Machen wir am Ende dieses Überblicks nun die Rubriken „Soll“ & „Haben“ auf und versuchen eine Bilanz. Beginnen wir mit dem „Haben“.
Auf der „Haben – Seite“ steht ein inzwischen gut entwickeltes Problembewusstsein für die Herausforderungen, denen sich Werbung in gesättigten Märkten zu stellen hat. Hierzu haben nicht zuletzt die Pioniere der „Neurodiskussion“ beigetragen, weil sie „traditionelle“ Ansätze innovativ in Frage stellten.
Auch die Suche nach innovativen neuen Methoden, wie seinerzeit dem EGG, heute dem IAT oder den bildgebenden Verfahren, darf man getrost unter „Haben“ verbuchen. Dass dabei aufgrund der Erfahrungen mit Methoden wie dem IAT auch automatisierte Verhaltensweisen und ihre Bedeutung wieder in den Blick geraten und empirisch erforscht werden können, ist sicherlich ein weiteres Verdienst.
Verdienstvoll ist auch das durch Neurowissenschaftler erarbeitete Verständnis der neuronalen Mechanismen der Anreizmotivation – selbst wenn hierdurch bisherige Einsichten aus der Psychologie nur bestätigt und nicht über den Haufen geworfen wurden [7].
Mit den bildgebenden Verfahren eröffnen sich schließlich neue Möglichkeiten wirklich grundlegende Fragen zu stellen (vgl. Fußnote 6), die dazu führen könnten, dass manche Dinge in der Marktforschung anders verstanden werden müssen. Hier darf man gespannt sein – und so gehört auch dies unter „Haben“.
Kommen wir nun aber zum „Soll“: Hier ist vorrangig ein kritischerer Umgang mit „neuen“ Erkenntnissen aus der Neurowissenschaft einzuklagen. Die „enge“ Deutung des „Primats der Emotion“ und die Deutung von Messinstrumenten wie dem IAT sind hier gute Beispiele. In beiden Fällen wird unter Berufung auf „Neuro“ eine einseitige Auffassung verbreitet: Emotion als schnelle affektive Reaktion hie - Fixierung auf unterschwellig und unbewusst ablaufendes Verhalten da.
In beiden Fällen verhindert dies dann den Blick (und die Untersuchung?) gerade derjenigen Prozesse, die Marken wirklich stark machen. Dadurch gerät auch der Konsument mit seinen Wünschen und Zielen aus dem Blick, weil man zu sehr auf reizgesteuertes Verhalten fokussiert. Das ist zwar bei bestimmten Fragestellungen sinnvoll, für die Schaffung starker Marken aber nicht ausreichend.
Darüber hinaus ist der produktive Einsatz bildgebender Verfahren an die Einbettung dieser Forschung in andere Forschungsansätze gebunden (Multiebenenanalyse). Natürlich ist das kein spezifisches Problem der Neurowissenschaften. Es taucht hier aber unter „Soll“ auf, weil Diskussionen dieser Sachlage in der Marktforschung so gut wie nicht geführt werden.
Das führt abschließend zu den folgenden drei Desideraten:
Erstens sollte die Debatte nicht länger auf unbewusste oder automatische Prozesse fokussieren. „Neuro“ ist nicht gleich „Low Involvement“!
Zweitens sollte die Debatte konsequent auf Erkenntnisse für die Schaffung starker Marken ausgerichtet werden (die die kritisierte eben genannte Engeführung verdeckt).
Drittens sollte die Diskussion begonnen werden, wie der Einsatz neurowissenschaftlicher Verfahren mit Erklärungen auf anderen Analysebenen verbunden werden kann.
Es bleibt also schwierig. Aber das sollte niemanden wundern. Denn: „Der Kopf ist mit das Komplizierteste, was es im Leben gibt“ (Mathias Sammer).
[1] Um dies am Beispiel zu verdeutlichen: Wenn ein Mensch bei Betrachtung eines TV-Thrillers physiologische Aktivierung erlebt (z.B. schnelleren Herzschlag) und dies auf den Film zurückführt, dann soll demnach eine Emotion auftreten (erlebte „Spannung“).
[2] Streng genommen untersuchte Zajonc einfache „affektive“ Reaktionen. Diese sollte man von den komplexeren „Emotionen“ unterscheiden. Leider geschieht dies aber nur selten. Aus diesem Grund wird Zajonc ebenso wie LeDoux unter der Überschrift „Primat der Emotion“ diskutiert.
[3] Ein prominentes Beispiel aus der Marktforschung ist Eric Du Plessis in seinem 2005 veröffentlichten Buch: The Advertised Mind: Groundbreaking Insights into How Our Brains Responds to Advertisig. Eine kurze Darstellung der Diskussion findet sich in Franzen G. & Gordon W. 2001: The Mental World of Brands.
[4] Es ist vielleicht erwähnenswert, dass die verschiedenen Diskussionsstränge innerhalb der Debatte auch zu gegensätzlichen Aussagen führen. So hat Robert Heath (Herbert Krugman folgend) behauptet, emotionale Werbung führe zu weniger Aufmerksamkeit und Eric Du Plessis (gestützt auf seine Interpretation von LeDoux und Dmasio) genau dies vehement bestritten.
[5] Ein einflussreiche und gute Darstellung bildgebender Verfahren und ihrer Möglichkeiten geben Posner M. & Raichle M. in ihrem preisgekrönten Buch: Images of the Mind.
[6] Tatsächlich kann der „Ort“ im Gehirn durchaus auch interessant sein. Dies zeigt die Untersuchung von Carolyn Yoon et al., bei der geprüft wurde, ob Markenwahrnehmung und Personenwahrnehmung in den gleichen Bereichen des Gehirns statt findet, was die diversen Theorien der „Markenpersönlichkeit“ gestützt hätte. Die Forscher fanden dann aber, dass dies nicht der Fall ist. Es kann also interessant sein, den „Ort“ zu kennen- der Regelfall ist dies allerdings nicht!
[7] Das Verhalten der Neuronen des dopaminergen Systems entspricht sehr genau einer von den Psychologen Rescorla & Wagner bereits 1972 entwickelten Theorie.
Weitere Informationen zum Unternehmen auf marktforschung.de:

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