Simon Bieling, Social Media-Experte Die neue Öffentlichkeit des Konsums: Sechs Thesen, welche Erkenntnisse Instagram, Pinterest & Co. der Marktforschung liefern können

Vor etwa zehn Jahren ereignete sich eine wichtige historische Zäsur: Unternehmen und Agenturen verloren die volle Kontrolle darüber, wie Marken und Produkte visuell in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Ende der 2000er Jahre begannen immer mehr Konsumentinnen und Konsumenten, eigene Bilder von Marken und Produkten auf Social Media-Plattformen zu veröffentlichen. Heute haben ihre Bildwelten einen großen Einfluss auf das öffentliche Image von Marken und Produkten. Privater Konsum hat in Fotos und Videos auf Facebook, Instagram, Snapchat & Co. eine neue, visuelle Öffentlichkeit gefunden.

Simon Bieling

Simon Bieling, Foto: privat

1. Bilder haben in Social Media eine zentrale Bedeutung.

Anderen in Bildern seinen Konsum zu zeigen, hat sich fest im Alltag von Konsumentinnen und Konsumenten etabliert. Das liegt auch an den Social Media-Plattformen selbst. Angebote, die von Bildern dominiert werden, können derzeit ihre Reichweite stärker als andere Plattformen steigern. Instagram und Pinterest verzeichnen im Vergleich höhere Wachstumszahlen: Bei Instagram stieg die Zahl der Nutzer im letzten Jahr um 23,8 Prozent, bei Pinterest seit Oktober 2016 um mehr als 20 Prozent. Aber auch auf Facebook und Twitter spielen Bilder längst eine entscheidende Rolle. Status-Updates und Tweets, die mit Bildern versehen sind, erreichen signifikant höhere Interaktionsraten. Wenn Konsumentinnen und Konsumenten sich über ihren Alltag mit Marken und Produkte in den Social Media austauschen, greifen sie deshalb immer stärker auf Bilder zurück.

2. Die Bildwelten aus Social Media-Kanälen sind eine neue, wichtige Quelle für die Marktforschung.

Die Marktforschung hat mit den Bilderwelten von Social Media eine wichtige neue Quelle hinzugewonnen. Social Media-Bildwelten, gleich auf welcher Plattform, stehen unter einem hohen Aktualisierungsdruck. Kulturelle Veränderungen werden in ihnen daher häufig frühzeitig sichtbar. Nehmen zum Beispiel viele Wandern nicht mehr nur als Erholung, sondern verstärkt auch als Möglichkeit wahr, ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, wird man dazu auf Instagram frühzeitig entsprechende Fotografien finden.

Neben aktuellen Themen gesellschaftlichen Wandels können die neuen Bildwelten des Konsums aber auch Einsichten in die Handlungskontexte bieten, in die Konsumentinnen und Konsumenten Produkte und Marken einbetten. Wie Konsumentinnen und Konsumenten Alltagstätigkeiten genau gestalten, welche Gesten, Skills und Kenntnisse, welche Ideale, Werte und Fiktionen sie also mit ihnen verbinden, das lässt sich aus diesen Bildern hervorragend ableiten. So lässt sich zum Beispiel beobachten, ob Foodmarken wie Landliebe oder Müllermilch ihren festen Platz an einem Fernsehabend haben und mit welchen Serien sie besonders gut harmonieren. Und: Mit ihrer Hilfe lässt sich auch besser verstehen, wie Stil die Präferenzen von Konsumentinnen und Konsumenten für bestimmte Marken und Produkte beeinflusst. Design ist längst ein wichtiger Erfolgsfaktor für viele Branchen geworden. Was Konsumentinnen und Konsumenten im Rucksack oder in der Handtasche etwa mit sich führen, von Smartphone, Buch bis zum Geldbeutel, bildet nicht zuletzt oft auch eine optische Stileinheit unabhängig vom praktischen Nutzen.

3. Ein sorgfältig zusammengestellter Bilderkorpus ist unverzichtbar, um Social-Media-Bildwelten erkenntisreich auswerten zu können.

Um Social Media-Bildwelten als Quelle nutzen zu können, genügt kaum ein einfaches quantitatives Monitoring von Social Media-Postings, das lediglich registriert, was Nutzerinnen und Nutzer veröffentlichen. Nur ein methodisches Vorgehen, das auf die jeweilige spezifische Fragestellung einer Studie individuell abgestimmt ist, kann gut begründete Erkenntnisse sichern. Unverzichtbar ist zunächst, einen gut abgegrenzten Bilderkorpus nach klaren Kriterien zusammen­zustellen, der die jeweilige Studie auf eine solide Grundlage stellt. Selbstverständlich sind dabei Aufnahmen kategorisch auszuschließen, die von Influencern stammen, welche im Auftrag bestimmter Marken und Produkte in Szene gesetzt werden.

So kommt man nicht umhin, vor dem Beginn einer größeren Untersuchung eine Reihe von wichtigen Fragen sorgfältig zu beantworten: Welche Keywords und Hashtags sind für das jeweilige Forschungsinteresse, die jeweilige Marke, ein Produkt oder eine Zielgruppe besonders relevant? Welcher Beobachtungszeitraum ist nötig, um tragfähige Erkenntnisse liefern zu können und saisonale Besonderheiten auszuschließen? Welche geografischen und demografischen Einschränkungen müssen getroffen werden? Welche Plattformen und welche einzelnen Accounts und Profile, welche charakteristischen Bildwelten sind für eine Forschungsfrage besonders wichtig? Auf Grundlage dieser Fragen kann ein Bilderkorpus zusammengestellt werden, der auf die jeweilige Fragestellung präzise abgestimmt ist.

Wer beispielsweise größere Einsichten darüber gewinnen möchte, wie eine bestimmte Möbelmarke wahrgenommen wird, sollte Sorge tragen, genügend Aufnahmen von Küchenmöbeln, Bücherregalen oder Sofas zu berücksichtigen, in denen Möbel eines direkten Wettbewerbers abgebildet sind. Andernfalls wird man kaum begründete Aussagen darüber treffen können, wie spezifisch eine Bilddarstellung für die jeweilige Marke ist.

4. Social Media-Bildanalysen basieren darauf, die zentralen Bildmuster zu identifizieren, an denen sich Konsumentinnen und Konsumenten orientieren.

Im nächsten Schritt wird man innerhalb des Korpus zentrale Bildmuster identifizieren, an denen sich die Nutzerinnen und Nutzer besonders orientieren. Es gehört zu den entscheidenden Besonderheiten von Social Media-Bildwelten, dass Nutzerinnen und Nutzer der Gestaltung der Fotografien vernetzt in größeren sozialen Zusammenhängen gemeinsam nachgehen. So entstehen auf den Plattformen für die meisten Situationen, Themen und Bildsujets feststehende Bildmuster, welche Nutzerinnen und Nutzern gemeinsam entwerfen. Wenn es darum geht, zu entscheiden, aus welcher Perspektive sie fotografieren, welche Bildkomposition sie wählen und welche Gegenstände sie etwa beim Frühstück, beim Wandern oder in der Arbeitspause zeigen möchten, orientieren sie sich an fest etablierten Bildmustern. Sie eignen sie sich für ihre Zwecke an, aber erweitern sie stellenweise auch.

5. Wie Menschen mit ihrem Besitz umgehen, lässt sich an Social Media-Bildern ablesen.

Die nähere Analyse der Bildmuster kann dann in der Folge wichtige Erkenntnisse liefern. Das Spektrum möglicher Forschungsfragen ist dabei sehr weit: Zum Beispiel lässt sich in Social Media-Bildwelten viel darüber erfahren, wie Konsumentinnen und Konsumenten ihren Besitz bewusst gestalten. Sie nutzen Social Media-Plattformen regelmäßig, um Neuanschaffungen in Szene setzen. Der Neuerwerb von Smartphones, Fernsehern, Möbeln oder auch die größere Anschaffung eines Autos werden heute häufig über einschlägige Bildmuster öffentlich gemacht. So können Social Media-Bildanalysen wichtige Erkenntnisse darüber liefern, worauf Konsumentinnen und Konsumenten beim Erwerb neuer Produkte Wert legen.

Welche Unterschiede Konsumentinnen und Konsumenten zwischen Online-Retailing und lokalem Einzelhandel sehen, lässt sich etwa daran festmachen, wie verschieden sie jeweils Einkaufstüten und Pakete in Bildmustern in Szene setzen. Ebenso einsichtsreich erweist sich die Analyse der Social Media-Bildwelten, wenn man sich Erkenntnisse darüber erhofft, welche Designmerkmale beim Packaging, aber auch beim Design der Produkte selbst für die Initiation neuer Produkte in ihren Besitz für sie besonders entscheidend sind.

Auch in welchem größeren Umfeld anderer Marken und Produkte Konsumentinnen und Konsumenten einen Artikel sehen, lässt sich über die Analyse der Social Media-Bildwelten näher beantworten. Konsumentinnen und Konsumenten, welche die Portale benutzen, haben zahlreiche Bildmuster entwickelt, die sichtbar machen, welche Marken- und Produktensembles in ihrem Besitz sie für besonders wichtig erachten. Eine Reihe von Bildmustern beschäftigen sich so etwa damit, auf welche Gegenstände sie auf einer Reise oder während eines längeren Arbeitstags nicht verzichten möchten.

Ob Konsumentinnen und Konsumenten sich besonders schnell von bestimmten Produkten trennen oder sogar besonders lange in ihrem Besitz belassen, hat häufig erheblichen Einfluss darauf, wie sie bestimmte Produkte und Marken wahrnehmen. Viele bewahren etwa Mobiltelefone bedeutend länger auf, als sie sie überhaupt verwenden, und legen sie nebeneinander, um sie zu dokumentieren. An solchen Fotografien wird deutlich, wie stark sie für sie als Erinnerungsträger fungieren.

6. Ob Mobilität, Arbeit oder Entspannung: Die Analyse von Social Media-Bildanalysen liefert Einsichten in viele wichtige Handlungskontexte des Alltags.

Vor allem jedoch, wenn es darum geht, Handlungskontexte tiefer zu verstehen, in denen Marken und Produkte eingebettet sind, erweisen sich tiefere Analysen der Social Media-Bildwelten als erstaunlich informativ. Wenn sie anderen zeigen, welchen Tätigkeiten sie im Alltag nachgehen, greifen Konsumentinnen und Konsumenten auf eine Vielzahl von Bildmustern zurück, mit denen sie ihren Umgang mit Produkten sichtbar machen. Sie können äußerst informativ dafür sein, welche Marken und Produkte bei bestimmten Alltagshandlungen, Erlebnissen oder Situationen Verwendung finden. Ebenso lässt sich über sie nachvollziehen, mit welchen Orten Marken und Produkte in Handlungskontexten dabei assoziiert werden. Die Auswertung der begleitenden Textlegenden und Hashtags wiederum kann Hinweise darüber liefern, welche weiteren Bedeutungen, Ideale oder Werte Konsumentinnen und Konsumenten dabei aktivieren.

Oft bedeutet es für Unternehmen eine besondere Herausforderung, noch starke Differenzmerkmale zu finden, die Marken und Produkten erkennbar positionieren können. Und gerade an Bildmustern, die Handlungskontexte sichtbar machen, lässt sich überprüfen, ob Konsumentinnen und Konsumenten sie im Alltag austauschbar einsetzen und sie durchaus unterschiedlich betrachten. Sie können Hinweise darauf geben, welche Differenzmerkmale Konsumentinnen und Konsumenten tatsächlich für wesentlich und welche sie für nachrangig erachten.

Das gilt für die meisten wichtigen Branchen: Ob es sich um Wohnen und Einrichtung, Mobilität, Food und Beverage, Sport und Freizeittätigkeiten, Tourismus, die Arbeitswelt, Schlaf und Erholung, Beauty oder die Rezeption von Fernsehserien und Büchern handelt, für jede dieser Bereiche ist eine neue Bildöffentlichkeit mit eigenen Mustern entstanden. Wenn lang eingeführte Tätigkeiten Veränderungen erfahren, wie etwa das Autofahren, dann bildet sich dies auch in neuen Bildwelten ab. Wie Menschen ihr Verhältnis zur Arbeit gestalten, wird in Aufnahmen ihrer Schreibtische und Arbeitssituationen kenntlich. Wie sie ihre Tage nicht zuletzt mithilfe von Foodmarken strukturieren, findet nicht selten in einer Fotografie seinen Niederschlag. Und selbst der Rückzug in die eigenen vier Wände zur Entspannung kennt seine eigenen Bildmuster.

Social Media-Bildanalysen können daher andere Forschungstools der Marktforschung bestens ergänzen: Besonders dann, wenn Einblicke in konkrete Handlungskontexte von besonderem Interesse sind, bieten die Bildwelten der Social Media ganz hervorragende Erkenntnismöglichkeiten. In einer stark visuell geprägten Gesellschaft können sie uns dabei helfen, differenzierter darüber nachzudenken, was Menschen mit Marken und Produkten tun.

Zum Autor

Simon Bieling schreibt über unseren Umgang mit Alltagsgegenständen, über Marken und Produkte und die Bilderwelten der Social Media. Vor Kurzem ist sein Buch "Konsum zeigen. Die neue Öffentlichkeit von Konsumprodukten auf Instagram, Flickr und Tumblr" erschienen – eine Studie über die neuen Bildwelten des Konsums in den Social Media.

 

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