“Die Möglichkeiten sind unendlich groß“

Seit zwei Jahren setzt das Hamburger Marktforschungsinstitut Ipsos Virtual Reality (VR) in seinen Studien ein. marktforschung.de sprach mit Lars Riemer und Maximilian König über die Bedeutung der neuen Technologie – und die Grenzen, auf die sie in der Praxis treffen.

Lars Riemer und Maximilian König, Ipsos (Bild: Ipsos)
Lars Riemer und Maximilian König, Ipsos (Bild: Ipsos)

marktforschung.de: Welche Rolle spielt Virtual Reality als Marktforschungsinstrument bei Ipsos?

Lars Riemer: Virtual Reality hat großes Potenzial. In den vergangenen eineinhalb Jahren haben wir eine globale VR-Initiative gestartet und so verschiedene Anwendungsfelder in der Marktforschung erschlossen. Zum einen erforschen wir Einkaufsverhalten mittels Virtual Reality durch sogenannte Shopper- oder Shelf-Tests. Aber auch in der Automobilmarktforschung sind VR-Tests bereits etabliert. So etwa bei den Car Clinics und Design-Konzept-Tests. Andererseits versuchen wir mittels VR emotionale Umgebungen zu erschaffen, um Tester in eine bestimmte Stimmung zu versetzen. Das ist besonders für Produkttests von Getränke- oder Lebensmittelherstellern interessant: Es macht nämlich einen Unterschied, ob ein Proband ein Bier vor einer weißen Studiowand genießt, oder auf der Wiese vor dem Eiffelturm.

marktforschung.de: Wie schicken Sie Tester denn virtuell nach Paris?

Lars Riemer: Die technisch unkomplizierteste Version sind 360-Grad-Fotos und -Videos. Daraus machen wir eine navigierbare Umgebung, in der man bestimmte Punkte anwählen kann. Das funktioniert entweder über die Augen durch eine VR-Brille oder per Controller.

marktforschung.de: Setzen Sie Virtual Reality nur produktbezogen ein?

Lars Riemer: Nein. Wir erwecken auch ganze Zielgruppen für unsere Kunden zum Leben. Virtual Reality erlaubt es uns, Personas in einer virtuellen Lebenswelt darzustellen. Wie lebt der Kunde? Wie sieht sein Wohnzimmer aus? Was macht er in seiner Freizeit?

marktforschung.de: Was lässt sich mittels VR darstellen – und was nicht?

Maximilian König: Wir stecken noch in einer frühen Phase der Entwicklung, das merken wir natürlich. Vor allem, wenn die Haptik von Materialien beim Test eine Rolle spielt, gerät VR an Grenzen. Zum Beispiel beim Thema Usability: Wenn wir den Infotainment-Touchscreen in einem Auto testen wollen, ist VR nicht das Mittel der Wahl. Denn der User will den Touchscreen berühren und unmittelbar den Effekt seiner Berührung feststellen. Das geht im virtuellen Raum noch nicht. Eine Bewegung kann man zwar virtuell simulieren, aber das hat nichts mit dem haptischen Erlebnis zu tun.

marktforschung.de: Gibt es weitere Grenzen?

Lars Riemer: Ja, zum Beispiel wenn man mehrere Stimuli auf einmal in höchster Qualität darstellen will. Es ist noch nicht möglich, fünf Autos parallel anzuzeigen, mit dynamischen Lichteffekten und komplexen Details. Außerdem sollte die Anwendung einfach und intuitiv sein, sodass auch Probanden, die noch keine Erfahrung mit VR gesammelt haben, als Testpersonen in Frage kommen.

Maximilian König: Wichtig ist auch zu bedenken, dass jedes Marktforschungsprojekt eigene Anforderungen hat. Man muss dementsprechend genau überlegen, inwiefern sich VR für einen bestimmten Zweck überhaupt eignet. Kann man die Insights, die der Kunde benötigt, wirklich durch VR herausziehen? Manche Dinge sind in der Realität immer noch einfacher umzusetzen. Doch letztendlich ist die virtuelle Marktforschung ein dynamisches Feld, in dem viel passiert.

marktforschung.de: Reagieren Testpersonen im virtuellen Raum eigentlich genauso wie bei realen Tests?

Lars Riemer: Die Realität ist zwar die Referenz. Es geht aber nicht darum, zu fragen, ob VR genauso ist wie die Wirklichkeit. Vielmehr geht es darum, ob Marktforschung durch VR genauso gut oder noch besser funktioniert, als in einem klinischen Studio-Setting. 

Maximilian König: Virtual Reality ruft bei Probanden eine ähnlich starke emotionale Reaktion wie die Realität hervor. Personen, die Höhenangst haben und über eine Brücke laufen, schrecken auch in der virtuellen Welt auf und kriegen echte Panik. Wenn ich jemandem dagegen nur ein Foto von etwas zeige, ist das deutlich emotionsloser. Wenn man zum allerersten Mal so eine Brille aufsetzt, müssen sich viele Teilnehmer erst daran gewöhnen. 

Lars Riemer: Doch das wird relativ schnell überwunden, gerade wenn man die Teilnehmer ermutigt, sich im virtuellen Raum zu bewegen und Dinge auszuprobieren. Auch Neulinge denken sich schnell in die Welt hinein und fangen an, zu gestikulieren. Dabei vergessen sie zum Teil komplett, dass sie sich in einer künstlichen Umgebung befinden. Sie verhalten sich dann wie in einer realen Welt.

Ipsos VR Car Clinic (Bild: Ipsos / Morris Mac Matzen )
VR Car Clinic (Bild: Ipsos / Morris Mac Matzen )

Maximilian König: Das kann man gut am Beispiel beschreiben. Wenn Probanden in der virtuellen Welt ein Fahrzeug begutachten, können sie drum herumlaufen oder sich auf einen Stuhl setzen und das Interieur bzw. eine Fahrsimulation erleben. Theoretisch könnten sie auch durch das Fahrzeug hindurch gehen, das wäre im virtuellen Raum möglich. Doch davor schrecken die Probanden zurück. Die Verbindung zur Realität ist dafür zu groß. Nach zahlreichen Anwendungen können wir sagen: VR bietet deutliche Vorteile gegenüber den üblichen Marktforschungs-Stimuli.

marktforschung.de: Welche sind das?

Lars Riemer: Wir können ein deutlich aufwendigeres und realitätsnäheres Setting simulieren. Dieses lässt sich zudem vergleichsweise leicht ändern und auf die verschiedenen Teilnehmer anpassen. Nehmen wir wieder den Autotest: Im virtuellen Raum können wir das Fahrzeug mit nur einem Klick bei Tageslicht oder mit Nachtbeleuchtung zeigen, es in der Stadt oder im Wald positionieren oder Kinder auf die Rückbank setzen. All das ist in herkömmlichen Tests nicht so schnell möglich.

marktforschung.de: Ist Marktforschung im virtuellen Raum also einem Testumfeld in der Realität überlegen?

Lars Riemer: Das kann man so nicht sagen. Das Ergebnis hängt immer davon ab, was man vergleichen möchte. In einer Eigenstudie haben wir verglichen, wie Probanden zum einen reale Fahrzeuge und zum anderen die digitale Variante bewerten. Die 200 Probanden kamen aus allen Altersgruppen, die meisten von ihnen ohne VR-Vorerfahrung. Der Paralleltest kam unterm Strich zu gleichen Schlüssen. Wir hätten also in beiden Varianten ein ähnliches Ergebnis bekommen und die gleichen Schlussfolgerungen getroffen. Wie nah VR an einen Realtest herankommt, das ist aber auch abhängig von der Darstellungsqualität der digitalen Stimuli. Hier gibt es noch breite Unterschiede, zum großen Teil ist das einfach eine Frage des Aufwands. Denn je detaillierter und realitätsnaher, desto mehr Kosten verursacht der VR-Test. Da muss man fallweise abwägen, welchen Aufwand man betreiben will.

marktforschung.de: Woher beziehen Sie die VR-Geräte für die Tests?

Lars Riemer: Wir verwenden verschiedene VR-Brillen für unterschiedliche Einsatzzwecke. Die gängigste und kostengünstigste Variante ist die Brille „Gear VR“ von Samsung. Man muss nur sein Handy in eine Brillenhalterung einsetzen. Der Nachteil ist aber, dass die Qualität nicht so gut und daher der Immersionseffekt nicht so stark ist. Bei High-end-Brillen wie der „HTC Vive“ oder der „Oculus Rift“ ist das anders. Dort gibt es zum Beispiel Sensoren, die die Position des Probanden im virtuellen Raum messen und so das Realitätsgefühl deutlich erhöhen.

marktforschung.de: Wie wird sich die Technik in den kommenden Jahren entwickeln?

Lars Riemer: Die nächste Brillengeneration wird eine höhere Auflösung haben. Momentan ist das Bild bei genauem Hinsehen noch leicht verpixelt. Auch der Zugang zu den Brillen sollte einfacher werden, mehr Leute werden sie auch privat nutzen. Langfristig könnte ich mir vorstellen, dass Konsumenten VR-Brillen Zuhause haben und wir Marktforschungstests dann sogar bei ihnen vor Ort durchführen können. Es wird sicher auch günstiger, digitale Stimuli und Inhalte erstellen.

Maximilian König: Es sind nicht allein die technischen Komponenten und die Rechenleistung, die sich verbessern werden. Auch Zusatzmöglichkeiten spielen künftig eine stärkere Rolle: Zum Beispiel könnte Eyetracking innerhalb der Brille zum Standard werden. Die Möglichkeiten sind unendlich groß.

marktforschung.de: Herr Riemer, Herr König, vielen Dank für das Gespräch.

Die Autoren:

Lars Riemer arbeitet als Associate Manager in der qualitativen Marktforschung bei Ipsos UU. Er ist vor allem in den Bereichen Technologie und Automobilmarktforschung tätig. 

Maximilian König ist Research Executive bei Ipsos Marketing und betreut den Automobilmarkt, Car Clinics und Ad-Hoc-Studien.

 

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