Stefanie Benighaus & Sandra Mingham, Q | Agentur für Forschung Die LGBTQI*-Map sichtbar gemacht

Angebote für die LGBTQI*-Community gibt es zahlreiche in Deutschland, mit dem SC Janus beispielsweise den größen queeren Sportverein Europas (hier 2022 beim CSD in Köln). Doch wie sind diese Angebote untereinander vernetzt? (Bild: picture alliance/dpa | Marius Becker)
„LGBTQI*-Menschen in Deutschland sind fast dreimal häufiger von Depressionen und Burnout betroffen als die restliche Bevölkerung“[1].
So lautet ein Ergebnis einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) 2021. Weiter heißt es: 40 Prozent der Transmenschen leiden an Angststörungen. Diese Daten sind erschreckend und zeigen gleichzeitig, wie wichtig ein gutes Netzwerk an Unterstützungs-, Beratungs- und Aufklärungsangeboten ist. Die Autoren der Studie kommen auch zu dem Schluss, dass die Förderung von Resilienz und Diversität diesen Zahlen entgegenwirken kann. Darüber hinaus wird empfohlen, „Beratungsangebote, Angebote für Freizeitaktivitäten, queere Treffpunkte, kulturelle Programme und Sportvereine als sichere Orte"[2] stärker zu fördern.
Diese Ergebnisse sind nicht verwunderlich, man muss nicht weit in die Vergangenheit blicken, um Homophobie und Transfeindlichkeit zu finden. Ein Beispiel: am 27. August 2022 stellt sich ein Mann schützend vor eine Gruppe von Frauen während des CSD in Münster und wird daraufhin angegriffen und so schwer verletzt, dass er wenige Tage später stirbt. Dass es sich bei diesem Mann um einen Transmenschen handelt, verdeutlich leider, wie sehr Transmenschen auch heute noch Hass und Gewalt ausgesetzt sind. In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung Online vom 4. September 2022 heißt es dazu:
„Die strukturelle Missachtung, die wie in Münster zu tödlicher Gewalt führt, beginnt viel früher. Sie beginnt in den Blicken, in der Sprache. Sie beginnt im Klassenzimmer, in dem Homosexualität nur im Zusammenhang mit HIV vorkommt. Oder in der Familie, in der davon ausgegangen wird, dass die Kinder heterosexuell sind. Sie beginnt in Medien, in denen über Transmenschen diskutiert wird, als wäre ihre Existenz eine Meinungsfrage, und im Büro, wenn Menschen sich fragen, wie sichtbar sie wirklich sein können. Sie beginnt in der Bar, in der Queers sich lieber nicht küssen.“[3]
Hier sieht man wieder, wie unheimlich wichtig Aufklärung und Sichtbarkeit von LGBTQI* Menschen in den öffentlichen Medien ist. Und nein, damit meinen wir keine schlechten Witze von Comedians und Berichterstattungen über „in welche Gefängnisse gehören nun eigentlich trans Sexualstraftäter:innen?“. Diese Art von Sichtbarkeit erhöht nur die Ablehnung und ist quasi ein Freiflugschein für Hate-Crimes.
Wir haben uns die Frage gestellt, wie Menschen der LGBTQI*-Community von Angeboten zu Beratung oder Austauschmöglichkeiten erfahren und haben uns im Netz auf die Suche gemacht. Wir wollten auch herausfinden, welche sozialen Austauschmöglichkeiten und Beratungsangebote es für LGBTQI*-Menschen in Deutschland gibt und wie diese zueinander vernetzt sind. Uns hat außerdem interessiert, was uns auf dieser Suche inhaltlich begegnen wird.
Zunächst fällt auf, dass ein „Einblick gewinnen“ gar nicht so einfach ist. Vereine und Organisationen haben regionale oder örtliche Schwerpunkte, zusätzlich relevante Informationen findet man erst auf Subseiten. Verzeichnisse oder Datenbanken sind selten und wenn, dann nur für eine der vielfältigen sexuellen Orientierungen. Zusätzlich sind Stigmatisierung und Vorurteile immer präsent. Medienbeiträge fokussieren sich auf negative Nachrichten, Websites sind veraltet, bzw. existieren nicht mehr.
LGBTQI* Angebote im Netz
Wir haben die Methode eines Web-Crawls und einer Netzwerkanalyse gewählt, um über Angebote im Netz zu erfahren und diese zu analysieren. Wir wollen damit eine ausführliche Auflistung von Vereinen, Beratungsmöglichkeiten und kulturelle Gestaltung anbieten, wichtige Akteure ausfindig machen und deren Vernetzung zueinander analysieren. Wir können damit einen Beitrag zur Sichtbarkeit von diversen Lebensgestaltungen in Deutschland leisten. Beispielsweise können wir der Community eine Übersicht anbieten, die frei von Diskriminierung und Ablehnung ist. Als Resultat erleichtern wir eine zielgerichtete Suche und die Auffindbarkeit von Angeboten in unterschiedlichen Regionen. Gerade bei akuten Themen kann unsere Forschungsarbeit eine große Hilfe sein. Darüber hinaus können diese Übersichten Schulen und Organisationen helfen, passende Aufklärungsangebote zu finden.
In dieser Analyse sind keine Seiten oder Nachrichten aus der Presse eingeflossen, außer es sind Magazine von und für LGBTQI*-Menschen.
Das Netzwerk
Die Grundlage für unsere Analyse – der sogenannte Seed – bilden 138 Websites, die aktuelle Angebote für LGBTQI*-Menschen anbieten, sei es Therapie, Austausch, Beratung, Aufklärung, Selbsthilfe, der örtliche CSD, etc.. Nach einem zweistufigen Webcrawling und einer Bereinigungsphase erhalten wir ein Netzwerk von 768 Websites.
Unsere Analyse zeigt, dass offizielle Seiten von Verbänden das Netzwerk dominieren. Weiterhin sind ortsbasierte Cluster entstanden. Dies überrascht wenig, da Hilfsangebote vor Ort eher voneinander wissen, bzw. es logisch ist, auf weitere Angebote in der Nähe aufmerksam zu machen. In den vielen Subclustern spiegelt sich eine große Vielfalt innerhalb der Community. Weitere größere Cluster bilden sich um die Aidshilfe und Selbsthilfeorganisationen. Die Schwulencommunity zeigt eine räumliche Nähe zur Aidshilfe und zu CSD-Gruppierungen. Nicht wenige Angebote sind isoliert voneinander platziert. So ist zum Beispiel die Seite trans-ident.de, die Selbsthilfegruppen für transidente Menschen in mehreren Städten anbietet, mit nur einer Seite vernetzt und weit außerhalb des Netzwerkes platziert.
Bei der Beobachtung des Outdegrees, also die Analyse, wie häufig Webseiten auf andere Seiten verlinken, kann man beobachten, dass politische Akteure einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Die Seite Regenbogenportal.de, vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nimmt hier die größte Position ein. Dennoch sind nur 2 Prozent des Netzwerkes von staatlicher oder politischer Seite.
Das Netzwerk (Bild: Q | Agentur für Forschung)
Infobox zur Abbildung
Jeder Punkt (Node) ist eine Webseite.
Jede Linie (Edge) ist eine Beziehung zueinander, d.h. eine Webseite hat auf eine andere Webseite verlinkt
Die Größe der Punkte signalisiert, wie oft auf diese Webseite verlinkt wird (In-Degree)
Der Algorithmus stellt die Verlinkungen aller Webseiten durch Nähe und Distanz dar: Vernetzte Webseiten ziehen sich an, nicht vernetzte Webseiten stoßen sich ab
Um einen groben Überblick zu erhalten, haben wir die Webseiten in „Queere Angebote“ (in der Abbildung lila), „Angebote für transidente Menschen“ (orange) und „Allgemeine Angebote“ (grün) eingeteilt. Wir sind uns bewusst, dass diese Kategorien eine grobe Verallgemeinerung sind. Ziel dieser Trennung ist, die besonders vulnerable Gruppe der Transidenten (inkl. Intergeschlechtliche und Non-Binäre) Menschen in den Vordergrund zu rücken. Unter „Queer“ verstehen wir ein Sammelsurium aus allen möglichen sexuellen Orientierungen. Größtenteils bestehen diese aus Angeboten für homosexuell orientierte Menschen. Dennoch herrscht in den vielen Subclustern eine große Vielfalt (zum Beispiel Bisexuell, Asexuell, etc.).
Queere Angebote bilden mit 64 Prozent den größten Teil unseres Netzwerks, 20 Prozent sind für transidente Menschen und 16 Prozent gehören zur Kategorie der allgemeinen Angebote. Diese bestehen primär aus Selbsthilfeseiten oder Meldungsseiten gegen Diskriminierung, aber auch akute Hilfen, wie die Telefonseelsorge oder die „Nummer gegen Kummer“ sind hier zu finden. Viele der Angebote richten sich an mehrere sexuellen Orientierungen.
Welche Altersgruppe wird primär angesprochen?
Das Netzwerk getrennt nach Altersgruppe (Bild: Q | Agentur für Forschung)
In der obigen Abbildung ist das Netzwerk nach Zielgruppen nach Alter eingefärbt. Blaue Nodes richten sich an Erwachsene, grüne Nodes an junge Menschen (meist zwischen 14-27 Jahren), orangene Nodes an Menschen im höheren Alter, lila Nodes an Familien. Man sieht klar, dass sich das Netzwerk fast ausschließlich an Erwachsene richtet. Für Familien, Kinder, Menschen höheren Alters gibt es kaum, bis fast gar keine Unterstützungsangebote.
Angebote
24 Prozent aller Angebote bieten ein umfassendes Angebot an, wie z.B. ein Verein das gemeinsame Aktivitäten unternimmt, aber auch Beratung anbietet. 20 Prozent konnten nicht klar einer Kategorie zugewiesen werden (Misc). Den dritten Platz nehmen Beratungsangebote ein. Hier geht es in erster Linie um psychologische Beratung oder zur Unterstützung beim Outing.
Aufklärungsangebote richten sie zum größten Teil an Aufklärungen an Schulen. Aber auch Erwachsenenbildung, in Form von Interviews oder die Aufarbeitung der Vergangenheit sind hier verortet. Der Anteil an Aufklärung für Erwachsene ist sehr gering.

Kategorisierung der Angebote (Bild: Q | Agentur für Forschung)
Ein Einblick in die Netnographie
Durch unsere Vorgehensweise haben wir ein biotisches Sample aus relevanten Webseiten erhalten. Dieses bietet eine gute Grundlage für netnographische Analysen. Zudem hat uns der Prozess des Data-Cleanings ein umfassendes Bild von Lebensrealitäten von LGBTQI*-Menschen gegeben und wir haben neue und zum Teil sehr unerwartete Einblicke in unterschiedliche Lebenswelten der erhalten. Ein Beispiel wollen wir uns genauer anschauen, denn es bietet einen tollen und sehr empathischen Einblick in diese Lebenswelten und -realitäten.
„Ach so ist das“ – Lebensnahe, wertschätzende Aufklärung und Beratung in Comicform
Unterwww.achsoistdas.com sammelt Martina Schradi „Geschichten über Lebensweise und Erfahrungen von LGBTI* – Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans und Intergeschlechtlichen – und zeichnet daraus biografische Comics“.[4] In den biografischen Comics werden Erlebnisse, Erfahrungen, Lebensweisen, Fragen sichtbar gemacht, die Menschen der Community beschäftigen und sehr anschaulich, nachvollziehbar und einfühlsam dargestellt. Der Weg über die Comics ist dabei niedrigschwellig und unterhaltsam zugleich – es macht Spaß, die Comics anzuschauen und gemeinsam mit den Protagonisten durch die Geschichten zu reisen. Für die Lesende eröffnen sich damit neue Sichtweisen: zum einen, welche Themen Menschen der LGBTQI*-Community umtreiben. Zum anderen wird gezeigt, wie andere mit eben diesen Themen bereits umgegangen sind. Das führt einerseits zu mehr Sichtbarkeit und andererseits auch zu einem Gefühl von Zugehörigkeit: „ich bin nicht allein, andere haben sich mit diesen Themen auch auseinandersetzt“.

Screenshot, www.achsoistdas.com (05.05.2023)
Die Seite leistet damit einen besonderen Beitrag, denn sie zeigt, wie vielfältig das Leben ist und beleuchtet viele auch unerwartete Seiten der LGBTQI*-Community. Die Form der Comics macht den Zugang zu den geschilderten Situationen, Problemen, Gedanken dabei umso anschaulicher, es fällt leicht, sich mit den Personen zu identifizieren, mit ihnen zu fühlen.
Zum Projekt wurde außerdem mit „lgbtiq.elementar“ ein pädagogisches Programm ausgearbeitet, welches kostenlos von Schulen genutzt werden kann. So finden die Comics auch in Schulen als Lehrmaterial Anwendung und mit Hilfe der Comics wird nicht nur gezeigt, wie man sich in diesen Situationen verhalten kann, sondern auch, was den betroffenen Personen besonders wichtig ist und was sie beschäftigt. Das geht weit über die graue Theorie vom Sexualkundeunterricht hinaus und vermittelt gleich Handlungsstrategien für das „echte Leben“. Die Seite unterstützt damit die LGBTQI*-Community und gleichzeitig auch Angehörige und Interessierte.
Weitere Highlights
- Fußball und Queerness gehören nicht zusammen? Eben doch. Vereine wie die Queer Devils setzen als schwul-lesbischer Fußballfanclub ein sehr deutliches Zeichen.
- Webshops, die Produkte anbieten, die Kleidung anbietet, um mehr wie das gefühlte Geschlecht auszusehen: schon mal was von Binder, Packer oder Tucking-Pants gehört? Wir zuvor auch nicht, aber eigentlich logisch.
- Wusstet ihr, dass eine Logopädie dabei unterstützen kann, die Stimmlage so zu trainieren, um beispielsweise eine höhere, weibliche Sprechstimmlage zu erlangen?
- Aber vor allem auch die Fürsorge und der Zusammenhalt untereinander ist sehr schön. Es gibt mehrere Personen, die eine kostenlose Transberatung anbieten. Nicht aus Selbstzweck, sondern um anderen schmerzhafte Erfahrungen zu ersparen, die selbst erlebt wurden. Diese wurden auch teilweise verschriftlicht und wir sind voll Bewunderung, dass diese Menschen trotz vieler Hürden auf das Leben mit viel Mut und Lebensfreude in die Zukunft blicken.
Was fehlt?
In unserem Webcrawl haben wir Angebote für die LGBTQI*-Community sichtbar gemacht und dabei vieles gelernt. Wir haben festgestellt, dass politische Netzwerke und Knotenpunkte sehr wichtig, aber kaum sichtbar sind. Auch bei dem Thema Bildung hätten wir stärkere Vernetzungen erwartet. Angebote für jüngere und ältere Menschen, sowie Familien aber insbesondere auch Angebote für Angehörige und Allies der Community müssen weiter ausgebaut werden, davon gibt es nach unserer Beobachtung zu wenig. Auch sollte idealerweise die Aufklärung für Kinder und Erwachsene präsenter werden. Bei der Analyse ist uns zudem aufgefallen, dass auch Angebote für Menschen mit Migrationsgeschichte so gut wie nicht in diesem Netzwerk vorkommen.
Für uns wird deutlich, dass in diesen Bereichen noch sehr viel Handlungsbedarf zu bestehen scheint. Wie könnte man auch solche Netzwerke und Analysen nutzen, um politisch mehr Sichtbarkeit zu schaffen, damit in Zukunft auch die Bedürfnisse der LGBTQI*-Community Einfluss in politische Entscheidungen finden? Und wie lassen sich zum Zwecke von Aufklärung und Bildung solche Netzwerke stärken?
Unsere Liste ist nicht vollständig, da wir nur Webseiten erfassen konnten, die (vor der Datenbereinigung) von einer anderen Webseite verlinkt wurde. Wir vermuten stark, dass nicht wenige Angebote nicht stark vernetzt sind und somit nicht in unsere Analyse einfließen konnten. Zusätzlich dient unsere Liste zwei Zwecke: zum einen wollen wir Einblicke schaffen, die für mehr Sichtbarkeit und damit Entstigmatisierung sorgt. Diese Studie ist aus Eigeninteresse entstanden. Wir wollen zeigen, dass Marktforschung auch Gutes tun kann und soll.
Wir empfehlen euch: schaut euch doch mal um, denkt euch mal rein. Die Vielfalt und Begeisterung der Community ist grenzenlos und schlichtweg inspirierend. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, damit wir eine vollständig inklusive Gesellschaft sind.
Quellen:
[1] https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.810350.de/21-6-1.pdf (04.05.2023)
[2] Ebd.
[3] https://www.sueddeutsche.de/meinung/muenster-csd-transmann-1.5650661 (04.05.2023)
[4] https://www.achsoistdas.com/ (04.05.2023)
Über die Personen
Sandra Mingham, M.A. Sociology, ist Insights Manager bei Q | Agentur für Forschung. Ihre Schwerpunkte liegen in der qualitativen und quantitativen Marktforschung, sowie der Social Media Forschung. Am liebsten widmet sie sich einem breiten Themenspektrum, das ihre Arbeit vielfältig und spannend gestaltet.
Stefanie Benighaus, M.A., ist Soziologin und macht sich vor allem mit qualitativen Forschungsmethoden und Design-Thinking-Prozessen auf die Suche nach Antworten auf die unterschiedlichsten Fragen. Dabei taucht sie gerne in unterschiedliche Lebenswelten und teilt die gewonnen Einblicke und Erkenntnisse gerne mit anderen.
Weitere Informationen zum Unternehmen auf marktforschung.de:

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