Interview mit Berthold Bodo Flaig, Geschäftsführer und Mitinhaber des SINUS-Instituts "Die Lebenswelten schotten sich gegeneinander ab"

Wie hat sich die Gesellschaft in den letzten 40 Jahren verändert? Und wir die Marktforschung? Das SINUS-Institut kann zu seinem 40. Geburtstag einen guten Rückblick liefern. Wir sprachen mit dem Geschäftsführer Berthold Bodo Flaig über sich verändernde Milieus.

Berthold Bodo Flaig

Berthold Bodo Flaig

marktforschung.de: Das SINUS-Institut feiert dieses Jahr sein 40-jähriges Jubiläum. Wie ist es zu erklären, dass SINUS nach 40 Jahren immer noch auf dem Markt ist?

Berthold Bodo Flaig: Die Bekanntheit von SINUS in der Branche ist ja vergleichsweise groß, obwohl wir nach wie vor ein kleines inhabergeführtes Institut sind. Das hat sicherlich mit unserem Hauptprodukt zu tun, den Sinus-Milieus – die ja längst zum Lernstoff an Schulen und Universitäten geworden sind. Die Sinus-Milieus haben sich zu einer Art Zielgruppenwährung gemausert – zumindest im deutschsprachigen Raum. Die Sinus-Milieus sind sozusagen der rote Faden im gesamten Marketingprozess – von der Produktentwicklung über die Markenpositionierung bis hin zur Kommunikation und zur Mediaplanung.

Schon Anfang der 1980er wurde die Gesellschaft in einem der ersten Sinus-Milieu-Modelle in "Gruppen Gleichgesinnter" eingeteilt. Das Modell wird regelmäßig an die gesellschaftlichen Veränderungen angepasst, die Grundlogik hinter dem Modell bleibt jedoc
Schon Anfang der 1980er wurde die Gesellschaft in einem der ersten Sinus-Milieu-Modelle in "Gruppen Gleichgesinnter" eingeteilt. Das Modell wird regelmäßig an die gesellschaftlichen Veränderungen angepasst, die Grundlogik hinter dem Modell bleibt jedoch ähnlich. © SINUS-Institut

 

marktforschung.de: Wie kamen Sie im Jahr 1978 zur Marktforschung beim SINUS-Institut?

Berthold Bodo Flaig: Streng genommen war ich schon zwei Jahre vorher dort – beim Vorläuferinstitut ANGEWANDTE SOZIALPSYCHOLOGIE, das dann 1978 in der Neugründung SINUS GmbH aufgegangen ist.

Wie häufig in der Branche war es eine Art Quereinstieg. Ich hatte Psychologie studiert und wollte eigentlich Verhaltenstherapeut werden. Parallel zu meiner Tätigkeit in einer psychologischen Praxis bot mit das Ehepaar Horst und Dorothea Nowak, die späteren SINUS-Gründer, die Chance, in die Marktforschung hineinzuschnuppern. Und was da getrieben wurde, fand ich um ein Vielfaches spannender als den Therapie-Job. Keine Frage, dass ich dann bei der Marktforschung geblieben bin.

marktforschung.de: Sie sind jetzt seit 40 Jahren als Marktforscher für das SINUS-Institut tätig. Wenn Sie per Zeitreise in das Jahr 1978 zurückreisen würden, was würden Sie Ihrem jüngeren Ich über die Zukunft der Marktforschung sagen?

Berthold Bodo Flaig: Ich könnte sagen: Alles ist anders. Die Branche hat sich aufgrund der technologischen Revolution komplett gewandelt. Ich könnte aber auch sagen: Grundsätzlich hat sich nichts geändert. Was damals innovativ und erfolgreich war, ist es auch heute – nämlich der ganzheitliche Blick auf die Menschen in den Bezügen ihrer Lebenswelt, der verstehende Ansatz, der Erklärungen für das menschliche Verhalten liefert und deshalb valide Prognosen erlaubt. Die individuelle Konsumentenpsychologie muss dabei vor dem Hintergrund des soziokulturellen gesellschaftlichen Wandels gesehen werden. Diese Zusammenhänge zu verstehen, war schon 1978 unsere Ambition. Das war vor 40 Jahren eine revolutionäre Perspektive und ist es bis heute. Um die Frage ganz kurz zu beantworten, würde ich also sagen: Zukunft der Marktforschung – alles bleibt anders.

marktforschung.de: Was sind Ihrer Meinung nach die drei größten Veränderungen in der Gesellschaft in den letzten 40 Jahren? Lassen sich diese kurz zusammenfassen?

Berthold Bodo Flaig:Einen detaillierten historischen Abriss der politischen Umbrüche (Stichwort: Ende der bipolaren Weltordnung), des technologischen Fortschritts (Stichwort: Digitale Transformation) oder des gesellschaftlichen Wertewandels (Stichwort: postmodernes Werte-Patchwork) kann und will ich hier nicht liefern. Aber die genannten Entwicklungen haben enorme Veränderungen in unserer Gesellschaft bewirkt.

marktforschung.de: Welche davon haben Sie überrascht?

Berthold Bodo Flaig: Überraschend in der Rückschau erscheint mir die Wirkmächtigkeit des Megatrends Individualisierung, der zu einer zentrifugalen Dynamik in der Gesellschaft geführt hat. Die Milieus driften auseinander, die Lebenswelten schotten sich gegeneinander ab – will heißen, dass die Gesellschaft zunehmend auseinanderfällt.

marktforschung.de: Gibt es einzelne Milieus, die sich besonders auffällig verändert haben?

Berthold Bodo Flaig: Tatsächlich haben sich alle Milieus auffällig verändert. Von den acht sozialen Milieus, die wir im ersten SINUS-Modell Ende der 70er Jahre beschrieben haben, findet sich heute mit einer vergleichbaren Grundorientierung nur noch das Milieu der Hedonisten – mit seinem Leitmotiv Fun & Action, Leben im Hier und Jetzt. Alle anderen Lebenswelten haben sich transformiert oder sind ganz von der Bildfläche verschwunden – wie etwa das Alternative Milieu oder das Aufstiegsorientierte Milieu.

Aktuell existieren zehn Sinus-Milieus in Deutschland. Laut SINUS-Institut werden die Milieus der Expeditiven und Adaptiv-Pragmatischen besonders stark wachsen – sie sind die Zielgruppen der Zukunft. © SINUS Institut
Aktuell existieren zehn Sinus-Milieus in Deutschland. Laut SINUS-Institut werden die Milieus der Expeditiven und Adaptiv-Pragmatischen besonders stark wachsen – sie sind die Zielgruppen der Zukunft. © SINUS Institut

 

marktforschung.de: Sie bilden im Sinus-Milieumodell die Dimensionen Soziale Lage und Grundorientierung ab. Lassen sich aktuelle politische Entwicklungen, wie z.B. der Erfolg einer Partei wie der AfD, hier erkennen?

Berthold Bodo Flaig: Die beiden Dimensionen unserer sogenannten "Kartoffelgrafik" konstituieren die Milieu-Landschaft der deutschen Gesellschaft und zeigen ein modellhaftes Abbild ihrer sozialen Schichtung und ihrer Wertestruktur. In dieser strategischen Landkarte können Produkte, Marken und Medien und natürlich auch politische Parteien positioniert werden.
Auch die Wähler der AfD lassen sich hier schwerpunktmäßig verorten. Es gibt dazu eine Publikation der Bertelsmann Stiftung zur Bundestagswahl 2017. Die Milieuanalyse zeigt, dass die AfD besonders punkten kann im abgehängten und resignierten kleinbürgerlichen Segment, bei den Modernisierungsverlierern und in der abstiegsängstlichen Mitte. Die Milieuanalyse zeigt damit deutlich, wie gespalten unsere Gesellschaft ist und bei welchen Milieus populistische Heilsversprechen auf fruchtbaren Boden stoßen, und welche Milieus dagegen immun sind. Das gleiche Bild zeigt sich übrigens bei den Trump-Wählern. Wir haben Ende 2016 zusammen mit YouGov eine Nachwahlbefragung in den USA mit den Sinus-Meta-Milieus – unserer Sinus-Milieu-Lösung auf internationaler Ebene - gemacht und festgestellt, dass Trump neben dem konservativen Establishment vor allem die abstiegsbedrohte Mitte und die Modernisierungsverlierer mobilisieren konnte.

marktforschung.de: Die Sinus-Milieus werden auch in der Online-Forschung genutzt. Welche aktuellen Entwicklungen halten Sie dabei für besonders interessant?

Berthold Bodo Flaig: Die Sinus-Milieus werden schon seit 20 Jahren in der Online-Forschung genutzt. Und sie sind heute in einer ganzen Reihe großer Online-Panels in Deutschland, Österreich und der Schweiz verfügbar. Wir kennen sehr genau die milieuspezifischen Grundhaltungen der Milieus im Umgang mit dem Internet, sozusagen ihre digitalen Profile – und wie diese sich entwickelt haben. Besonders interessant für uns ist aber etwas anderes, nämlich die Ausweitung der Sinus-Milieus in den digitalen Raum, ihre Nutzbarmachung für das Targeting. Mit den Digitalen Sinus-Milieus gelingt jetzt endgültig die cross-mediale Zielgruppenansprache, denn sie komplettieren digitale Zielgruppen um das ganzheitliche Verständnis des Menschen und Konsumenten.

marktforschung.de: Sie haben sicher die aktuelle Repräsentativitäts-Diskussion verfolgt, die sich an der Presserats-Beschwerde gegen den FOCUS und der Verwendung von Daten aus der Online-Befragung entzündet hat. Wie steht das SINUS-Institut dazu?

Berthold Bodo Flaig: SINUS ist seit vielen Jahren aktives Mitglied im ADM, die führenden Mitarbeiter sind im BVM und bei ESOMAR Mitglied. Insofern liegt es nahe, die Stellungnahmen der Branchenverbände zur Qualitätssicherung mitzutragen. Sogar das Bundesverfassungsgericht hat ja kürzlich die Notwendigkeit qualitativ hochwertiger Stichproben betont. Und es spricht ja auch alles für die Forderung nach einer transparenten Methodendiskussion.
Allerdings müssen wir angesichts immer kläglicherer Ausschöpfungsquoten bei Umfragen unsere Erhebungsmethoden weiterentwickeln. Das jetzt in der Kritik stehende CIVEY-Institut ist hier vorgeprescht und hat die notwendige Grundsatzdiskussion angestoßen. Das zumindest ist verdienstvoll – auch wenn ich die CIVEY-Methoden, vor allem die Gewichtungsverfahren – weil zu wenig darüber bekannt ist – derzeit nicht wirklich einschätzen kann.

marktforschung.de: Noch eine kleine Zeitreise. Wenn Sie heute Besuch aus der Zukunft bekämen, was glauben Sie, würde ein Marktforscher aus dem Jahr 2058 berichten?

Berthold Bodo Flaig: Sie kennen ja die alte Berater-Weisheit: Prognosen sind schwierig – vor allem wenn sie in die Zukunft gerichtet sind. Was in Zeiten disruptiver Umbrüche in 40 Jahren sein wird, kann ich mir heute schlicht nicht vorstellen. Vieles spricht dafür, dass es den Marktforscher so wie wir ihn kennen, gar nicht mehr geben wird – substituiert durch Big Data und KI. Aber wer weiß? Vielleicht gibt es auch eine Neubewertung der menschlichen Intuition und Empathie-Fähigkeit, und der Besucher aus dem Jahr 2058 entpuppt sich als moderner Philosoph.

Berthold Bodo Flaig studierte Psychologie und Philosophie an der Universität Heidelberg. B. B. Flaig hatte von Beginn an wesentlichen Anteil an der Entwicklung des Ende der 70er Jahre gestarteten Lebensweltforschungsprogramms, aus dem die Sinus-Milieus hervorgegangen sind. Deren Popularisierung und Weiterentwicklung zur strategischen "Zielgruppenwährung" für Marketing und Kommunikation ist zum großen Teil sein Verdienst. 1991 wurde Flaig zum Geschäftsführer des SINUS-Instituts berufen. Seine Spezialgebiete sind die Analyse von Marken und korrespondierenden Zielgruppen-Lebenswelten und die Erforschung des soziokulturellen Wandels (Werte, Lebensstile, Alltagsästhetik).  

 

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