Benjamin Schulz "Die Frage nach der richtigen Tätigkeit hat kein Verfallsdatum"

marktforschung.de: Herr Schulz, wann sollte man sich der Frage widmen, welcher Beruf der richtige für einen ist?
Benjamin Schulz: Diese Frage kommt im Leben immer wieder auf. Nicht nur nach der Schule oder dem Studium, sondern auch später noch. Zum Beispiel in den Vierzigern, wenn die Midlife-Crisis anklopft und viele Menschen etwas verändern wollen. Oder wenn jemand vor einer Beförderung steht und sich fragt, ob er wirklich eine Führungsposition will oder sich lieber selbstständig machen sollte... Die Frage nach der richtigen Tätigkeit und dem passenden Umfeld hat also kein Verfallsdatum. Denn dahinter steht immer die Frage: Wer bin ich eigentlich? Welche Bedürfnisse habe ich? Was möchte ich bewirken?
marktforschung.de: Sehr grundlegende Fragen ... Wie können wir ihnen denn auf den Grund gehen?
Benjamin Schulz: Im ersten Schritt ist es aus meiner Sicht wichtig, die eigenen Lebensmotive zu kennen. Denn nur wenn wir wissen, was uns im Innersten antreibt, wissen wir, warum wir tun, was wir tun und was uns erfüllt. Wir erfahren, weshalb uns die eine Sache leichtfällt und uns die andere quält. Wir erkennen, was uns zufrieden macht und unserem Leben einen Sinn verleiht. Gerade Letzteres ist der jungen Generation sehr wichtig. In der Konsequenz können wir unsere berufliche Orientierung danach ausrichten.
marktforschung.de: Wie gehe ich dabei vor? Die eigenen Motive sind ja vermutlich eher unbewusst, oder?
Benjamin Schulz: Tatsächlich liegen sie bei den meisten von uns im Verborgenen. Trotzdem kann man ihnen auf die Spur kommen – mit einer Motivanalyse. Eines der bekanntesten Tools, das auch wir bei unseren Beratungen verwenden, ist das "Reiss Motivation Profile". Es wurde in den Neunzigerjahren von dem US-Psychologen Steven Reiss entwickelt. Nach jahrelangem Forschen und vielen groß angelegten Studien hat er 16 Lebensmotive extrahiert, deren individuelle Ausprägung jeder Mensch mit dem "Reiss Motivation Profile" analysieren und darstellen kann.
marktforschung.de: Wie läuft das genau ab?
Benjamin Schulz: Die Testperson beurteilt auf einem standardisierten Fragebogen 128 Aussagen, wie sehr diese auf ihn zutreffen. Je acht Fragen beziehen sich auf die einzelnen Motive. Aussagen können zum Beispiel sein: "Meine Ideen sind mir sehr wichtig", oder: "Ich habe Schwierigkeiten, mich an Veränderungen anzupassen." Die Beurteilung sollte natürlich wahrheitsgemäß und ungeschönt erfolgen. Schließlich will man sich selbst besser kennenlernen und nicht ein vermeintliches Idealbild. Das Schöne ist: Die Ergebnisse sind nicht wertend. Sie sagen uns, was passend für uns ist und was wir brauchen, um erfolgreich zu sein. Denn es ist ungemein motivierend, wenn wir unsere Talente einsetzen und unsere ureigenen Ziele verfolgen können.
marktforschung.de: Und wie sieht so ein Testergebnis aus?
Benjamin Schulz: Jedes Profil ist so individuell wie ein Fingerabdruck: In einem Diagramm sind die einzelnen Motive mit ihrer jeweiligen Ausprägung ausgewiesen. Daraus lässt sich dann einiges herauslesen. Denn die Motive können im Zusammenspiel ihre ganz eigene Dynamik entwickeln. So können wir zum Beispiel erkennen, welches Jobumfeld wir benötigen, um wirklich performen zu können. Das ist natürlich eine ungemein wertvolle Information – gerade für Berufsanfänger. Sie können sonst nicht wissen, ob sie zum Beispiel in einem Großraumbüro effektiver sind oder eher in einem ruhigen Einzelbüro. Ob sie sich im Außendienst mit viel Kontakt zu Menschen wohlfühlen, weil sie ein hohes Beziehungsmotiv haben, oder eher als Schreibtischtäter, wo sie analytisch mit Datenmaterial agieren. Übrigens bleibt das Profil eines Menschen ein Leben lang unverändert. Man kann also für seinen gesamten Berufsweg Nutzen daraus ziehen.
marktforschung.de: Nehmen wir mal das Beispiel des Marktforschers: Über welche Motive sollte er in welcher Ausprägung verfügen?
Benjamin Schulz: So isoliert ist das schwierig zu sagen. Aber in der Tendenz sollte das Neugiermotiv bei ihm hoch ausgeprägt sein. Sonst wird er nicht glücklich werden in dieser Branche. Ein Marktforscher hat in der Regel viel mit Recherchen zu tun, mit Analysen, Diagrammen, Interviews ... Er sollte großen Wissensdurst haben, um diesen Job überhaupt machen zu können. Als reiner Pragmatiker wird man sich dagegen schwertun. Ist die Neugierde als Motiv eher niedrig ausgeprägt, heißt das übrigens nicht, dass derjenige keine Lust am Wissen hat. Er geht nur anders damit um, indem er sich ausschließlich mit den Sachen beschäftigt, die er in naher Zukunft praktisch anwenden kann. Ich selbst bin so ein Mensch: Ich würde nie etwas lesen, was mich nicht unmittelbar weiterbringt, um damit operativ tätig zu sein.
marktforschung.de: Was müssen Marktforscher noch mitbringen?
Benjamin Schulz: Das Ordnungsmotiv sollte nicht zu niedrig ausgeprägt sein. Das hat etwas mit strukturiertem Arbeiten zu tun. Wer sich in Sachen Ordnung eher flexibel zeigt, ist nicht unbedingt ein Excel-Freund. Das würde denjenigen zu sehr einengen. Ein Marktforscher muss aber sehr analytisch arbeiten und denken, vergleichen und Dinge in Bezug bringen. Also sollte er jemand sein, der gut in Strukturen denkt und der das auch braucht und aus eigenem Antrieb so vorgeht. Das ist aber wie gesagt keine Pauschalaussage. Im Zusammenwirken mit den anderen Motiven kann das weitaus individueller sein. Aber diese beiden Motive sind in jedem Fall gute Voraussetzungen für die Branche. Wir könnten zusätzlich noch über Ehre sprechen. Wenn jemand dieses Motiv niedrig ausgeprägt hat, ist er eher ziel- und zweckorientiert und lässt auch mal fünf gerade sein. Menschen, die dagegen Ehre hoch ausgeprägt aufweisen, sind sehr prinzipienstarke Menschen, die sich an Standards und Regelwerke halten und niemals eine Statistik manipulieren würden.
marktforschung.de: Wenn die Motive so grundlegend sind – wieso wissen wir dann im Allgemeinen so wenig über sie?
Benjamin Schulz: Das hat auch etwas mit Erziehung zu tun. In meiner Generation ist uns noch vermittelt worden: "Nimm dich nicht so wichtig!", "Augen zu und durch!", oder ähnliche Glaubenssätze. Da war es kaum von Interesse, was jemand wollte oder was Erfüllung für ihn bedeutete. Wenn man das ausblendet, holt es einen aber irgendwann doch ein: Die Menschen, die sich nie mit sich selbst auseinandergesetzt haben, stehen in der Mitte ihres Berufslebens da und wundern sich, dass sie so unzufrieden sind oder kurz vor dem Burn-out stehen. Mein Rat ist daher: Lieber schon frühzeitig herausfinden, was man wirklich will und was gut für einen ist. Natürlich gibt es da über die Motivanalyse hinaus noch viele weitere Möglichkeiten.
marktforschung.de: Zum Beispiel?
Benjamin Schulz: Man muss sich das vorstellen wie bei einem Spot, der auf ein großes Gemälde gerichtet ist: Ein Analysetool kann immer nur einen kleinen Teilbereich des Bildes beleuchten – aber immerhin können wir anhand der Ergebnisse auf den Rest des Gemäldes schließen, der noch im Dunkeln liegt. Und je mehr Spots wir auf das Bild richten, desto mehr finden wir heraus. Ich würde daher im zweiten Schritt empfehlen, mit weiteren Diagnostikinstrumenten dranzubleiben. Interessant sind etwa eine Stärken-Schwächen-Analyse oder ein Fähigkeitskompetenztest. Das kann auch in spezifische Bereiche reingehen, beispielsweise mit einem Stresstest oder Konfliktfähigkeitstest. Je mehr ich meine Sprache spreche, desto mehr weiß ich über mein Mutterland. Das ist das A und O. Natürlich kann mir kein Tool die Lebenserfahrung ersetzen. Aber ich kann mir im Vorfeld so manche heiße Herdplatte ersparen, die ich nicht anfassen muss. Und ich verschenke keine Lebenszeit, indem ich erst in die falsche Richtung laufe.
marktforschung.de: Wäre es nicht gut, wenn die Arbeitgeber selbst mit ihren potenziellen Mitarbeitern so einen Test durchführen würden?
Benjamin Schulz: Natürlich – auch sie profitieren schließlich davon, wenn die Angestellten an der richtigen Stelle im Unternehmen ihr volles Potenzial entfalten können. Leider wird beim Recruiting immer noch mehr auf die fachliche Kompetenz geachtet als auf die Persönlichkeit. Dabei kann ich meine Leute nur dann zu Höchstleistungen motivieren, wenn ich weiß, was jeder einzelne von ihnen wirklich braucht. Ein Mensch, der ein starkes Machtmotiv hat und sich gerne im Wettbewerb misst, gehört an eine andere Stelle als jemand, der am liebsten im Team aufgeht. Die ureigenen Bedürfnisse können sogar in einem Konflikt miteinander stehen, den es sich bewusst zu machen gilt, um den Mitarbeiter nicht unnötigem Druck auszusetzen.
marktforschung.de: Sie beraten auch Unternehmer, Politiker und CEOs. Wenn es Menschen auf dieses Top-Level geschafft haben, bedeutet das wohl, dass sie den richtigen Beruf und die passende Position für sich gefunden haben, oder?
Benjamin Schulz: Nicht unbedingt. Ich bin immer wieder überrascht, wie wenig manche Führungskräfte über sich selbst wissen. Mancher hatte Glück und ist trotzdem im richtigen Job gelandet. Aber manche eben auch nicht. Es kommt nicht selten vor, dass Manager in einem Unternehmen erfolgreich operieren, im nächsten aber kläglich scheitern. Denken wir nur an den Fall Mehdorn ... Die Betreffenden können sich das meistens selbst nicht erklären. Dahinter steht ein komplexes Zusammenspiel aus verschiedenen Faktoren, die es zu analysieren gilt. Dabei spielt etwa das implizite Wissen des Menschen eine Rolle sowie seine Emotionen und Werte. Ich habe schon Vorstandschefs erlebt, die nach dem Motivcheck ein echtes Aha-Erlebnis hatten. Plötzlich wird ihnen klar, warum so manches Problem immer wiederkehrt und was sie sich hätten ersparen können, wenn sie auf ihre inneren Bedürfnisse gehört hätten. Aber wie heißt es so schön: Besser spät als nie!
Über den Interviewpartner: Benjamin Schulz ist Sparringspartner und Troubleshooter für strategische Fragen für einflussreiche Persönlichkeiten und Unternehmen. Der Identitäts- und Marketing-Experte und Geschäftsführer von Ben Schulz & Consultants sowie der Agentur werdewelt begleitet seit vielen Jahren Firmen, Institute und Persönlichkeiten im gesamten deutschsprachigen Raum zu den Themen Strategie, Positionierung, Identität und Marketing. Er ist Autor zahlreicher Bücher, darunter "Goodbye, McK... & Co." (Gabal Verlag 2015), "Raviolität: Identität oder Quatsch mit Soße" (werdewelt Verlags- und Medienhaus 2012) oder "Erfolg braucht ein Gesicht" (Redline Verlag 2016). Sein aktuelles Buch, das er mit Co-Autor Brunello Gianella verfasst hat, heißt "Wenn Turnschuhe nichts bringen. Der CEO-Code für starke Führungskräfte" (Frankfurter Allgemeine Buch, März 2019).
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