Interview "Die eigenen Chancen im digitalen Wandel erarbeiten"

Man weiß nicht so recht, wie man unsere Interviewpartnerin in einem Satz ankündigen soll, denn schon auf dem Cover ihres neuen Buches "Die Zukunft ist menschlich" wird Andera Gadeib mit nicht weniger als sechs Berufsbezeichnungen bedacht: Marktforscherin, Digitalexpertin, Unternehmerin, Wirtschaftsinformatikerin, Beraterin – und eben Buchautorin. marktforschung.de traf sich mit Frau Gadeib zum Interview.

Andrea Gadeib

marktforschung.de: Frau Gadeib, die private Digitalisierung führt dazu, dass wir stets auf Empfang sind, weniger Zeit auf eine Sache verwenden, vielleicht auch weniger Ruhephasen als früher haben. Sie sprechen solche Dinge in Ihrem Buch an. Aber als ich mir Ihre Vita anschaute, dachte ich spontan: Diese Frau tanzt auf ungesund vielen Hochzeiten, jetzt schreibt sie auch noch ein Buch. Mit Digitalisierung hat die erste Frage also erst einmal nichts zu tun: Wie halten Sie es mit der Live Balance?

Andera Gadeib: "Live Balance" ist ein schöner Begriff. Nicht das Leben, sondern das "Lebendige" zu balancieren. Ich glaube, das tun wir alle täglich. Und ja, ich bin vielseitig interessiert, stoße gerne Dinge an und helfe Chancen zu entwickeln. Sei es im Privaten oder im Geschäftlichen. Das lässt sich nicht immer klar trennen. Ich liebe meinen Job aber ich bin nicht rund um die Uhr "on". Ungesund wird es erst, wenn man meint, man müsste alles gleichzeitig können. Das denke ich nicht. Im Gegenteil: Ich nehme mir bewusst Auszeiten - etwa um Zeit mit meiner Familie zu verbringen oder auch ein Buch zu schreiben (lacht). Im Buch habe ich sogar einen konkreten Leitfaden dafür entwickelt und verrate, wie ich mich organisiere. Ich bin ein ausgeprägter Chancendenker und meine, dass gerade in Deutschland Potential schlummert und mehr Menschen mehr wagen sollten. Dazu dient mein Werkzeugkoffer zum Chancendenken, den ich im Buch ausführlich beschreibe. Wer Lust hat, kann das passende Poster herunterladen: 

 

Übrigens, das Plakat ist selbst gezeichnet. Ja ja, werden Sie sagen, noch was? Und ja, das Kreative hat einen festen Platz in meinem Leben. Denn Mensch und Maschine harmonieren nur, wenn der Mensch sich seiner Stärken bewusst ist. Ich bin überzeugt, dass Kreativität eine wichtige Stärke des Menschen ist. Ich kenne meine Stärken gut und bin die letzten Jahre daran gewachsen. Zeichnen war schon immer eine Leidenschaft von mir und das Sketchnoting ist ein Weg, dies im Berufsalltag einzusetzen.

In die Marktforschung bin ich fast zufällig gelangt, als meine Neugier auf Programmiererfahrung stießen. Eigentlich wollte ich Design studieren. Inzwischen lege ich immer öfter den Laptop oder das Tablet beiseite, um mit Stift und Papier zu arbeiten und kleine, aussagekräftige Kunstwerke zu schaffen und Insights so auf einer Seite zu verdichten. Ich bin im Team nicht die Einzige, die es in den Fingern juckt, wenn sie Stifte sieht. Und glauben Sie mir: Damit kann ich mein Gegenüber verblüffen, wenn die Digitale plötzlich ihr Zeichenmaterial rauskramt...

marktforschung.de: In Ihrem Buch geht es, wenn ich es richtig interpretiert habe, um einen kritischen, aber gesunden Umgang mit den Folgen der Digitalisierung. Man solle keine Angst vor ihr haben, aber auch nicht denken, alles machen zu müssen, was möglich ist. Und Sie werfen einen Blick in die Zukunft. Was war der Auslöser für Sie, einen solchen doch recht breiten Ansatz für das Buch zu wählen?

Andera Gadeib: Zunächst mal: Es ist eines der wenigen Bücher zur Digitalisierung, das positiv geprägt ist und dem einzelnen helfen will, sich die eigenen Chancen im digitalen Wandel zu erarbeiten. Ich lobe das Digitale nicht über den Klee sondern gehe durchaus in Diskurs. Vor allem aber will ich motivieren, dass jeder es für sich, ebenso wie für die Gesellschaft, anpackt: Der 20jährige, der sich überlegt, wo die Reise im Leben hingehen soll, die 40jährige Mutter, die die Weichen für das eigene Berufsleben stellt aber auch das ihrer Kinder ebenso wie der 60jährige Manager, der sich fragt, wie er den Einstieg ins Digitale schafft. Der Auslöser war, dass ich seit inzwischen sieben Jahren Mandate in verschiedenen Gremien inne habe und dort insbesondere Politiker berate - ohne Parteibuch übrigens. Es geht immer darum, Lösungsansätze zu erarbeiten, wie wir Deutschland digital voranbringen. Dabei fiel mir auf: Es liegt mir, Anknüpfungspunkte zu formulieren und Vorschläge wie Umsetzungskonzepte zu erarbeiten, die auch funktionieren. Die nationale Perspektive eines Landes ist dabei gar nicht weit entfernt von meinem Berufsalltag, in dem ich die Perspektive von Unternehmen einnehme und helfe, frühzeitig die richtigen Weichen zu stellen.

Einige nationale Konzepte konnte ich bereits selbst mit anstoßen, wie etwa den Mini-Computer Calliope. Die Vision ist, dass jeder Drittklässler in Deutschland zukünftig damit lernt, das Digitale aktiv zu gestalten. Prozesse in der Politik dauern ziemlich lange und es ist nicht allein Aufgabe der Politik. Vielmehr liegt das Potential in der Gesellschaft selbst, sich einzubringen und sein eigenes Leben zu gestalten. Wenn die Digitalität, also das Leben in der digitalen Realität, einem das Gefühl gibt, geradezu überrannt zu werden ist es wichtig selbst wieder in die Gestalterrolle des eigenen Lebens zu gelangen. Nicht mehr und nicht weniger, ist der Anspruch des Buches.

marktforschung.de: Ich picke mir jetzt einmal ein Thema des Buches heraus, zumal es ja schon auf dem Cover angeteasert wird. "Keine Angst vor der Digitalisierung". Sie zählen viele berechtigte Ängste in dem Buch auf, die die Menschen haben: Arbeitsplatzverlust, digitale Demenz, Datenmissbrauch, um nur einige zu nennen. Tatsächlich aber sind heutzutage fast alle Menschen online, immer mehr ältere Menschen lernen den Umgang mit Email und Whatsapp und es entstehen viele neue Jobs. Ihre These, dass die Ängste alles überdecken und Überhand nehmen, halte ich doch für etwas übertrieben, liege ich falsch?  

Andera Gadeib: Das sehe ich anders. Zum einen ist es ein großer Unterschied, ob ich das Digitale passiv nutze - wie etwa der Umgang mit email und WhatsApp - oder aktiv gestalte. Ich bin überzeugt, dass Kanzlerin Merkel 2013 mit der Aussage "das Internet ist Neuland" vollkommen recht hatte und es bis heute gilt. Eine sehr große Anzahl Menschen fühlt sich abhängt oder bedroht durch die digitalen Möglichkeiten oder empfindet sie als unbekanntes Terrain. Da können sich Experten lustig machen, es ändert nichts daran, dass dieser radikale Umbruch der digitalen Zeit große Teile der Gesellschaft nicht mitnimmt. Neurobiologisch kennen wir nur drei Zustände, wenn uns Angst überkommt: Rückzug, Schockstarre und Angriff. Im Buch sind einige Forschungsergebnisse dazu, beispielsweise welche Chancen und Risiken die Menschen für sich in der Digitalität sehen. Hier geht es beispielsweise um den Umgang und die Transparenz was mit den eigenen Daten geschieht aber auch das Vertrauen in neue und alte Marken in Zeiten des digitalen Wandels.

Mir geht es nicht darum, Ängste zu schüren. Im Gegenteil. Ich will den Menschen in eine aktive Rolle bringen und ihm das Handwerkszeug dazu mitgeben, "positiv auf Angriff" zu schalten und das Heft selbst in der Hand zu haben. Solange wir glauben, der Umgang mit WhatsApp reiche aus, um des Digitalen mächtig zu sein, gibt es viel zu tun und ich empfehle die Lektüre des Buches. Ich meine, dass jeder ein Grundverständnis für die Logik der Programmierung haben oder in wesentlichen Zügen die Fähigkeiten und Grenzen der künstlichen Intelligenz kennen sollte. Dabei gilt es, den zutiefst menschlichen gesunden Menschenverstand und soziale Kompetenzen zu trainieren. Ganz ehrlich: Mir begegnen nahezu täglich Menschen, die das verlernt haben. Ob jung oder alt. Und genau für sie ist das Buch geschrieben.

Es stellt einen Wegweiser dar, übrigens fundiert mit Erkenntnissen aus vielen Jahren empirischer Forschung, wie dies gelingen kann. Es geht auf das wichtige Feld der Bildung ebenso ein wie in relevante Märkte, die mich seit Jahren bewegen, wie etwa Mobilität, Gesundheit oder Freizeit.

marktforschung.de: Das Buch beschreibt ja im Wesentlichen auch nicht nur alle möglichen Ängste, sondern beschreibt sehr lebendig viele Facetten unseres Lebens, die mit der Digitalisierung in Berührung kommen. Und handelt auch davon, wie wir Menschen in einer schnelllebigen Zeit wieder zur Ruhe und Konzentration finden. Gelingt Ihnen das, was Sie raten, im eigenen Leben? Und wenn ja: War das auch schon mal anders?

Andera Gadeib: Das Buch beschreibt weniger Ängste als dass es Antworten gibt darauf, wie man in und mit der Digitalität sein eigenes Leben gestaltet. Nein, mir gelingt das auch nicht einfach so. Ich arbeite täglich daran, reflektiere, spreche mit meinem Mann drüber und mit Unternehmerfreunden, von denen viele im Digitalen unterwegs sind. Mein Gegenmittel sind Auszeiten zu Hause mit Yoga oder Nähen, im Wald mit dem Pferd oder auch mal zum Ayurveda mit Freunden in Indien. In diesem Zeitalter Kinder zu erziehen - meine sind übrigens nun alle im Teenie-Alter - ist fast die größte Herausforderung. Wie viel Digitales tut ihnen gut? Was lebe ich ihnen vor? Das ist eine tägliche Aufgabe, die ich hochspannend finde. Ein Grund, warum ich mich sehr stark für digitale Bildung einsetze, in Verbindung mit der Stärkung der Sozialkompetenzen. Denn beides geht nur zusammen. Aber das ist ein anderes Thema, über das wir ja bei nächster Gelegenheit sprechen können.

marktforschung.de: Nun werfen Sie einige mutige Blicke in die Zukunft. Was schätzen Sie, an wie vielen Stellen des Buches werden Sie selbst in - sagen wir - zehn Jahren - herzhaft lachen? 

Andera Gadeib: Nun, die Glaskugel habe ich auch nicht auf dem Tisch. Aber ganz ehrlich: ein Autor, den ich schon damals beeindruckend fand als ich tiefer ins Digitale eintauchte, ist Nicolas Negroponte. Sein Buch "Being digital" erschien im Jahr meiner Abschlussarbeit in der Wirtschaftsinformatik 1996. Und Vieles von dem, was Negroponte damals für die Zukunft vorhersah, ist bis heute keine Realität, 23 Jahre später! Computer passen sich immer noch nicht dem Nutzer an, sondern zumeist ist es umgekehrt. Das rollbare Zeitungspapier existiert nur im Versuch. Lediglich Sprachassistenten haben Fortschritte gemacht, aber der Bot steht auch heute meist in keinem guten Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen. Viele Anwendungsfälle sind ganz lustig aber kein realer Businesscase, der überzeugt. Betrachten Sie etwa den Auskunftsroboter der Deutschen Bahn, der bei der Pressevorstellung vor wenigen Tagen versagte. Die Idee ist gut, die Umsetzung nicht und ich würde sagen, es gibt drängendere Probleme der Bahn statt eine KI mit lustigem Robotergesicht in Bahnhöfe zu stellen.

 Die Grundzüge meines Buches werden auch in zehn Jahren noch gelten. Beim Bildungssystem wünschte ich mir, dass meine Forderungen dann hinfällig wären, weil wir dann Revolutionäres geschafft hätten. Auch bei der "Technologie um der Technologie willen" sehe ich noch Nachholbedarf. Ich bin jetzt 20 Jahre im Marktforschungsmarkt und schon immer sprechen wir von "Customer Centricity" und dem Menschen im Mittelpunkt, vielleicht mit wechselnden Vokabeln. Ich sehe Fortschritte, aber in der Umsetzung ist noch unglaublich viel Luft nach oben. Ich freue mich darauf, dies mitzugestalten.

 Im Buch nehme ich bewusst Haltung ein, weil ich offen bin für den Diskurs. Lassen Sie uns gerne darüber streiten. Im Interview heute haben Sie kess nachgefragt, aber zum Streit reicht es noch nicht. Dabei glaube ich, wir sollten über Überzeugungen sprechen und noch viel tiefer einsteigen. Ich bin bereit dazu. Wie steht es bei Ihnen?

marktforschung.de: Das bin ich auch, ich freu' mich drauf! Vielen Dank, Frau Gadeib, für das Gespräch! 

Das Interview führte Tilman Strobel

 

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