Christian Dössel, PRS IN VIVO Die "Drivers of Influence" in der Marktforschung – wie Verhaltenswissenschaft dabei hilft, Studienteilnehmer in der aktuellen Phase besser zu verstehen

Durch Corona muss auch die Marktforschung umdenken und Forschungsmethoden den Umständen entsprechend anpassen und auf Online-Methoden ausweichen. Schon unter normalen Umständen muss man als Marktforscher sichergehen, dass die Antworten nicht durch externe Faktoren beeinflusst werden. Wie kann man vor allem jetzt garantieren, dass die Ergebnisse valide und zuverlässig sind?

Wenn wir forschen, befragen, beobachten etc., dann passiert das nie isoliert. Unsere Teilnehmer haben ihr Leben, ihre Familien und Freunde, Sorgen und Zerstreuung… Wir mischen uns ein und bitten Sie, sich an unserer Forschung zu beteiligen. Klar also, dass es immer einen Kontext gibt, in dem wir die Antworten erhalten…

Unter normalen Umständen schon wollen unsere Kunden und Partner wissen, wie externe Faktoren die Antworten von Studienteilnehmern beeinflussen:

  • Sind Teilnehmer aus bestimmten Ländern kultur- und verhaltensbedingt eher zu emotionalen Antworten geneigt?
  • Wirkt sich der Wochentag, an dem eine Umfrage gestartet wird, auf die Ergebnisse aus?
  • Hat eine Umfrage, die während der Weihnachtsferien durchgeführt wird, eine schlechtere oder bessere Rücklaufquote: Die Leute sind mit ihrer Familie beschäftigt, so dass sie vielleicht nicht antworten. Oder suchen die Leute nach Dingen, die sie tun können, um Abstand von der Familie zu bekommen, so dass sich eine Studie tatsächlich schneller mit Antworten füllt?

Es liegt auf der Hand, dass die gegenwärtigen Umstände beispiellos sind hinsichtlich der negativen Auswirkungen auf die Verbraucher weltweit. Wir müssen also besonnen und mit Klarheit darüber nachdenken, wie wir die Konsumenten-Forschung zur Zeit angehen.

Aber genau jetzt ist es auch wichtig die Verbraucherstimmungen und die Verhaltenstreiber zu verstehen… und sei es auch nur, um Marken oder Entscheidern dabei zu unterstützen sensibel mit Konsumenten zu kommunizieren und Entscheidungen sowie Präferenzen zu steuern.

Ich bin in den letzten zwei Wochen so oft wie nie zuvor gefragt worden, ob wir zeigen können, dass Forschung, die während dieser Pandemie durchgeführt wird, zuverlässig und validiert ist. Diese Fragen sind für mich völlig nachvollziehbar. Marken brauchen das Vertrauen, dass die während dieser Zeit eingesetzten Methoden immer noch zuverlässige Entscheidungshilfen für Strategie und Planung liefern – aufbauend auf Konsumentenforschung.

Marken brauchen pragmatische Beratung und Zusicherungen von verlässlichen Partnern in Bezug auf Methoden und Zeitplanung von Projekten, auch wenn das mal bedeutet, dass Verzögerungen und Verschiebungen empfohlen Alternativen zur Durchführung neuer Projekte vorgeschlagen werden. Marken, die mit verlässlichen Marktforschungspartnern zusammenarbeiten, müssen Sensibilität für die Art und Weise zeigen, wie wir gemeinsam auf die Befragten zugehen, wenn in dieser speziellen Zeit Studien geplant oder durchgeführt werden.

Dies sind die vier Fragen, die mir von Marken im Moment am häufigsten gestellt werden:

1. Wie können wir sicher sein, dass alternative Online-Methoden genauso zuverlässig sind wie die Kennzahlen aus Face-to-Face Studien, auf die wir uns normalerweise verlassen?

Die beste Option für Marken, die Online-Alternativen für Face-to-Face Forschung in Betracht ziehen, ist die Zusammenarbeit mit Anbietern, die Ihre Online-Methoden gründlich evaluiert und validiert haben (und das nicht nur sagen sondern auch zeigen). Dazu gehören Parallel-Tests von Methoden, Vergleiche mit früher durchgeführten Studien aber vor allem die Offenlegung der Ergebnisse dieser Evaluationen. Das sollte in der Tat zum Standard-Prozess gehören und für alle Innovationen gelten, immer, aber besonders relevant in der jetzigen Zeit.

Das setzt voraus, dass Sie mit Anbietern zusammenarbeiten, die sowohl persönliche als auch Online-Methoden beherrschen. Auf diese Weise gibt es echte Vergleichsdaten, auf die man sich verlassen kann. Und die Bewertungen sind nicht durch irgendein, selbst gut gemeintes, Eigeninteresse verzerrt.

Der Punkt ist, dass ein vertrauenswürdiger Berater die Unterschiede von Online- und Offlinemethoden sehr gut kennt und in der Lage sein wird, sie zu artikulieren. Solche Dienstleister verfügen in der Regel über die nötigen Validierungsmethoden und können Vor- und Nachteile evidenzbasiert transparent machen – egal ob qualitative oder quantitative Forschung.

2. Gibt es Kategorien, die von der Krise stärker negativ betroffen sind? Sind die Antworten der Befragten angesichts der Krise wirklich zuverlässig und prädiktiv?

Wenn man sich das mal nur für Shopper-, Verpackungs- und Produktforschung anschaut (da habe ich die meiste Erfahrung), dann sieht die Realität so aus, dass wir alle nötigen Techniken einsetzen, um die Datenqualität unserer Beobachtungen und Befragungen zu gewährleisten. In Zusammenarbeit mit unseren Panelpartnern überwachen wir Muster, Antwortraten und -zeiten. Wir suchen nach Dingen, die ein verdächtiges Verhalten der Befragten aufzeigen würden, wir vergleichen mit unseren Datenbankbenchmarks. Und wir evaluieren Antworten auf offene Fragen, während wir nach Anomalien oder Indikatoren für eine Abweichung von dem suchen, was wir in normaleren Zyklen gesehen haben. Rekrutierungsspezialisten überwachen wie immer die Rücklaufquoten, und mit wenigen Ausnahmen stellen auch wir (wie viele andere auch) bei den Online-Studien eine bemerkenswerte Stabilität fest.

Es ist auch hilfreich, wenn Sie es mit Agenturen zu tun haben, die über umfassende globale Erfahrung verfügen, so dass die Analyse auf Erfahrungen mit kulturellen Normen basiert. Da die Pandemie in China vom akuten Zustand in den Beginn der Rückkehr zur Normalität übergegangen ist, konnten wir beobachten, wie sich das Verhalten der Online-Käufer entwickelt hat, und dies mit dem derzeitigen Verhalten z.B. in den USA vergleichen. Und während die Dinge in manchen Ländern langsam zu einem neuen Gefühl der Normalität zurückkehren und sich die Versorgung im Lebensmittelhandel  (sowohl online als auch im stationären Handel) stabilisiert, werden wir weiterhin die Kategorien auf der Grundlage von allen gesammelten Daten bewerten, um uns selbst und Marken zu informieren.

3. Gibt es auch Forschungsalternativen, die wir in Betracht ziehen könnten, bis sich die Dinge beruhigt haben und sich die Umstände geklärt haben?

Überall dort wo es Daten gibt, die ohne neue Befragungen ausgewertet werden können, kann auf Wissen zugegriffen werden, das nicht durch die Verbraucherstimmung infolge des COVID-19-Virus beeinflusst wurde.  Es gibt zahlreiche Agenturen, die über äußerst kreative und innovative Tools verfügen, um mit Hilfe von Datenanalysen Erkenntnisse aufzudecken, ohne eine einzige neue Frage an Personen zu stellen.

Interessant sind in diesem Zusammenhang KI-basierte Tools, die mit umfangreichen Datenbeständen trainiert, bessere Ergebnisse voraussagen können. Ein Beispiel aus unserer Praxis ist der AI Pack Screener, der unsere große Verpackungs- und Regaldatenbank in Verbindung mit einer internen Expertenbewertung nutzt, um effektive neue Verpackungslösungen vorherzusagen.

Vielversprechend auch die Nutzung von passiven Trackingdaten zur Verfolgung des Webverhaltens der Shopper vor dem Kauf zum holistischen Verständnis des path-to-purchase.

Damit lassen sich natürlich nicht alle Fragen einer Marke beantworten. Aber die Korrelation mit Ergebnissen aus anderen Forschungsansätzen bietet eine weitere Möglichkeit, wie Marken in dieser kritischen Zeit geholfen werden kann. 

Und die besten Agenturpartner sagen Ihnen sogar, wann es an der Zeit ist, nichts zu tun, und helfen Ihnen dabei, bessere Zeiten zu identifizieren, um Researchbudgets effizienter und effektiver einzusetzen.

4. Wie kann uns die Verhaltenswissenschaft dabei helfen, die Einflussfaktoren bei der Arbeit mit Konsumenten- und Shopperverhalten in dieser Zeit zu verstehen?

Ich bin ziemlich davon überzeugt, dass in dieser Zeit der Herausforderung ein starker verhaltenswissenschaftlicher Rahmen ein guter Ansatz ist, um einen Einblick dafür zu finden, wie Marken einfühlsam auf die Sorgen der Verbraucher eingehen können. 

"Knappheit" (scarcity) oder "Verlustaversion" (loss aversion) haben beide einen enormen Einfluss auf das Käuferverhalten gehabt, ziemlich irrational wie beim Hamstern von Produkten wie Toilettenpapier, Handdesinfektionsmittel, Nudeln oder Mehl.

"Fairness" hat sich zunehmend als Markenattribut herauskristallisiert, und "Reziprozität" (reciprocity) könnte in Zukunft zu Markentreue bei solchen Unternehmen führen, die angesichts der Krise vor allem wegen altruistischer Aktivitäten in Erinnerung bleiben werden. Marken wie Diageo, Beiersdorf und der Parfümhersteller LVMH haben einige ihrer Herstellungsprozesse auf die Herstellung von Handdesinfektionsmitteln umgestellt. Melitta produziert Atemschutzmasken auf Basis von Filtertüten.

Interessanterweise dürfte "Saliency" oder die Wiedererkennung der "am häufigsten verwendeten Marken" weniger ein Faktor sein, wenn eine Lieblingsmarke nicht verfügbar ist. Eine alternative Marke, die auf der positiven "Emotion" der Verbraucher für ein Bedürfnis basiert, das in schwierigen Zeiten erfüllt wird, kann hier schnell eine neue Anhängerschaft aufbauen.

Der Punkt ist, dass Marken für ihre Shopper- und Konsumentenforschung Agenturen ­mit tiefem Fachwissen und einem validierten Behavioral Framework benötigen werden, um Verbraucherwahl sinnvolle Bedeutung zuzuweisen, die die Grundlage für Marketing- und Produktstrategien sein kann, wenn die Krise vorbei ist.

Es werden zweifellos noch ein paar schwierige Zeiten vor uns liegen. Wir werden weiter lernen und sollten Ergebnisse miteinander teilen, um richtige Entscheidungen zu treffen: für unsere Kunden, für die Konsumenten aber auch für unsere Mitarbeiter und für die Gesellschaft, in der wir alle zusammenleben.

Der Autor:

Christian Dössel, PRS IN VIVO
Christian Dössel arbeitet als Senior Director für PRS IN VIVO in Hamburg quantitativ und qualitativ an der Schnittstelle von Konsumentenforschung und Behavioral Economics. In seiner bisher 20 Jahre andauernden Tätigkeit in der Markforschung ist er mit Organisationen unterschiedlichster Größe, Geschäftsausrichtung und Kultur in Berührung gekommen. 

 

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  1. Edward am 29.04.2020
    Interesting article, thanks. On Behavioural Economics - I'm a fan too, but some of its core concepts eg fatigue/ depletion aren't exactly flavour of the month....https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/apr/26/nudge-theory-is-a-poor-substitute-for-science-in-matters-of-life-or-death-coronavirus. Many of BE experiments are challenged as being artificial; then there is the question of the replication robustness and thereby validity. In Coronavirus times - I'd go with hard science ;) whatever that means.

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