Designforschung mithilfe von Virtual-Reality-Brillen: realitätsnah, effizient und spannend!

Virtual-Reality-Brillen (VR-Brillen) kommen einer wirklichkeitsgetreuen Darstellung immer näher. Sie bieten dem Nutzer die Möglichkeit, in virtuelle Welten einzutauchen (Immersion) und diese detailliert zu betrachten. Große Realitätsnähe, bei vergleichsweise geringen Kosten und einem hohen Involvement der Probanden, macht diese Technik für die Designforschung besonders interessant. Im Auftrag der Deutschen Bahn hat Ipsos eine Studie zur zukünftigen Gestaltung der Fernverkehrszüge durchgeführt, bei der erstmalig VR-Brillen zum Einsatz kamen. Dabei wurde die Oculus-Rift-Brille, ein Vorreiter in der VR-Technik, verwendet. Dieser Beitrag zeigt, wie und für welche Fragestellungen diese Technik eingesetzt werden kann.

Evaluation unterschiedlicher virtueller Designentwürfe

Das Design spielt eine wichtige Rolle für den Reisekomfort, das Reiseerlebnis und die Zufriedenheit von Reisenden. Dementsprechend ist die Erforschung von Kundenbedürfnissen und -anforderungen zentral für die Entwicklung und Optimierung von Zug-, Bus-, Flug- oder Fahrzeugdesigns. Designforschung bei der Deutschen Bahn erfolgte bisher in der Regel direkt am Objekt, zum Beispiel in einem fahrenden, stehenden Zug oder in einem Mockup, das heißt in einer maßstabsgetreuen Nachbildung eines Zuges beziehungsweise eines Wagens, im Rahmen von sogenannten Clinics oder Laboren.

Der verstärkte Einsatz digitaler Innovationen und Angebote im Personenverkehr der Deutschen Bahn (Mobilität 4.0) bewegte das Produktmanagement des Fernverkehrs und die Konzernmarktforschung dazu, Instrumente digitaler Herkunft für Forschungszwecke "auszuprobieren" beziehungsweise zu testen. Vor diesem Hintergrund kam es zum Einsatz von VR-Brillen, zur Darstellung von Designentwürfen bei der Untersuchung zukünftiger Zugmodernisierungsmaßnahmen.

Dabei wurden den Probanden in einem qualitativen Forschungsansatz unterschiedliche virtuelle Entwürfe gezeigt, die unter anderem bezüglich der Anzahl und Anordnung der Sitzplätze, der Größe und Anzahl von Tischen und Ablagemöglichkeiten variierten. Zielsetzung war die Eruierung, welcher Designentwurf den Bedürfnissen der Reisenden am stärksten entsprach und wie das Design insgesamt verbessert werden könnte. Dabei spielten emotionale Aspekte wie Atmosphäre und Raumgefühl, aber auch funktionale Aspekte wie Ausstattung, beispielsweise eine adäquate Tischgröße und Position, eine Rolle.

Abb. 1: Blick durch die VR-Brille (Bild: Ipsos / Deutsche Bahn)
Abb. 1: Blick durch die VR-Brille (Bild: Ipsos / Deutsche Bahn)

Abb. 2: Blick durch die VR-Brille (Bild: Ipsos / Deutsche Bahn)
Abb. 2: Blick durch die VR-Brille (Bild: Ipsos / Deutsche Bahn)

VR-Brillen ermöglichen eine realitätsnahe Darstellung von Design-Entwürfen

Eine VR-Brille ist ein visuelles Ausgabegerät in Brillenform, das beim Träger der Brille ein dreidimensionales Bild entstehen lässt. Durch die realitätsnahe 360-Grad-Darstellung hat der Träger einer solchen Brille die Möglichkeit vollständig in die virtuelle Realität einzutauchen und sich durch die Drehung des Kopfes in den virtuellen Zugentwürfen umzusehen. Anhand eines Spiel-Controllers, wie etwa in der X-BOX 360, kann er sich vorwärts, rückwärts und seitwärts innerhalb des virtuellen Zugs bewegen.

Begleitet wurde der Proband von einem qualitativen Marktforscher, der über die Verkabelung der VR-Brille an einem PC-Bildschirm die Kopfbewegungen des Befragten auf dem Bildschirm beobachten und nachvollziehen konnte. Dadurch konnte der Forscher gezielt Fragen zu Design und Zugausstattung stellen. Auf diese Weise wurden die Atmosphäre, der räumliche Eindruck, die Ausstattungskomponenten und die Gesamtattraktivität der jeweiligen Zugentwürfe evaluiert.

Abb. 3: Proband während der Design-Evaluation (Bild: Ipsos / Deutsche Bahn)
Abb. 3: Proband während der Design-Evaluation (Bild: Ipsos / Deutsche Bahn)

Immersion und Involvement

Zu Beginn der Design-Untersuchung wurde der Proband in die Bedienung der VR-Brille mithilfe des Controllers eingewiesen. Durch die unkomplizierte Steuerung via Joystick waren auch Teilnehmer mit wenig oder keiner Erfahrung mit Spiel-Controllern in der Lage, selbstständig durch den Gang und den Großraumwagen des Zuges zu navigieren. Um Stimulus-bedingte Verzerrungen im Hinblick auf die Bewertung der virtuellen Großraumwagen zu vermeiden, begann die Design-Evaluation nicht direkt im Großraumwagen, sondern im Gang des Zuges. Jeder Tester erhielt dort mehrere Minuten Zeit, um sich an das Virtual-Reality-Erlebnis und die Steuerung zu gewöhnen. Anschließend erfolgte die virtuelle Begehung der unterschiedlichen Großraumwagen-Designentwürfe. Die dreidimensionale Darstellung und die Bewegung im Raum wurden als realitätsnah wahrgenommen, was die Reaktionen der Teilnehmer verdeutlichen:

"Man hat das Gefühl, da richtig drin zu sein, das ist so wie in echt."

"Ich fand, es gibt einem einen wirklich sehr guten Eindruck. So als wäre man im Großraumwagen, und man kann ja auch agieren."

Die Realitätsnähe der Raumwahrnehmung und das Eintauchen in die virtuelle Realität zeigen sich auch darin, dass die Probanden bei ihrer Bewertung nach virtuellen Objekten, etwa den Tischen, griffen oder darauf zeigten. Die realitätsnahe Form der Darstellung und die Möglichkeit, sich im virtuellen Raum zu bewegen, führten zu einer lebhaften und intensiven Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Designentwürfen, bei der ausführliche und detaillierte Designerfahrungen und Informationen zur Wirkung der jeweiligen Großraumwagen sowie konkrete Optimierungsempfehlungen gewonnen werden konnten.

Virtuelle Auszeiten und selbstständige Navigation, um Motion Sickness zu begegnen

Den positiven VR-Effekten, wie großer Realitätsnähe und hohem Involvement der Probanden, steht das Phänomen der Motion Sickness gegenüber, das Übelkeits- und Schwindelgefühle bei der Nutzung von VR-Brillen beschreibt. Das Auftreten dieses Problems ist bekannt und wird dadurch erklärt, dass die Sinnesorgane unterschiedliche Informationen gleichzeitig verarbeiten müssen: Im Fall dieser Studie erklärt sich Motion Sickness durch die Bewegung in dem virtuellen Raum mithilfe des Controllers, während der Proband selbst bewegungslos auf einem Stuhl sitzt. Beeinflusst wird dies auch durch die Qualität der Auflösung, die Bildwiederholfrequenz und die Latenz beziehungsweise Verzögerung, mit der die (Kopf)-Bewegungen des VR-Brillen-Trägers in die virtuelle Darstellung übertragen werden. Dem Problem der Motion Sickness wurde in der Fernverkehrszug-Studie dadurch entgegengewirkt, dass die Befragten, sobald erste Gefühle des Unbehagens auftraten, die VR-Brille abnahmen und eine kurze virtuelle Auszeit einlegten.

Zusätzlich wurde die virtuelle Begehung, die Wahrnehmung und offene Bewertung der Großraumwagen auf maximal 25 Minuten begrenzt. Die Teilnehmer navigierten selbstständig durch die Großraumwagen, in ihrem eigenen Tempo.

Insgesamt setzten sich alle Probanden mit den unterschiedlichen Designentwürfen auseinander. Tester, die von Motion-Sickness-Effekten betroffen waren, zeigten sich dennoch begeistert über die Realitätsnähe und Bewegungsmöglichkeiten im virtuellen Raum:

"Mir war schon ein bisschen schwindlig zwischendurch, aber trotzdem fand ich super, dass es so echt aussieht und man hin- und hergehen und sich umschauen kann."

Durch die technischen Weiterentwicklungen im Bereich der VR-Brillen, eine exakte Ortung und verzögerungsfreie Wiedergabe aller Bewegungen sollte sich das Problem der Motion Sickness bei zukünftigen Studien weiter verringern lassen, im besten Fall gar nicht mehr auftreten. Auch die Bildschirmauflösung wird zukünftig weiter steigen und die Realitätsnähe erhöhen.

Positive Erfahrungen überwiegen, zudem vergleichsweise geringe Kosten

Insgesamt überwiegen die positiven Erfahrungen beim Einsatz einer VR-Brille. Diese bietet eine wirklichkeitsgetreue Darstellung, bei der die Teilnehmer sich aktiv mit einem virtuellen Designentwurf auseinandersetzen können. VR-Technik lässt sich, wie die durchgeführte Studie zeigt, besonders sinnvoll einsetzen, wenn die Wahrnehmung und Wirkung des Raumes eine Rolle spielt.

Im Vergleich zu einem konventionellen Mockup bestehen Zeit-, Raum- und Kostenvorteile. Programmierung und Technik, die für die Evaluation der virtuellen Designentwürfe benötigt werden, sind vergleichsweise günstig. Zusätzliche Varianten eines Designentwurfs oder Änderungen am Testmaterial können von der Programmierung flexibler, zügiger und günstiger umgesetzt werden. Zudem sind die Kosten für Raummiete, Logistik und Transport bei einer Darstellung mithilfe einer VR-Brille wesentlich geringer, als bei einem physischen Mock Up.

Kunden frühzeitig in den Entwicklungsprozess integrieren

Die Möglichkeit, unterschiedliche Designvarianten zu testen und diese Entwürfe dann vergleichsweise flexibel anzupassen, ist besonders vor dem Hintergrund der Implementierung agiler Design-Thinking-Ansätze bei der Deutschen Bahn von großem Nutzen. Beim Design Thinking stehen die Bedürfnisse und Motivationen der Kunden während des gesamten Produktentwicklungsprozesses im Fokus. Die Reisenden werden möglichst frühzeitig in den Entwicklungsprozess neuer Zugprodukte miteinbezogen, sodass ihre Bedürfnisse und Anregungen in mehreren Entwicklungsschleifen optimal in die Gestaltung der Produkte einfließen können. Dabei bietet die VR-Brille eine einfache Möglichkeit, Designentwürfe realitätsnah zu testen und in einem iterativen Prozess bis zur Markteinführung zu verbessern. Es entsteht ein ausgereiftes, mit Kunden entwickeltes Design, das im Idealfall kurz vor Marktauftritt nicht mehr physisch angepasst werden muss.

Virtuell bleibt virtuell?

Trotz ihrer Vorteile können VR-Brillen physische Tests nicht komplett ersetzen. Zum Beispiel, wenn es um die Haptik und Qualität verbauter Materialien oder die Handhabung der Ausstattung geht. Noch unklar ist die Frage, in welchem Maße sich die Ergebnisse auf die Realität übertragen lassen: Inwiefern unterscheidet sich die räumliche virtuelle Wahrnehmung im Großraumwagen von der Wahrnehmung in der Realität, zum Beispiel, wenn es um die Beinfreiheit geht? Dabei spielen die wahrgenommenen und geschätzten Größenverhältnisse eine Rolle. Zudem stellt sich auch die Frage, wie sich die virtuelle Realität, in der es beispielsweise keinen Schmutz, keine anderen Fahrgäste und kein Gepäck gibt, auf die Bewertung der Designentwürfe auswirkt? Eine Programmierung derartiger Faktoren, welche die Darstellung noch näher an die Realität rückt, wäre durchaus denkbar. Generell bedarf es daher weiteren Untersuchungen und Methodentests, um die Auswirkungen und die Übertragbarkeit virtuell gewonnener Erkenntnisse in der physischen Realität zu belegen. 

Die Zukunft ist VR

Die Erfahrungen aus dieser Pilotstudie und anderen Designstudien der Deutschen Bahn und Ipsos zeigen das Potenzial von VR-Technik für die Designforschung. Der Einsatz von VR-Brillen bietet eine wirklichkeitsgetreue Darstellung von Designentwürfen, bei der die Probanden in die virtuelle Realität eintauchen und sich so ausführlich mit dem jeweiligen Design auseinandersetzen können. Es lassen sich die Designwirkung und Raumwahrnehmung realitätsnah evaluieren und konkrete Handlungsempfehlungen zur bedürfnisgerechten Anpassung von Designentwürfen gewinnen. Unterschiedliche Designvarianten können im Vergleich zu einem Mockup kostengünstig evaluiert und angepasst werden. Designentwürfe werden so Schritt für Schritt, in enger Zusammenarbeit mit den Kunden, an deren Bedürfnisse angepasst. Diese Technik ist dabei prinzipiell für jede Zielgruppe, auch ohne VR-Erfahrung, nutzbar. Insofern ist davon auszugehen, dass sich die Technik im Rahmen von Pretotyping einen festen Platz im Designforschungsprozess sichern wird.

Die Autoren:

Arne Hellwig, Ipsos (Bild: Ipsos)
Arne Hellwig, Ipsos (Bild: Ipsos)
Arne Hellwig ist qualitativer Marktforscher bei Ipsos in Hamburg. Er hat Sozial- und Kommunikationswissenschaften studiert und ist seit 2012 bei Ipsos beschäftigt. Zu seinen thematischen Schwerpunkten gehören neben der Mobilitäts- und Designforschung auch Kommunikationsforschung und Produktneuentwicklung.
 

Muriel Girard-Reydet, DB Mobility Logistics AG (Bild: DB Mobility Logistics)
Muriel Girard-Reydet, DB Mobility Logistics AG (Bild: DB Mobility Logistics)
Muriel Girard-Reydet ist Projektleiterin Marktforschung bei der DB Mobility Logistics AG in Frankfurt/Main seit 2001. Zu ihren Schwerpunkten gehören Zug-, Sitz- und Buslabore, UX-Tests digitaler Angebote und Konzepttests für den Personenverkehr.
 

Marina Scheckenbach, DB Fernverkehr AG (Bild: DB Fernverkehr AG)
Marina Scheckenbach, DB Fernverkehr AG (Bild: DB Fernverkehr AG)
Marina Scheckenbach ist Projektleiterin im Kundenzufriedenheitsmanagement ICE/IC in Frankfurt/Main und seit 2009 bei der DB Fernverkehr AG tätig. Schwerpunktmäßig kümmert sie sich im Produktmanagement um die Ermittlung der Kundenbedürfnisse hinsichtlich der Zuggestaltungen, -ausstattung und -modernisierung von Fernverkehrszügen.

 

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