Rückblick auf die WdM-Daily-Keynote vom 10.5.2022 Der tragische Disconnect zwischen Marktforschung & Psychologie

An der von Horst Müller-Peters moderierten Diskussion am 10. Mai, in welcher es primär um die Frage ging, ob die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Psychologie in der Marktforschung vernachlässigt werden, nahmen die folgenden drei Psychologie-Experten teil:
- Florian Klaus, Director BrandPsychology bei K&A BrandResearch
- Micheal Schießl, Gründer & Geschäftsführer von eye square
- Gabriele Naderer, Professorin für Marktpsychologie und Käuferverhalten an der Hochschule Pforzheim
Wie ist die Rolle der Psychologie in der Marktforschung?
Für Florian Klaus ist es „Common Sense“, dass Psychologie wichtig in der Marktforschung ist. Denn überall – ob in Publikationen oder Webseiten – sei davon die Rede, dass es in dem Feld in der ein oder anderen Form um Psychologie ginge. Allerdings würden veraltete Grundannahmen, von denen in der Wissenschaft schon längst Abstand genommen worden wäre, noch immer an sehr vielen Stellen der Marktforschung auftauchen. Sehr direkte Fragen zu stellen und Einstellungsveränderungen, von denen wir mittlerweile wissen sollten, dass sie von der befragten Person selbst nicht realitätsgetreu eingeschätzt werden können, abzufragen, sei immer noch weit verbreitet.
Auch auf Seiten der qualitativen Forschung würde man oftmals noch „sehr, sehr, sehr“ in die Tiefe gehen und sich zu stark auf Themen rund um die Psyche verlassen. Denn auch hier wäre aus der Wissenschaft längst bekannt, dass die Ergebnisse zwar plausibel und anschaulich wirken, aber meist wenig Aussagekraft über tatsächliche Verhaltensgründe haben. Eine positive Entwicklung hingegen, die Florian Klaus in der Branche beobachtet, sei, dass Experimente zunehmend an die Stelle von Befragungen treten würden. Diese Methode sei, so glaubt er, besser als jede andere, um so nah wie möglich an das tatsächliche Verhalten von Befragten heranzukommen.
Gabriele Naderer gibt mit Blick auf die Fakten, die aus der BVM-Satzung hervorgehen, zu bedenken, dass tatsächlich nur ein kleiner Prozentsatz der Marktforschenden in dem Bereich der Psychologie ausgebildet sei und zweifelte damit die Aussage von Florian Klaus, dass Psychologie „Common Sense“ in der Marktforschung sei, an. Aus der Satzung zitiert sie, dass „Marktforschung […] nicht auf einzelne wissenschaftliche Disziplinen beschränkt“ sei. Sie kommt zwar ebenfalls zu dem Schluss, dass Psychologie eine zentrale Rolle in der Marktforschung spielt – zumindest immer dann, wenn es um die Erklärung des menschlichen Verhaltens ginge –, stellt unter Betrachtung der Faktenlage jedoch kritisch in Frage, ob Psychologie eine zwingende Voraussetzung ist, um ein guter Marktforscher oder Marktforscherin zu sein.
Sie merkte ebenfalls an, dass die Psychologie oftmals zu undifferenziert betrachtet würde. So müsse man in dem breiten Feld der Psychologie – gerade, wenn es um dessen Rolle geht – zwischen den verschiedenen Teildisziplinen – ob Umweltpsychologie, Entwicklungspsychologie oder soziale Psychologie – unterscheiden. Denn beispielsweise spiele Entwicklungspsychologie für sie – sofern nicht Marktforschung für Kinder betrieben würde – eine eher geringe Rolle in der Marktforschung, während der Umweltpsychologie mit Blick auf die voranschreitende Digitalisierung bislang zu wenig Beachtung geschenkt würde.
Wie groß ist der Psychologie-Anteil im Marktforschungsstudium?
Auf die Frage hin, wie groß der Anteil an Psychologie-Inhalten in dem von Gabriele Naderer betreuten Studiengang sei, gibt die Professorin erneut zu bedenken, dass Psychologie nicht die einzige wichtige Disziplin in der Marktforschung sei. Im Fokus des Studiengangs stehe Interdisziplinarität, denn schon sie habe sich in ihrer Ausbildung einen größeren Bezug zu ökonomischen und marktforschungsrelevanten Fragestellungen gewünscht. Demnach machen Marketing sowie Methodenlehre einen großen Anteil des Studiengangs aus. Es sei ein Trugschluss, dass Marktforschung immer nur aus Vorlesungen zu Freud, Tiefenpsychologie und kognitiven Prozessen bestünde, tatsächlich würde die Methodenausbildung einen Großteil abdecken. Unter der Prämisse, dass die Methodenlehre unter Psychologie fällt, läge der Psychologie-Anteil bei etwa 60 Prozent. Ohne die Methoden läge der Anteil nur bei 30 Prozent der Gesamtstudieninhalte.
Psychologie in der Marktforschungspraxis
Auf die Frage hin, wie K&A psychologische Aspekte integriere, erklärt Florian Klaus, dass im Quantitativen nach wie vor oft Standalone-Tests (z. B. Konzepttest, Packungstest, Preistest) durchgeführt werden, die es für Marktforschende schwer machen, sich ein Gesamtüberblick zu verschaffen. K&A konzentriere sich deshalb auf Full-Concept-Tests. Dabei breche man die Fragestellung nicht auf kleinstmögliche Beobachtungseinheiten runter – wie es sonst oftmals der Fall sei –, sondern versuche komplexe Zusammenhänge zu liefern. Mit Vorher-Nachher-Messungen mache das Institut zudem nachvollziehbarer, wie sich das Nutzerverhalten potenziell verändern kann.
Das Verhalten interessiert uns stärker als die geäußerte Einstellung,
merkt Florian Klaus an, während er erklärt, dass K&A im Rahmen der Tests versuche, möglichst viele Aspekte, die den Alltag der Befragten beeinflussen, zu inkludieren.
Im qualitativen Bereich stünde insbesondere das von K&A eingeführte Tool Psychodrama im Vordergrund. Auch hier läge der Fokus darauf, den Kontext des Nutzerverhaltens einzubeziehen und Verwendungssituationen zu identifizieren.
Die Stellung des Fragebogens in der Psychologie
Der Fragebogen sei an sich als Erhebungsmethode nichts Schlechtes, gibt Michael Schießl zu, er sei allerdings „sehr großspurig“. Klassische Befragungen würden die volatilen Audiences, mit denen wir es heutzutage zu tun hätten sowie die mediale Situation, in der wir uns heute befänden, nicht allumfänglich erfassen. So müsse die Erhebungsmethode der Befragung in unser heutiges digitales Umfeld eingebunden werden, welches deutlich weniger von klaren Kognitionen geprägt ist als noch vor 20/30 Jahren. Mit der folgenden Aussage betont Michael Schießl nochmals, dass Befragungen durchaus noch sinnvoll seien:
Die Psychologie hat keine Feindschaft zum Fragebogen.
Er macht jedoch auch deutlich, dass diese eher als Ergänzung für experimentelle Ansätze dienen sollten. Für ihn bildet die experimentelle Psychologie eine gute Basis zwischen rein quantitativ und qualitativ, die beides vereint.
DIY – gut oder schlecht?
Do-It-Yourself-Lösungen erfreuen sich in der Marktforschungsbranche immer größerer Beliebtheit. Es stellt sich jedoch vermehrt die Frage, ob sich die Qualität der Marktforschungsergebnisse durch die Tools verschlechtert hat – jetzt, wo das Methoden-Know-how der Institute kaum mehr zum Einsatz kommt.
Gabriele Naderer sieht diesbezüglich die Gefahr, dass die Technologisierung, die die Marktforschungsbranche bzw. die empirische Forschung in den letzten Jahren erfahren hat, die Generierung von Do-It-Yourself-Daten zunehmend vereinfacht. Sie fürchtet, dass dadurch Daten nicht sachgemäß mit angemessenen Methoden im richtigen Kontext eingesetzt werden. Nichtsdestotrotz erkennt sie die Möglichkeit, schnell Daten zu vielen unterschiedlichen Themen ohne großen Aufwand und ohne differenzierte Ausbildung zu sammeln, als großen Vorteil.
Michael Schießl teilt die Sorge um das Voranschreiten der DIY-Tools eher weniger, er sieht die Entwicklung hingegen als große Befruchtung für die Branche.
Auch Florian Klaus ist gegenüber DIY-Tools größtenteils positiv gestimmt:
Ich finde DIY deshalb überwiegend bereichernd und erlebe im Institut auch eher seit DIY eine größere Bedeutung der fundierten, tiefgreifenderen qualitativen Tools.
So gäbe es viele Fragestellungen, die ohne DIY überhaupt nicht beforscht werden würden. Er kann aus eigenen Erfahrungen bestätigen, dass DIY kein „Downgrade“ darstelle. Er betont allerdings auch, dass Kunden und Kundinnen gerade erst lernen würden, mit DIY umzugehen und eine Grenze zu ziehen, zwischen Projekten, bei denen sie zusätzliche Expertise benötigen und Projekten, die sie tatsächlich komplett selbst betreuen können. Somit teilt er die Sorge von Gabriele Naderer, dass DIY-Tools teilweise falsch eingesetzt oder interpretiert werden. Er appelliert in diesem Zuge an die DIY-Anbieter, ihre Tools sauber aufzusetzen und richtig zu programmieren.
Spielt Freud heute noch eine Rolle?
Florian Klaus verneint diese Frage deutlich. Für ihn genüge ein Blick in die führende Literatur zu Tiefenpsychologie, um festzustellen, dass Freud in heutigen Theoriegebäuden keine Bedeutung mehr zukäme. Den einzigen Überschneidungspunkt, den er zwischen heutigen Theorien (z. B. Kahnemann) und der von Freud sehe, sei, dass beide Seiten davon ausgehen, dass ein großer Teil unseres Erlebens und Verhaltens nicht durch uns selbst rational beschreib- und steuerbar ist.
Neben der auf das innere Kind abzielenden Erklärung von Freud für dieses Phänomen behauptet Kahnemann, dass sich unser Gehirn in einem „Energiesparmodus“ befände und der Großteil unserer alltäglichen Entscheidungen von unserem Bauch als Autopilot getroffen würden und deshalb nicht von uns selbst rational steuerbar seien.
Michael Schießl widerspricht der Theorie Kahnemanns deutlich. Obwohl er Freuds Theorie und Entwicklungspsychologie ebenfalls für „überholt“ erachtet, hält er die Energiesparmodus-Metapher für Unsinn. Mit der Theorie von Lacan im Hinterkopf fokussiere sich eye square auf die Psychoanalyse, mit welcher es, so Schießl, gelinge, „den Menschen in seiner Größe wieder in Marktforschungslösungen zu verankern“.
Florian Klaus sieht hingegen mit Blick auf Fragestellungen, bei denen Entwicklungen erklärt und prognostiziert werden sollen, experimentelle Ansätze als einzige Möglichkeit, valide Erkenntnisse zu generieren. Hinsichtlich der Tiefenpsychologie habe er stets Bedenken, dass die Ergebnisse zu spekulativ, zu anekdotisch oder zu unterhaltsam wirkten.
Gabriele Naderer greift den Gedanken, dass alle Modelle der Psychologie veraltet seien, auf und merkt an, dass dahingehend eher von Weiterentwicklungen zu sprechen sei. So gäbe es zwar neue Erkenntnisse über neurophysiologische Forschung, diese würden alle alten Modelle allerdings nicht grundsätzlich infrage stellen, sondern erweitern. Sie ist der Meinung, dass sich ein und dasselbe Phänomen aus verschiedenen Perspektiven – ob aus behavioristischer, kognitivistischer, biologischer oder psychodynamischer Perspektive – erklären lasse und jede einzelne Perspektive ihre Daseinsberechtigung habe. Sie sei Fan einer ganzheitlichen Betrachtung, die alle Perspektiven zu Rate ziehe, da nur diese zu validen Erkenntnissen führe. Herausforderung dabei sei allerdings, dass es methodisch schwierig sei, alle Perspektiven gleichermaßen zu bedienen. Hier schlägt sie die Kombination mehrerer Methoden als einen Lösungsansatz vor und appelliert erneut an die Interdisziplinarität.
Wie bleibt ein Institut methodisch jung?
Die beiden Institutsleiter Florian Klaus und Michael Schießl sind sich einig, dass dies allein schon durch neue Mitarbeitende, die immer wieder für frischen Wind und neue Perspektiven sorgen, gewährleistet werden könne. Florian Klaus betont in diesem Zusammenhang, dass er wirklich froh um die junge Generation sei, die nicht verlegen um eine eigene Meinung sei. Bei K&A sei zudem eine lebendige Diskussion über die Grundsätze, auf denen das Unternehmen basiert, Gang und Gebe, was dazu beitragen würde, dass sich das Institut methodisch weiterentwickle.
Weitere Informationen zum Unternehmen auf marktforschung.de:

K&A BrandResearch AG

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