Der Tagesablauf und die Nutzungssituation als Schlüssel zum Verständnis von Sendungsbewertungen

Sabine Haas (result GmbH)

Von Sabine Haas, Geschäftsführerin result

Als die Medienforschung in den 70-er Jahren ihre Arbeit aufnahm, wurde vor allem in der Radioforschung schnell klar, dass Nutzer eine Sendung stark in Beziehung zu ihrer jeweiligen Tagesform und der damit verbundenen Nutzungssituation bewerten. Am Frühstückstisch erwartet man andere Inhalte vom Radio als beispielsweise im Auto oder am Abend. Die Studie von Tagesabläufen und die Analyse der über den Tag sich wandelnden emotionalen Befindlichkeiten der Hörerinnen und Hörer standen damals im Mittelpunkt vieler Studien.

Noch zu Beginn meiner Forschungstätigkeit in den 90er Jahren waren beide Aspekte (Tageszeit, Befindlichkeit) stark im Fokus jeder Sendungsanalyse. So wurde beispielsweise bei Fokusgruppen eine Morgensendung möglichst am Morgen diskutiert, eine Wochenendsendung dagegen am Wochenende.

Mit der Zeit und mit neuen apparativen Methoden geriet diese Perspektive zumindest in der qualitativen Forschung mehr und mehr in den Hintergrund. Man sah Tageszeit und Nutzungssituationen als weniger relevant an und hob mehr auf die detaillierte Analyse von psychologischen und physiologischen Reaktionen auf Sendungsinhalte ab. Die Wirkung einer sendungsimmanenten Dramaturgie stand im Mittelpunkt des Interesses. Die einzelne abgeschlossene Sendung bzw. das Format und die Wirkung auf das Publikum wurden tiefgehend psychologisch untersucht.

Derzeit beobachten wir einen gravierenden Umbruch in der Mediennutzung. Immer mehr Endgeräte stehen den Nutzerinnen und Nutzern zur Verfügung und eine drastisch wachsende Zahl an Angeboten ist jederzeit abrufbar. Man kann im Sekundentakt entscheiden, ob man Radio, Podcast, eigene Musik, TV, Video, Games etc. konsumieren möchte. Die Medienangebote sind immer weniger an bestimmte Endgeräte gekoppelt und es reduziert sich nicht mehr auf ein Ausgabegerät, wenn man beispielsweise die Fernsehnutzung analysiert. Dies erfordert auch eine Neupositionierung der qualitativen Medienforschung.

Das ständig sich erweiternde Angebot an Endgeräten und Inhalten macht es mehr und mehr unmöglich, die Zuschauerakzeptanz von Sendungsinhalten isoliert ohne Rückgriff auf den jeweiligen Nutzungskontext zu verstehen. Dies wird künftig dazu führen, dass Zuschauer- und Hörerforschung wieder stärker einen Bezug zu Tagesablauf und psychologischer Befindlichkeit in verschiedenen Situationen nehmen muss.

Ein Beispiel: Während früher am Morgen in der Regel zwei bis drei Medien (Radio, TV, Zeitung) eine Rolle spielten und meist ein dominierendes Motiv hinsichtlich des Mood-Managements entscheidend war (z.B. Stimmungsaufhellung), stellt sich die Situation für jüngere, netzaffine Mediennutzer-Gruppen inzwischen deutlich differenzierter dar: Orientiert am Tagesablauf und der jeweiligen Stimmung stellen sich diese Nutzer ein passgenaues und optimal auf die eigenen Bedürfnisse abgestimmtes Medienangebot aus einer Vielzahl an Quellen zusammen. So lässt man sich beispielsweise mit der eigenen Lieblingsmusik wecken, wechselt im Bad zum Radio, um die Nachrichten zu hören, holt sich auf dem iPad beim Frühstück die Tagesschau, schaltet auf dem Weg zur Bahn auf eigene Playlists um und so weiter.

Sendungsinhalte stehen nicht mehr isoliert. Sie werden optimal der eigenen Stimmung und dem eigenen Rhythmus angepasst. Damit wird es entscheidender denn je, Formate an bestimmte Tagesabläufe anzupassen und die optimalen Angebote für die Stimmungen der Nutzerinnen und Nutzer zu konzipieren. Medieninhalte müssen sich klar und deutlich von allen anderen Wettbewerbsangeboten unterscheiden und exakt das bedienen, was zu einer bestimmten Tageszeit und in einer spezifischen Nutzungssituation gefordert wird. Dies wird jedoch zunehmend schwieriger, da sich die Zielgruppen stark ausdifferenzieren.

Vor allem werbegetragene Programme, die durch eine zeitversetzte Nutzung oftmals der Werbeeinnahmen verlustig gehen, müssen in der Zukunft eine für ihre Zielgruppen optimale Programmierung und hoch attraktive Formate bereitstellen.

Für die qualitative Forschung bedeutet dies, sie muss Methoden bereitstellen, die es erlauben, den Tagesablauf und die Nutzungssituationen des Publikums mit den Bewertungen von Sendungsinhalten zu verbinden. Bislang leistet dies meiner Meinung nach das ethnografische Interview und (je nach Zielgruppe) der Blogdiskurs am besten. Aber vielleicht stehen irgendwann noch weitere Methoden für diese Fragestellungen bereit. Sie werden dann nicht mehr nur Antworten auf die Frage nach den Stärken und Schwächen eines Sendungsformates liefern, sondern idealerweise auch die folgende Frage beantworten: „Zu welcher Nutzungssituation und Befindlichkeit passt diese Sendung besser als die zu gleicher Zeit verfügbaren Konkurrenzangebote?“

 

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