Interview zum WdM Web-Seminar von Murmuras "Der Respekt vor dem Thema Big Data ist noch groß"

Smartphones sind lange schon nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken. Sie erheben als einer der ersten Anbieter die Daten direkt auf dem Smartphone. Wie kam es zu der Idee?
Qais Kasem: Als Team von Informatikern an der Uni Bonn wollten wir schon 2014 Big Data im großen Stil analysieren. Allerdings hatten nur die großen IT-Giganten wie Facebook und Google Zugang zu Big Data, die akademische Welt und auch die anderen Unternehmen standen außen vor. Zur gleichen Zeit waren Smartphones dabei, den Alltag der Menschen grundlegend zu verändern, haben aber auch zu einer Reihe von Problemen geführt. Daher haben wir die Menthal-App entwickelt, eine App, die Handy-Nutzern Feedback gibt: Welche Apps nutzt du gerne? Zu welcher Zeit bist du Online? Wie Handy-abhängig bist du? Seit 2014 konnten so Handy-Nutzungsdaten von über 700.000 Teilnehmern zu wissenschaftlichen Zwecken untersucht werden. Im Laufe der Zeit haben zahlreiche Forscher und Unternehmen weltweit darum gebeten, die Menthal-Technologie für ihre eigenen Projekte zu nutzen. Im Jahr 2019 haben die Menthal-Gründer das Unternehmen Murmuras ins Leben gerufen, um diese Bedürfnisse zu decken.
Was macht die Erhebung so besonders? Welche Erkenntnisse kann man aus den Daten generieren? Was unterscheidet diese vielleicht auch von bisherigen Erkenntnissen über Smartphone-Nutzung?
Qais Kasem: Wir erheben passiv das echte Konsumenten-Verhalten in Smartphone-Anwendungen wie der Facebook-App oder der Amazon-App, ohne dabei intime Daten wie private Chats, Kontoauszüge oder Kontaktinformationen zu erfassen. Bisherige Erhebungen zur Smartphone-Nutzung erfassen diese Informationen in der Regel erst nachdem die Nutzung stattgefunden hat. Der dadurch entstehende Time-Lag sowie die Möglichkeit falscher Angaben durch die befragte Person bleibt bei unserer passiven Echtzeiterhebung der Daten aus. Die Erkenntnisse, die wir aus den Daten gewinnen können, sind dabei vielfältig und tiefgreifend: von der Erfassung des App-Nutzungsverhaltens über Werbeanalysen auf Facebook bis hin zur Abbildung der gesamten Customer Journey in der Amazon App.
Sie haben ja zusammen mit verschiedenen Marktforschungsunternehmen die Daten in der vorliegenden Case Study erfasst. Wie waren die ersten Reaktionen der Unternehmen, als sie von der Idee gehört haben?
Isabelle Halscheid: Viele Marktforschungsunternehmen sind von der Idee begeistert und haben Interesse an der Methode geäußert. Allerdings konnten wir ebenso bemerken, dass der Respekt vor dem Thema Big Data, in dem wir uns mit unseren Daten bewegen, noch groß ist. Die bisherigen Teststudien mit Marktforschungsunternehmen haben dabei geholfen, ein besseres Verständnis für die Daten zu vermitteln und zu zeigen, wie jedes Unternehmen sich diese zunutze machen kann
Das Smartphone enthält viele private, wenn nicht sogar intime Daten. Wie stellen Sie da die Datensicherheit sicher?
Qais Kasem: Die Themen Datenschutz und Datensicherheit sind zentraler Teil unserer Arbeit. Wir haben bereits seit 2014 im Rahmen der Menthal-Projekts an der Uni Bonn die Daten sicher und Datenschutz-rechtlich sauber verarbeitet. Bei Murmuras haben wir noch umfassendere technisch organisatorische Maßnahmen implementiert und auch ein umfangreiches Sicherheitskonzept entwickelt. Die erhobenen Daten werden stets Datenschutzkonform nach den geltenden Regelungen der DS-GVO ausschließlich auf deutschen Servern verarbeitet. Es werden nur Daten erhoben, die Zweck der Studie benötigt werden, keine Daten, die in die Privatsphäre des Nutzers eingreifen.
Auf welche Dinge auf dem Smartphone haben Sie genau Zugriff? Gibt es Beschränkungen auf bestimmte Apps? Inwieweit kann da der Smartphone-Besitzer mitentscheiden?
Qais Kasem: Wir erheben Daten, um insb. das Konsumenten-Verhalten in Smartphone-Apps besser zu erheben. Beispielsweise können wir gesehene Werbeanzeigen und öffentlich geteilte Inhalte in Social Media Apps sowie Interaktionen und gesehene Inhalte in Shopping und Medien Apps aufzeichnen. Hieraus lässt sich später ableiten, welche Werbeanzeigen der Teilnehmer gesehen und angeklickt hat bzw. welche Produkte er in Shopping Apps sucht und kauft. Es gibt keine technischen Beschränkungen auf Apps – wohl aber Datenschutzrechtliche und ethische Grenzen. Zu keiner Zeit werden durch uns persönliche Inhalte aus E-Mails, SMS oder Chat Messengern aufgezeichnet. Auch werden keine Namen, Benutzernamen oder Telefonnummern aus dem Adressbuch oder anderen Apps übermittelt oder persönliche Kontoinformationen erhoben. Die Erhebung erfolgt als Teil einer Studie – jede Studie kann unterschiedlich sein. Jede teilnehmende Person wird bei der ersten Installation der App ausführlich über Zweck und Umfang der Datenverarbeitung sowie ihre entsprechenden Rechte informiert und anschließend die Einwilligung der Personen eingeholt.
Sie stellen Ergebnisse einer Case-Study vor. Gewähren Sie uns schonmal eine Sneak Preview?
Qais Kasem: Aktuell laufen einige Case-Studien noch. Wir können aber schonmal verraten, dass Probanden alleine in der Facebook-App im Schnitt mehr als 40 Werbeanzeigen pro Tage sehen. Bestimmte Anbieter werben zeitweise massiv in Social Media und dominieren die Branche – so etwa Amazon, Wish oder L‘Oréal. Online-Shopping am Handy ist gerade bei der Generation Z sehr beliebt – allein 40 Prozent der Probanden einer Studie nutzen die Amazon App regelmäßig auf dem Handy. Das ist im Hinblick darauf, dass Amazon in dieser Zielgruppe auf Facebook eines der werbestärksten Unternehmen ist, besonders interessant. Was wird gekauft und welchen Einfluss haben die Facebook-Werbeanzeigen darauf? Das sind Fragen, die wir dann in unserem Vortrag beantworten. Es wird spannend.
Beauty, Online-Retail und Fashion sind Branchen, die recht nah beieinander liegen. Ist Ihre Methode auf Branchen beschränkt, in denen online geshoppt wird?
Isabelle Halscheid: Nein, keineswegs. Grundsätzlich können wir alle Unternehmen aller Branchen erfassen, die im Erhebungszeitraum mit dem/ der Studienteilnehmer*in durch beispielsweise Facebook-Werbeanzeigen interagieren. Wir haben uns in dieser Case Study für Beauty, Online-Retail und Fashion entschieden, da sie zeitweise die werbestärksten Branchen auf Facebook sind. Jeder Facebook-Nutzer hat vermutlich schon einmal eine Werbeanzeige von Amazon, Zalando und Co. gesehen und findet sich bei unseren Erkenntnissen wieder. Das Ziel der Case Study ist es, das Verständnis für unserer Methode zu erweitern und zu zeigen, was man mit den erhobenen Daten alles machen kann.
Smartphone-Daten lassen sich ja dem Bereich Big Data zuordnen, es handelt sich um eine datengetriebene Untersuchung. In diesem Zusammenhang fällt oft auch der Begriff vom “Ende der Theorie”. Dabei geht es vereinfacht gesagt darum, dass sich auch aus einer großen Menge von Daten Wissen ableiten lässt und somit Theorien “überflüssig” werden. Wie stehen Sie dazu, welche Rolle bzw. Wichtigkeit stehen Sie Theorien zu?
Isabelle Halscheid: Ich denke, dass das Thema Big Data von der Marktforschungsbranche nach wie vor mit spitzen Fingern angefasst wird. Es wird sich schlichtweg noch nicht genug mit der Thematik auseinandergesetzt, geschweige denn aus einer theoretischen Perspektive angenähert. Ich glaube, es braucht zunächst einmal ein grundsätzliches Verständnis der Methode und der Erkenntnisse, die man aus Big Data Analysen gewinnen kann, um die Daten adäquat zur Überprüfung von Theorien nutzen zu können. Wenn dieses Verständnis vorhanden ist, sehe ich keine Gefahr für das theoriegeleitete Forschen mit Big Data.
Allgemein ist das Phänomen Big Data noch recht jung und steckt noch in den Kinderschuhen. Denken Sie Big Data könnte in Zukunft theoriegeleitete Erhebungen ablösen oder sehen Sie eher eine Koexistenz?
Isabelle Halscheid: Ein wesentliches Problem, dass wir schon heute bei theoriegeleiteten Erhebungen beobachten können, ist der Time-Lag der Erkenntnisse. Wir erhalten zwar valide und allgemeingültige Ergebnisse, allerdings sind diese zu dem Zeitpunkt bereits veraltet und liefern dementsprechend für das ursprüngliche Problem keine geeignete Lösung mehr. Das theoriegeleitete Vorgehen sollte daher so angepasst werden, dass der Vorteil der Echtzeit-Analysen von Big Data genutzt werden kann, um Erkenntnisse in dem Moment zu generieren, in dem sie benötigt werden. Dann steht einer Koexistenz oder gar einem Zusammenwirken beider Forschungsansätze auch in Zukunft nichts entgegen.
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