Martins Menetekel Der Prozess ist nicht stabil

Kommt da eine 5. Coronawelle auf uns zu? Wird aus der aktuellen Referenzkurve eine Prognosekurve, oder muss auch diese in die Tonne geworfen werden, wie schon alle Prognosekurven vor ihr? Martin Lindner hat auch diese Woche wieder alle Zahlen rund um Covid-19 verständlich zusammengetragen. Im Meet and Greet heute, 1. Oktober 2021, um 14 Uhr, können Sie sich live mit ihm austauschen.

Immer wieder höre ich (oder lese in Emails), dass viele an meinen Kurven interessiert sind, aber die Mathematik kaum oder gar nicht verstehen. Mein Ehrgeiz besteht aber darin, auch etwas über den Zusammenhang von Prozessen in der Natur und deren zahlenmäßiger Auswertung aufzuzeigen. Bei einer Seuche handelt es sich um die Beschreibung eines Wachstumsprozesses, und dafür braucht man die richtigen mathematischen Werkzeuge.

Gehen wir systematisch vor, damit auch neue Leser dieser Beiträge das Wesentliche mitbekommen:

Die Aufgabe war es, die Fallzahlen der mit COVID-19 Infizierten auszuwerten. Fallzahlen ergeben sich aus den täglich vom RKI oder der Johns Hopkins University veröffentlichen Zahlen der von den Gesundheitsämtern mitgeteilten positiv getesteten Personen. Die Anzahl der täglichen gemeldeten neu positiv Getesteten bilden die Zuwächse, diese werden aufsummiert und ergeben die Fallzahlen.

Das sind weder alle Infizierten, noch mache ich Unterschiede, ob unter den positiv getesteten Personen auch falsch positive und bei negativem Test falsch negative sind. Dennoch haben die kumulierten Fallzahlen eine hohe Bedeutung. Sie sind stark korreliert mit dem Fortschreiten oder Eindämmen der Pandemie. Es kommt immer auf den Trend an, wie sich die Zahlen entwickeln.

Die Fallzahlen können nie kleiner werden, haben aber eine obere Schranke in der Höhe der Einwohnerzahl der Bundesrepublik Deutschland, abzüglich der gegen COVID-19 immunen Einwohnern. Die Frage ist, ob und wenn ja, wann sie welche Schranke erreichen, wenn also der tägliche Zuwachs Null ist. Dann erst ist die Seuche richtig zu Ende.

Welches sind die richtigen Werkzeuge?

1. Wir müssen die Fallzahlen glätten, denn sie hängen zu stark vom Wochentag der Veröffentlichung ab. Es ist aber nicht glaubhaft, dass die Viren sich an unsere Wocheneinteilung halten. Wir glätten auf 7-Tages-Basis, so dass die richtige Fallzahl für zum Beispiel Montag sich daraus ergibt, dass ich die Fallzahlen von JHU von Freitag bis Donnerstag zusammenzähle und die Summe durch 7 teile. Das kann man auch anders machen, meine Methode bildet den Durchschnitt aus den drei Tagen davor und den drei Tagen danach, hat damit eine Nachlauf von drei Tagen.

2. Wie bilden wir die Zuwächse, die ja den Kurvenverlauf widerspiegeln sollen? Wir nehmen nicht den Zuwachs von gestern auf heute, sondern mitteln die Differenz der Zuwächse von zwei aufeinander folgenden Tagen. Wenn man das grafisch auf dem Papier nachmacht, ist diese Linie ganz gut parallel zur Tangente in dem zu untersuchenden Punkt. Damit haben wir die entscheidende Frage gelöst: Wie legen wir durch die Punkte der Zeitreihe der Fallzahlen eine schöne mathematisch definierte Kurve?

3. Diese Kurve muss der Forderung genügen, dass ihre Steigung an einem Punkt, sprich Zuwächse pro Tag, proportional der Höhe des Punktes ist. Das hat der Mathematiker Verhulst untersucht:

N’(t) = kN(t) . Das ist eine Gleichung von Funktionen, die für jedes t, das heißt für jeden Tag, gelten muss, eine verdammt harte Forderung an N(t).

Wenn k konstant ist, ist die Lösung eine Exponentialfunktion Ab^t mit b = exp(k) , man nimmt die Zahl e = 2,71828…, die Eulersche Zahl als Basis. Die Ableitung von Ab^t ist genau Aln(b)b^t = ln(b) Ab^t = kAb^t = kN(t) , wenn N(t) = Ab^t ist und weil ln(exp(k)) = k ist.. A ist frei wählbar.

Jetzt kommt das Neue:

k ist nicht konstant, und zwar nie, wenn das Wachstum von N die Ressourcen, die das Wachstum ermöglichen, aufbraucht.

Beispiel: Bakterien in einer Petrischale mit Nährlösung. Sie können sich nur teilen, solange es Nährlösung gibt. Je größer ihre Population wird, desto schneller geht die Ressource aus. Ihre Reproduktionsrate fällt mit dem Wachstum ihrer Population.

Das führt zu:

4. N’(t) = k(t)N(t) , ist k(t) eine komplizierte Funktion, so gibt es oft keine Lösung im Sinne einer mathematischen Funktion.

Aber N’(t) = kN(t) + LN(t)^2 hat eine schöneLösung, nämlich Verhulst, egal, wie k und L gewählt werden. Für uns ist immer k > 0 , da N nur wachsen kann.

5. L ist > 0 , wenn der Reproduktionsfaktor R steigt, die Pandemie breitet sich aus. Das passiert, wenn die Leute leichtsinniger werden, die Behörden Einschränkungen aufheben, von außen Viren eingetragen werden, am schlimmsten, wenn neue Mutationen aggressiver sind.

L ist echter Limitierungsfaktor, wenn die Impfrate steigt und damit der Anteil gegen COVID-19 immuner Einwohner, oder AHA befolgt wird, und andere Maßnahmen, die alle kennen und fürchten, wie Isolation, etc. angeordnet werden.

Wenn wir L = kl setzen, so ist S = -1/l bestimmbar.

4  schreibe wir dann so: N’(t) = kN(t)*(1 - N(t)/S)

Wir sehen, dass mit wachsendem N der Quotient N(t)/S immer stärker zur eins tendiert und damit 1-N/S gegen 0 geht. Das macht auch N’ zu 0 .

Eine Lösung von 4 ist:

M(t) = AS/(A + S/b^t) , wobei A frei wählbar ist.

6. Wie gehen wir mit den in Wellen verlaufenden Schüben der Pandemie um? Dafür haben wir den Sockel I gefunden, der unsere Referenzkurve M(t) so weit nach oben schiebt, bis sie zu den Fallzahlen passt, das war die Kaskaden- oder Erlebnisbadrutschen-Theorie.

Hier das Bild aller (kumulierten) Fallzahlen seit März 2020:

Will man diese Kurve beschreiben, benötigt man die erste Ableitung im oben definierten Sinn:

Das Maximum der vierten Welle war am 5. September.

Für jeden Anstieg, Buckel und Abfall benötigen wir einen eigenen Ansatz einer Verhulst-Referenzkurve. Hilfreich ist es, am Anfang eines Anstiegs von einem L = 0 auszugehen, um überhaupt eine erste Referenzkurve zu bekommen.

Und so sieht es heute aus:

Die Annäherung an die Zuwächse (sprich erste Ableitung) ist nicht ganz so toll:

Der Lackmustest ist aber die Ableitung der Zuwächse, von diskreten Fallzahlen eigentlich nicht machbar, aber wir behelfen uns wieder mit dem Mitteln der Zuwächse und dann glätten:

Die zweite Ableitung unserer Verhulst-Referenzkurve sieht in der Umgebung des Wendepunktes am 5. September sehr gut aus, die Nullstelle der zweiten Ableitung ist super scharf, ABER:

Eventuell dreht die zweite Ableitung zu schnell in Richtung t-Achse, sie müsste viel tiefer laufen und sich von unten der t-Achse anschmiegen.

Wenn wir die schwarze Kurve einmal vergessen, könnten die blauen Werte auch schnell wieder positiv werden, wenn wir sie per Augenschein in Richtung Mitte Oktober verlängern, eine Katastrophe, weil das die 5. Welle ankündigen würde.

Der Prozess ist noch nicht stabil!

Wir werden in drei Wochen klüger sein, ob aus der Referenzkurve eine Prognosekurve wird, oder ob sie in die Tonne geworfen werden muss, wie schon alle Prognosekurven vor ihr. Das würde aber nicht an der Mathematik oder an mir liegen, sondern nur am erfolglosen Eindämmen der Pandemie.

Die Grafik des Reproduktionsfaktors könnte eine Warnung sein:

R tendierte bis Mitte September in Richtung kleiner 0,9 , sein kleinster Wert war 0,898 , 0,84, wäre wichtig, damit die Zuwächse sich alle Monate vierteln, aber das ist leider nur eine Episode geblieben. Seit einer Woche steigt R wieder, q(t) ist sogar schon über die 1 gerutscht.

Als letztes die Inzidenzen, die immer noch sehr wichtige Informationen über den Verlauf der Seuche liefern:

Ich wünsche meiner Leserschaft alle Gesundheit der Welt. Heute um 14.00 Uhr stehe ich Rede und Antwort in einem Internet-Chat, das marktforschung.de organisiert hat.

Über Martin Lindner

Martin Lindner

Martin Lindner ist promovierter und habilitierter Mathematikprofessor im Ruhestand und beschäftigt sich intensiv mit nachhaltiger Wirtschaft und der Zukunftsfähigkeit unserer heutigen Lebensformen. Zusätzlich hat er eine Ausbildung und auch Berufserfahrung in Wirtschaftsmediation.

Meet & Greet mit Martin Lindner

Sie möchten sich live mit Herrn Lindner über seine Berechnungen und Ergebnisse austauschen? 

Dann nutzen Sie jetzt die Möglichkeit und nehmen Sie am 1. Online-Austausch teil!
Am 1. Oktober um 14 Uhr werden wir von marktforschung.de ein offenes Online-Meeting für Sie freischalten. In diesem Meeting können Sie sich live mit Herrn Lindner austauschen. Ungezwungen und ohne vorherige Installationen möglich. 

Weitere Informationen zur Teilnahme erhalten Sie hier

 

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