Der "emotionale Konsument": Brauchen wir eine ganz andere Marktforschung?

Der Blick ins Gehirn

"Der Konsument hat drei Schalter.... Mit dem Blick ins Gehirn könne man individuelle Kaufentscheidungen ... schlechthin entschlüsseln." (Müller-Jung 2007). Dieser Artikel in der FAZ bringt in nicht ganz ernst gemeinter Weise auf den Punkt, was auch in der Marktforschung seit Jahren immer wieder diskutiert wird. Kann man durch direkte Beobachtung neuronaler Prozesse die mühsame Befragung ersetzen? Und, damit zusammenhängend: Wie "emotional" und "bewusst" werden Konsumentscheidungen getroffen? Können unsere Auskunftspersonen überhaupt adäquate Mitteilungen über ihre Motive machen (so fern sie es wollen)?

Im Folgenden möchte ich drei Themen behandeln: Was ist wirklich neu an den Diskussionen zur menschlichen Emotionalität? Wie emotional, "bewusstlos" und fremdgesteuert sind Konsumentenentscheidungen? Welche Auswirkungen hat das auf die Marktforschung?

Die Wiederentdeckung der Emotion

Auch wenn Emotionen und unbewusste Motive in den Neurowissenschaften wie auch in der Psychologie lange Zeit keine besondere Rolle spielten, sollte man nicht vergessen, dass vor bereits mehr als 100 Jahren ein Herr namens Freud diese Phänomene ausführlich beschrieben hat. Überspitzt könnte man sagen, neu an den aktuellen Diskussionen ist, dass man nun mit Hilfe schöner farbiger Hirnbilder (z.B. über Magnetresonanztomographie) beobachten kann, welche Strukturen mit unbewusster Informationsverarbeitung beschäftigt sind. Erkenntnisse, welche im Zusammenhang mit bildgebenden Verfahren gewonnen wurden, stellen für einige Forscher eine Bestätigung grundlegender Annahmen der Psychoanalyse dar (vgl. z.B. Roth 2006).

Aber es gibt schon auch Neuigkeiten. Einflussreiche Neurowissenschaftler wie Joseph LeDoux an der New Yorker Universität oder Antonio Damasio an der Universität von Iowa haben unser Wissen über das Wesen und die Funktionen von Emotionen ausdifferenziert. Besonders eindrucksvoll finde ich die Forschungen von Damasio, der anhand von Personen mit bestimmten Gehirnschädigungen nachgewiesen hat, "... dass Emotionen und Gefühle am Entscheidungsprozess nicht einfach nur mitwirken, sondern unentbehrlich für ihn sind" (Damasio 2003, S.171). Entscheidungsmängel (bis in die kleinsten Kleinigkeiten wie z.B. hinsichtlich der richtigen Aktenablage), Unfähigkeit zur Planung und soziales Fehlverhalten dieser Patienten interpretiert Damasio als eine unterbrochene Kommunikation zwischen emotionalen Strukturen (dem limbischen System) und exekutiven, kognitiven Funktionen (im Frontalcortex). Ohne Emotion also kein "vernünftiges" Verhalten.

Alles Emotion?

Was eigentlich Emotion ist, dazu gibt es unterschiedliche, teilweise konkurrierende Theorien. Auf der deskriptiven Ebene könnte man Emotion in etwa folgendermaßen definieren (vgl. Hamm 2003):

  • Emotionen sind starke Handlungsdispositionen, welche einer bestimmten Handlung Priorität einräumen und das aktuelle Verhalten oder mentale Prozesse des Organismus unterbrechen
  • Sie umfassen zwei Komponenten:
    • Eine charakteristische physische Reaktion, welche durch das autonome Nervensystem gesteuert wird
    • Subjektives, bewusstes Gefühlserleben

Diese Unterscheidung zwischen der eigentlichen, körperlich begründeten Emotion und den bewussten Gefühlen ist für die Marktforschung sehr wesentlich – denn hier geht es auch um die Frage, ob uns die Auskunftspersonen wirklich etwas über ihre inneren Zustände sagen können. Wären alle Entscheidungen nur auf körperlichen Zustandsveränderungen begründet, dann wäre wohl jede Befragung sinnlos. Das ist aber nicht so. Wohl gibt es sehr starke Emotionen, welche zu unmittelbaren Verhaltenskonsequenzen führen (z.B. Flucht vor einer plötzlichen Gefahr). Die Evolution hat den Menschen aber mit differenzierteren Mechanismen der Informationsverarbeitung ausgestattet. Bewusstes Fühlen, bewusste Wahrnehmung und Reflexion ermöglicht eben eine adäquatere Situationsbewertung und längerfristige Handlungsplanung (vgl. Roth 2003).

Die Gleichsetzung von emotional = unbewusst stimmt also nicht, auch nicht jene von kognitiv = bewusst. Emotionen werden als Gefühle bewusst. Auf der anderen Seite laufen viele kognitive Prozesse unbewusst ab. Bewusstsein, Aufmerksamkeit, Reflexion sind "Luxus" und werden nur wichtigen Angelegenheiten zugestanden – sonst wäre man ja gar nicht lebensfähig. "Unbewusst" heißt aber nicht unzugänglich. In der Befragung können viele Beweggründe problemlos rekonstruiert werden.

Integration von Emotion und Kognition

Emotionale und kognitive Prozesse sind eng miteinander verwoben. So argumen-tieren auch Page und Raymond (2007), die darauf hinweisen, dass alle mentalen Repräsentationen von Objekten dreifach bestimmt sind, und zwar über

  • Emotionen (Bewertungen des Objekts)
  • Wissen (Informationen über das Objekt) und
  • Aktionen (auf das Objekt bezogene Verhaltensweisen und Verwendungszwecke)

In einer Metaanalyse von Markenassoziationen wurde nachgewiesen, dass der Markenwert dann am höchsten ist, wenn die mentalen Repräsentationen über die drei Bereiche hinweg ausbalanciert sind. Um das deutlich zu machen: Eine im Kopf des Konsumenten primär emotional repräsentierte Marke führt zu geringerer Markenbindung als eine Marke, deren mentale Repräsentationen in vergleichbarem Ausmaß Emotionen, Kognitionen und Aktionen umfassen!

Das heißt auch, dass für eine gute Markenrepräsentation bewusste und aufmerksame Zuwendung zur Marke notwendig ist. Wohl gibt es auch unbewusstes Lernen, das ist aber im wesentlichen Assoziationslernen (Wiedererkennen, Vertrautheit, vage Sympathie). Differenziertere Lernprozesse setzen dagegen Aufmerksamkeit voraus.

Das Coca-Cola Beispiel

Prototypisch für die Hoffnung auf unmittelbare Einsicht in menschliche Motive steht die Untersuchung von Read Montague, Professors für Neurowissenschaften in Houston. Testpersonen im Hirnscanner durften Pepsi-Cola und Coca-Cola trinken, einmal ohne Kenntnis der Marke, dann nach Vorgabe der Markenlogos (Thompson 2003). Altbekannt ist, dass Pepsi im Blindtest oft besser abschneidet, Coca-Cola aber nach Markennennung. Neu war die Erforschung der neuronalen Korrelate:

  • Im Blindtest aktivierte Pepsi-Cola stärker als Coca-Cola einen phylo-genetisch älteren Teil des Großhirns, den Nucleus Accumbens, welcher besonders wichtig für die Verarbeitung von Belohnungsreizen ist: Pepsi schmeckte besser.
  • Wenn die Marken bekannt waren, dann schnitt Coca-Cola weit besser als zuvor ab. Im Neurobild wurde deutlich, dass die Marke Coca-Cola stärker einen Teil des frontalen Kortex ansprach, welcher für höhere exekutive Funktionen zuständig ist, so z.B. für die Einschätzung der Wertigkeit unserer Handlungen.

Für Coca-Cola gilt also: Die Marke schmeckt besser als das Produkt. In unserem Zusammenhang heißt das, dass die Präferenz für Coca-Cola mit Hilfe höherer kognitiver Prozesse hergestellt wird. Würde man sich nur auf die „Emotion“ verlassen, auf das unmittelbare und kognitiv nicht beeinflusste Geschmackserlebnis, dann würde man falsche Schlussfolgerungen ziehen. (Bekanntlich hat das ja Coca-Cola Mitte der 1980er Jahr mit sehr negativen Konsequenzen getan, und diese Entscheidung dann schnell korrigiert

Direkte Beobachtung von Emotionen/ Gefühlen vs. Befragung

Natürlich wäre es schön, Emotionen direkt beobachten zu können. Leisten dies die Hirnscanner oder andere Verfahren zur direkten Ableitung von Gehirnaktivitäten, so hätte man „nur“ noch das Problem der Kosten für den Einsatz dieser Technologien zu lösen.

Millward Brown ist dieser Frage in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Firma Brainwave Science nachgegangen (Page 2005). Die Reaktionen auf einen stark emotionalen Spot für VIM Badreiniger wurden in separaten Samples zweifach erfasst: Über Ableitungen sogenannter evozierter Potenziale mittels EEG (also der Messung der elektrischen Gehirnaktivität als Reaktion auf den Werbespot) und über die gefühlsbezogenen Fragen des LINK Werbetests. Der Spot löste starke Gefühle aus – das war sowohl direkt im EEG als auch in der Befragung deutlich. (Die Korrelation zwischen beiden Messungen war hoch und lag bei 0,72.) Nur über die Befragung wurde aber klar, dass die intensivsten Szenen des Werbespots Gefühle negativer Art produzierten. Diese Untersuchung weist nach, dass die alte und umständliche Befragung der direkten Ableitung der Gehirnströme überlegen ist. In letzterem Fall sind wir mit dem bekannten Problem der apparativen Forschung konfrontiert: Wir sehen objektiv und direkt, dass etwas passiert, wissen aber nicht genau, was das bedeutet. Und um das herauszufinden, müssen wir wieder fragen...

Schlussfolgerungen für die Marktforschung

Die Diskussion über emotionale und/ oder unbewusste Bestimmtheit des Konsumentenverhaltens verweist uns zurück auf die alte Herausforderung der Marktforschung. Wir dürfen nicht darauf hoffen, dass uns unsere Auskunftspersonen ihre Entscheidungsmodelle erklären (oder dass wir sie aus ihren Gehirnen direkt ableiten können), sondern müssen unsere Expertenaufgabe wahrnehmen: Nämlich die relevanten Informationen zu erheben und Entscheidungsprozesse zu rekonstruieren bzw. zu prognostizieren. Und hier müssen wir kreativ und umsichtig vorgehen. Wir sollten uns stärker auf emotionale, verhaltensrelevante Informationen als auf „rein kognitive“ stützen:

  •  Die Relevanz von Imageeindrücken sollte man aus indirekten Ableitungen ermitteln (und nicht nur über die etwas naive direkte Frage „was ist Ihnen wichtig?“). Hier wäre etwa die multivariate Analyse des Zusammenhangs zwischen Imageeindrücken und Kaufwahrscheinlichkeiten die bessere Wahl. Oder der Einsatz der Conjoint Analyse, welche ganzheitliche Konsumentenurteile in ihre Komponenten zerlegt. Oder die qualitative Analyse der Tiefenstrukturen von Konsumentenäußerungen.
  • Das klassische Experiment mit Test- und Kontrollgruppe ermöglicht die Isolierung des relevanten Stimulus (z.B. neue Packungsgestaltung). Das ist zwar aufwändiger, aber weit aufschlussreicher als die kostensparende Frage „Motiviert Sie die neue Packungsgestaltung dazu, das Produkt zu kaufen?“ 

Nicht Emotionen, aber bewusste Gefühle können erfragt werden, und das sollte man auch öfters tun. Aber bitte nicht (nur) mit der bequemen, offenen Frage „Welche Gefühle verbinden Sie mit...?“ Wir benötigen Hilfestellungen für die Auskunftspersonen – etwa standardisierte Fotosets (vgl. Bosch u.a. 2006) oder sorgfältig zusammengestellte Listen mit Eigenschaftswörtern (wie in dem erwähnten LINK Werbepretest).

Auch für Consumer Insights hat man den Stein der Weisen also noch nicht entdeckt. Daher sollten wir durchaus neugierig und kritisch die Erkenntnisse neurowissenschaftlicher Forschung beobachten – aber die Aufgabe, weiterhin intelligente Befragungen zu konzipieren, bleibt uns erhalten.

Literatur

Bosch, Christian, Stefan Schiel, Thomas Winder (2006): Emotionen im Marketing.

Damasio, R. Antonio (2003): Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen.

Hamm, Alfons O.: Psychologie der Emotionen. In:  Hans-Otto Karnath und Peter Thier, Neuropsychologie.

Müller-Jung, Joachim (2007): Der Konsument - Sensibles Wesen im Kaufrausch. FAZ vom 04. Januar 2007.

Page, Graham (2005): The Challenges for Neuroscience in Ad Research. In: Admap, Ausgabe 464.

Page, Graham und Jane Raymond (2007): The truth about cognitive neuroscience. In: Research World January 2007.

Roth, Gerhard (2003):  Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert.

Roth, Gerhard (2006): Fallstricke des Unbewussten. In: Gehirn & Geist 1-2/ 2006.

Thompson, Clive (2003): There’s a Sucker Born in Every Medial Prefrontal Cortex. New York Times vom 26. Oktober 2003.

Zum Autor

Dr. Bertram Barth, Integral Marktforschung (Bild: Integral)

Dr. Bertram Barth

Integral Marktforschung, Geschäftsführer

 

Diskutieren Sie mit!     

Noch keine Kommentare zu diesem Artikel. Machen Sie gerne den Anfang!

Um unsere Kommentarfunktion nutzen zu können müssen Sie sich anmelden.

Anmelden

Weitere Highlights auf marktforschung.de