Der betriebliche Marktforscher, das unbekannte Wesen? – Marco Ottawa und Prof. Dr. Christian Rietz im Interview

Marco Ottawa (Deutsche Telekom) und Prof. Dr. Christian Rietz (Universität zu Köln)

Marco Ottawa (Deutsche Telekom) und Prof. Dr. Christian Rietz (Universität zu Köln)

Eine systematische Abhandlung aller relevanten Aspekte der betrieblichen Marktforschung - das haben sich Marco Ottawa (Deutsche Telekom) und Prof. Dr. Christian Rietz (Universität zu Köln) mit Ihrem Buch "Betriebliche Marktforschung - Mehrwert für Marketing, Steuerung und Strategie" vorgenommen. Im Interview mit marktforschung.de äußern sie sich zur Idee hinter der Publikation, der Rolle der betrieblichen Marktforschung und aktuellen Herausforderungen für den Berufszweig. 

marktforschung.de: Herr Ottawa, Herr Rietz, gleich zu Beginn Ihres Buches findet man eine kleine Anekdotensammlung – darin heißt es unter anderem: "Was stellst Du Dir unter einem Marktforscher vor?" "Jemand, der auf den Markt geht und nach Taschendieben schaut". Wem muss oder sollte man erklären, was es speziell mit "betrieblicher Marktforschung" auf sich hat?

Marco Ottawa: Offensichtlich Bonner Sextanern wie dem zitierten Freund meines Sohnes. Doch Scherz beiseite, Marktforschung ist schon ohne das Attribut "betriebliche" erklärungsbedürftig. Mir ist in meinem zwölf Jahren als betrieblicher Marktforscher kaum jemand begegnet, der Marktforschung nicht automatisch mit einem Institut verbunden hat. Demnach herrscht in weiten Kreisen Aufklärungsbedarf. Kurz und gut, für mich ist ein betrieblicher Marktforscher jemand, der die Informationsbedarfe in seinem Unternehmen federführend koordiniert und idealtypisch auch selbst forscht.

Christian Rietz: Und auch vielen Studierenden, die mit Marktforschung - leider - immer noch die klassische Feldarbeit und Reichweitenmessung verstehen. Dass es das sehr facettenreiche Berufsbild des betrieblichen Marktforschers als "Mittler zwischen Marketing und Feld" gibt, ist nur wenigen bekannt und wird auch in der Hochschule meistens nur mit einigen Nebensätzen erwähnt.

marktforschung.de: Ist die Begrifflichkeit "betrieblicher Marktforscher" überhaupt geeignet, um das vielfältige Aufgabenspektrum zu umschreiben? Was antworten Sie, Herr Ottawa, einem Branchenfremden auf die Frage, was Sie beruflich machen?

Marco Ottawa: Trotz vieler Gespräche mit Betroffenen und intensiver Literaturrecherche habe ich noch keinen besseren Begriff gefunden. Market Intelligence, Customer Insight oder Business Intelligence scheinen mir eher modische Anglizismen als eine griffige Erklärung zu sein. In meinem Falle sage ich Branchenfremden, dass ich vor allem rund um das Thema Fernsehen versuche, alle gewünschten marktrelevanten Informationen für meine Kollegen aus Marketing und Vertrieb zu beschaffe und sie bei der Entwicklung von Produkten und Vermarktungskonzepten zu begleiten.

marktforschung.de: Ihr Buch ist sehr wissenschaftlich angelegt. Was waren die Gründe dafür? Wie möchten Sie selbst die Publikation verstanden wissen?

Marco Ottawa: Aufgrund meiner Tätigkeiten als Marktforscher und Dozent an der Kölner Fachhochschule bin ich wissenschaftliches Arbeiten gewohnt. Ich wollte mit diesem Handwerkszeug gerüstet über die Ratgeber nach dem Motto "Markforschung für jedermann" hinausgehen und ein grundlegendes Werk schaffen, das auch die Gedanken zahlreicher Wissenschaftler einbezieht, um nicht nur meine eigene Meinung wiederzugeben. Insofern ist unser Buch gleichzeitig Nachschlagewerk und Ideengeber für Praktiker, Lehrbuch für Studenten, Ratgeber für Berufseinsteiger, kurz der Versuch, eine erste umfassende Monographie zur betrieblichen Marktforschung zu schreiben.

Christian Rietz: Die Marktforschung selbst unternimmt nur wenig Bemühungen, eine eigene wissenschaftliche "Methodologie" zu entwickeln. Wir finden das sehr schade, denn eigentlich ist Marktforschung  - egal ob aus Perspektive des betrieblichen Marktforschers oder eines Institutsmarktforschers - mehr als ein aus verschiedenen Disziplinen zusammengesetzter "Methodenbaukasten". Wir wollten daher einen - transdisziplinären -  Beitrag zur Entwicklung von "Forschungsmethoden der - betrieblichen - Marktforschung" leisten.

Haben sich Rolle und Aufgabenspektrum betrieblicher Marktforscher in Unternehmen aus Ihrer Sicht in den letzten Jahren verändert?

Marco Ottawa: Aus meiner Warte, auch wenn das manche Standeskollegen nicht wahrhaben wollen, ja. Ich sehe einen Trend, statt "ein Stück Marktforschung" in Form einer Ergebnispräsentation abzuliefern und sich dann der nächsten Studie zuzuwenden, Themen ganzheitlich marktforscherisch zu begleiten. Für diese Begleitung haben wir in unserem Buch den Begriff vom betrieblichen Marktforscher als Berater breit diskutiert. Dazu erwarte ich insgeheim auch die größte, vermutlich kontroverse Resonanz aus der Leserschaft.

Wo sehen Sie aktuell die größten Herausforderungen für die betriebliche Marktforschung – sowohl hinsichtlich ihrer Rolle in den Unternehmen als auch methodisch?

Marco Ottawa: Die größten Herausforderungen sehe ich in Social Media Analysen und Big Data, weil hier unter Umständen marktforschungsfremde Bereiche wie IT oder CRM losgelöst von Standesrecht und traditioneller Methodik der Marktforschung Fragen beantworten, vor denen viele Marktforscher zurückschrecken. Daneben sehe ich Google Trends, stellvertretend für die Do-it-yourself-Marktforschung, als Gefahr, weil es Menschen ohne Marktforschungswissen glauben machen kann, auch ohne professionelle Marktforschung valide Ergebnisse produzieren zu können. Als Resümee kann ich meine "Artgenossen" nur dazu ermutigen, sich diesen Forschungsmethoden zu stellen und, wo sinnvoll, zu nutzen, statt sie pauschal zu verdammen und Dritten das Feld zu überlassen.

Noch wichtiger ist es mir jedoch noch, die betrieblichen Marktforscher aufzurufen, die Schneckenhäuser ihrer jeweiligen Unternehmen zu verlassen und etwa in Verbänden oder an Hochschulen aktiv zu werden. Bezeichnenderweise habe ich trotz breiter Werbung für unser Buch bislang vorwiegend Resonanz aus Instituten, aber nicht aus der betrieblichen Marktforschung erhalten. Mir scheint, der durchschnittliche betriebliche Marktforscher forscht und schweigt vor sich hin. Sollte er wirklich nichts zu sagen haben, wird, so fürchte ich, unser Buch ein Unikat bleiben, weil es irgendwann keine betrieblichen Marktforscher mehr geben wird.

Christian Rietz: Ich werde mich auf das Methodische beschränken. Die größte Herausforderung besteht aus meiner Perspektive darin, den betrieblichen Marktforscher fit für die Themen der Zukunft zu machen und ihm das notwendige (Hintergrund-)Wissen über Forschungsmethoden, Big Data, Wirkungsforschung im digital Zeitalter, (neuro-)psychologische und (neuro-)ökonomische Themen zu vermitteln, die es ihm erlauben, als kompetenter Berater und Experte im Unternehmen zu fungieren. Und damit natürlich auch den größten Mehrwert für sein Unternehmen zu erwirtschaften und eine Fehlallokation von Ressourcen zu vermeiden.

marktforschung.de: Herr Ottawa, Herr Rietz, vielen Dank für das Interview!

Das Buch "Betriebliche Marktforschung - Mehrwert für Marketing, Steuerung und Strategie" von Marco Ottawa und Prof. Dr. Christian Rietz ist bei De Gruyter Oldenburg erschienen.
ISBN 978-3-486-74357-9
e-ISBN 978-3-486-85784-9

 

Diskutieren Sie mit!     

Noch keine Kommentare zu diesem Artikel. Machen Sie gerne den Anfang!

Um unsere Kommentarfunktion nutzen zu können müssen Sie sich anmelden.

Anmelden

Weitere Highlights auf marktforschung.de