Interview Stephan Grünewald: "Wie tickt Deutschland?" "Das Vertrauen in die Politik, die Eliten und die Zukunft ist erschüttert"

Eine Woche nach Erscheinen hat das Buch von Stephan Grünewald den Sprung auf Platz 16 der Spiegel-Bestsellerliste geschafft. Zahlreiche TV-Auftritte in wenigen Tagen machten es fast unmöglich, den rheingold-Geschäftsführer ans Telefon zu bekommen. "Wie tickt Deutschland" ist eine beeindruckende Studie zu einer Gesellschaft, die sehr heterogen denkt. Wie es Stephan Grünewald dennoch geschafft hat, sie zu beschreiben, sagte er uns im Interview.

Stephan Grünwald, rheingold institut

Stephan Grünwald, rheingold institut

marktforschung.de: Herr Grünewald, im Untertitel Ihres Buches steht: "Psychologie einer aufgewühlten Gesellschaft". Meinen Sie wirklich, dass unsere Gesellschaft im Frühjahr 2019 besonders aufgewühlt ist? Da kann ich mich an aufgeregtere Zeiten erinnern.
 
Stephan Grünewald: Vordergründig erleben wir die Ruhe und Saturiertheit unseres Auenlandes. Aber unter der Oberfläche brodelt es. Die Gesellschaft ist innerlich zerrissen. Immer wieder kocht bei scheinbar nichtigen Anlässen die Wut vieler Menschen hoch. Und das Vertrauen in die Politik, die Eliten und die Zukunft ist erschüttert. Zeit also, die tieferen Hintergründe dieser Aufgewühltheit zu beleuchten.

marktforschung.de: Eines der Wörter, die Sie im Buch am häufigsten verwenden, ist "viele". Sie haben, ich zitiere, "anhand tausender psychologischer Tiefeninterviews" am deutschen Puls gefühlt. Wie haben Sie Ihre Auswertung vorgenommen? Wie haben Sie die Ergebnisse der Befragungen erfasst?  
 
Stephan Grünewald: Wir machen im rheingold-Institut ca. 200 Studien im Jahr. Pro Jahr legen wir dabei in der Summe ca. 5000 Verbraucher, Wähler oder Mediennutzer auf die Couch. Ich habe in meinem Buch in einer Meta-Analyse die wichtigsten Studien der letzten Jahre zu einem Psychogramm der Gesellschaft zusammengefasst.

marktforschung.de: Das Buch greift viele Stimmungen in der Gesellschaft auf. So schreiben Sie zum Beispiel: "Oft wird der Jugend vorgeworfen, dass sie unpolitisch sei und sich zu wenig mit den globalen Fragen der Politik beschäftige." Das hört sich für mich nicht gerade neu an, das wird der Jugend seit ewigen Zeiten zum Vorwurf gemacht. Das letzte Mal, dass die deutsche Jugend auf breiter Front deutlich politischer als heute war, ist aber ja auch schon sehr lange her, oder nicht?
 
Stephan Grünewald: Wir leben in einer Zeit des Erwachens und die Jugend fängt an wieder politischer zu werden, wie die Freitagsdemos ja zeigen. Im Kapitel "Der Fluch des Paradieses", das sich mit der Kindheit und Jugend befasst, beschreibe ich, dass das Grundleiden der Kindheit nicht mehr materieller Natur ist. Die meisten Mädchen und Jungen erleben keinen Mangel an Essen oder Spielzeug. Sie leiden auch nicht an strengen und autoritären Eltern. Das Damoklesschwert, das heute über Kindern schwebt, ist die Sorge, dass ihr intaktes Familiensystem auseinanderbricht. In beinahe jedem Gespräch werden die Kinder bedrückt, wenn das Thema Trennung aufkommt. Auch wenn sie gar nicht selbst betroffen sind - fast alle kennen Beispiele in ihrem Umfeld. Wenn Eltern streiten, vor allem wenn sie laut werden, ist diese Verlustangst sofort da und sie haben das Gefühl, das Familiensystem stabilisieren zu müssen. Kinder übernehmen daher im Familiengefüge oft eine sehr erwachsene Aufgabe, nämlich die Schlichterrolle zwischen ihren Eltern. Kinder sind Weltmeister in der sozialen Kleindiplomatie. Ihre seelischen Energien werden anders als noch in den 70er Jahren stärker im Inneren der Familie gebunden.

marktforschung.de: In jeder Generation gibt es gesellschaftliche Veränderungen, Sie beschreiben im Buch zahlreiche davon. Besonders spannend ist doch zu sehen, wenn Tabus fallen. Wenn Dinge möglich sind, die noch vor 15 Jahren einen Aufschrei verursachten. Jüngere Menschen wundert das teilweise überhaupt nicht, sie haben das ja nicht anders kennengelernt. Ist dieser Prozess der ständigen Werteveränderung nicht einfach total normal und damit keinesfalls ein Anlass für ein solches Buch? Oder verändert sich aktuell wirklich mehr als früher?
 
Stephan Grünewald: Werte verändern sich ständig. Aber wir erleben heute eine entfesselte Beliebigkeit, die zu einem großen Orientierungsvakuum geführt hat. Dieses Vakuum wird jedoch geflutet durch die tagtraumartigen Heilserwartungen des digitalen AppSolutismus. Das Smartphone, mit dem viele Menschen fast verwachsen sind, macht uns allmächtig. Es birgt die Verheißung per Fingerwisch das Weltwissen ergoogeln, geschäftliche Transaktionen tätigen oder mit der App Tinder Liebespartner finden zu können. Das Smartphone ist ein modernes Zepter individueller Macht, das dem Einzelnen verspricht beinahe gottgleich die Welt im Handstreich beherrschen zu können. Aber mit der Option, dass alles kinderleicht auf Knopfdruck gemanagt werden kann, schwindet die Duldsamkeit und die Akzeptanz für den analogen Alltag. Hier finden wir, wie ich im Kapitel über die Männer beschreibe, Partner, die wir nicht verstehen und die das Regiment übernommen haben. Hier bin ich in Prozessen, die immer noch mühsam und kleinschrittig sind. Hier bin ich mit schwer auflösbaren inneren Widersprüchen konfrontiert. Wir kippen so ständig aus der digitalen Allmacht in die analoge Ohnmacht. Und auch dieses Kippen erzeugt Wut. Denn mit der Wut versuchen wir häufig Ohnmacht in Allmacht zurück zu verwandeln.

marktforschung.de: Was hat sie nach Auswertung der vielen Interviews am meisten überrascht? Womit hatten Sie nicht gerechnet oder lagen mit der eigenen subjektiven Einschätzung offenkundig völlig daneben?

Ich sehe eine große Gefahr, dass wir auf eine fundamentalistische Besessenheit zusteuern

Stephan Grünewald: Überrascht hat mich, wie zerrissen die Gesellschaft ist und wie groß bis in die Mittelschicht der Argwohn gegen die Eliten ist. Viele Menschen erleben unsere Gesellschaft als Zweiklassen-System. Sie haben das Gefühl, dass die Eliten sich nicht mehr solidarisch für bessere Lebensverhältnisse der Schwächeren einsetzen, sondern sich moralisch über die gemeinen Menschen erheben, die immer noch Fleischberge auf ihrem Grill braten, Alkohol trinken, rauchen, Süßkram oder Chips verzehren, Diesel fahren und Unterschichts-TV gucken. Wenn Teilen der Bevölkerung jedoch die Anerkennung entzogen wird, wenn sie in den Städten keine bezahlbaren Wohnraum mehr finden und wenn sie dann auch noch Sorge haben, dass im Zuge der digitalen Transformation auch ihr Arbeitsplatz obsolet wird, dann fühlen sie sich zunehmend fremd und unwillkommen im eigenen Land. Und das erzeugt Wut.

marktforschung.de: Ihr Buch zeigt ja auch, wie instabil Werte sind. Und wie zerbrechlich daher eine Wertegemeinschaft ist. Die größte Gefahr für eine Gesellschaft ist ja, dass sie in ihren Grundfesten erschüttert wird und sich Extremismus breit macht. Schützen uns Werte und Moral vor solchen Tendenzen? Und kann man diese überhaupt beeinflussen?

Stephan Grünewald: Ich sehe eine große Gefahr, dass wir auf eine fundamentalistische Besessenheit zusteuern, die ich als die Rückkehr des Totemismus bezeichne. Die verheißt einfache Ordnungen und Wahrheiten, klare Freund- und Feindbilder, radikale Abkürzung aller Prozesse, nationale Absolutheit und persönliche Allmacht, Erlösung von allen Widersprüchen und Ewigkeit. Diese paradiesischen Verheißungen können eine korrumpierende Wirkung für die Menschen haben. Ihre rauschhafte Dynamik hat aber letztendlich eine (selbst-)zerstörerische Wirkung. Ich plädiere in meinem Buch jedoch dafür, dass wir den Mut haben, diesen fundamentalistischen Paradies-Verheißungen entgegen zu treten und auf ein menschliches Maß zu setzen. Ich trete ein für eine Haltung, die bereit ist zu akzeptieren, dass der Mensch im 21 Jahrhundert immer noch ein behindertes Kunstwerk ist. Also kein Übermensch, sondern widersprüchlich und unvollkommen. Aber gerade seine partielle Beschränktheit, macht ihn gemeinschafts- und entwicklungsfähig. Zudem werbe ich für eine neue Streitkultur in den Familien und in der Politik. Wir brauchen den Mut, eine eigene Position zu beziehen, die uns auch angreifbar macht. Streit ist jedoch anders als Zank. Wer zankt will nicht etwas gestalten, sondern nur seine Bitternis ausagieren und andere kränken. Weil der Zank nicht zu einem produktiven Ende kommt, flammt er immer wieder auf. Der Streit zielt jedoch auf eine tragfähige Lösung. Und die entwickele ich, indem ich Position beziehe und gleichzeitig darauf vertraue, dass in einem aufwendigen Auseinandersetzungs-Prozess ein belastbares gemeinsames Ergebnis entsteht.

marktforschung.de: Danke, Herr Grünewald, für das Gespräch! 

Das Interview führte Tilman Strobel

 

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