Die Frage zum Sonntag! Das Kaninchen vor der Schlange

Das Ende einer Ära steht uns bevor, das Ende der Ära Merkel. 16 Jahre wird sie Deutschland regiert haben, ähnlich lange wie ihr politischer Ziehvater Helmut Kohl. Nach der Bundestagswahl 2013 führte sie eine Große Koalition an. 2017 stieg die FDP aus den Koalitionsverhandlungen zur Bildung einer Jamaika-Koalition aus, um "besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren", woraufhin die Große Koalition auch nach der Wahl 2017 fortgesetzt wurde.
Merkel versetzt Wähler*innnen in Dornröschenschlaf
Im Wahlkampf 2009 versuchte die CDU durch sogenannte "asymmetrische Demobilisierung" enttäuschte SPD-Wähler*innen vom Urnengang abzuhalten: Merkel vermied es, sich zu kontroversen Themen zu positionieren, um potenziellen SPD-Wählern*innen keinen Grund zu liefern, gegen sie zu votieren. Diese Strategie nutzte sie sicherlich auch aus der Erfahrung des Wahlausgangs im Jahre 2005, bei dem die CDU/CSU nur knapp vor der SPD lag (35,2 Prozent versus 34,2 Prozent). Die Strategie zahlte sich aus und die CDU/CSU lag bei der Bundestagswahl 2009 wieder deutlich vorne (33,8 Prozent). Die SPD erzielte "nur" 23 Prozent (was aber immer noch rund acht Prozentpunkte mehr ist als sie heute holen würde, wäre kommenden Sonntag Bundestagswahl). Diese für sie erfolgreiche Strategie beherzigte Merkel auch während ihrer Regierungszeit. Sie versteht es, sich bei polarisierenden Themen nicht festzulegen, und gleichzeitig politische Erfolge der Regierung für sich zu nutzen, auch wenn sie eigentlich vom Koalitionspartner gegen den Willen der CDU/CSU durchgeboxt wurden. Besonders in den Jahren 2013-2015 schaffte sie es, die Wähler*innen in eine Art Dornröschenschlaf zu regieren, in dem gesellschaftliche Verwerfungen und potenzielle Spaltungslinien nur selten sichtbar an die Oberfläche traten. Und das zeigt sich auch in der Sonntagsfrage: Zwischen der Wahl 2013 und Ende 2014 bewegte sich nur wenig.
(Der pollytix-Wahltrend beinhaltet das gewichtete Mittel der veröffentlichten Sonntagsfragen zur Bundestagswahl der verschiedenen Institute.)

Merkels Führungskonzept führt zu Verschiebungen
Doch die AfD stabilisierte sich in diesem Zeitraum oberhalb der fünf-Prozent-Hürde, was bereits darauf hindeutet, dass der vermeintliche Dornröschenschlaf vielleicht doch eher das paralysierte Kaninchen vor der Schlange war.
Natürlich verschwinden gesellschaftliche Spannungen nicht einfach, sondern bleiben bestehen und brechen auf, wenn polarisierende Themen (wieder) salient werden. Und genau das passierte 2015 im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise. Merkel konnte nicht mehr auf ihr vertrautes Konzept des Regierens mit ruhiger Hand vertrauen und positionierte sich. Das führte zu deutlichen Verschiebungen bei der Sonntagsfrage: Die CDU/CSU verlor an Wähler*innengunst, besonders die "kleinen Parteien" profitierten. Wenn man der gesellschaftlichen Polarisierung während der Geflüchtetenkrise etwas Positives abgewinnen will, so ist es, dass breite Bevölkerungsschichten wieder politisiert wurden.

Diese gesellschaftliche Politisierung spiegelte sich in den Verschiebungen der Wähler*innengunst auch im Rahmen des Wahlkampfes in Vorfeld der Bundestagswahl 2017.

Merkels letzte Amtszeit ist zunächst von der Klimakrise dominiert, dem Thema der Stunde, das nicht zuletzt durch die Fridays for Future-Demonstrationen stabil auf der gesellschaftlichen Themenagenda bleibt. Profitiert haben vor allem die Grünen.

Und heute, kurz vor dem Wahlkampf zur Bundestagswahl 2021, stecken wir mitten in der "größten Krise der Nachkriegszeit", einer Pandemie, von der Anfang 2020 noch niemand geglaubt hätte, dass sie die deutsche Bevölkerung für so lange Zeit beschäftigen wird. Ein Ende ist noch nicht in Sicht. Und wieder sitzt die deutsche Bevölkerung wie ein Kaninchen vor der Schlange – niemand bewegt sich – was sich in der Sonntagsfrage deutlich ablesen lässt.

Schweigende Mehrheit droht erneut einzuschlafen
Auch heute schwelen gesellschaftliche Spannungen, die durch die sogenannten Hygiene- und Querdenker-Demonstrationen zutage treten. Auch wenn diese kleine laute Minderheit die Agenda zu bestimmen scheint, wie man aus der medialen Aufmerksamkeit schließen könnte, hat sie nicht die breite Bevölkerung infiziert. Denn die breite "schweigende Mehrheit" bewegt sich zeitgleich kaum. Sie ist zu sehr damit beschäftigt, ihr Leben unter den neuen Bedingungen zu organisieren, die Verunsicherung ist in jedem Gespräch mit Wähler*innen deutlich zu spüren. Sie droht sich wieder müde ins Private zurückzuziehen – trotz spürbarer gesellschaftlicher Spannungen, trotz großer Verunsicherung und trotz breitem Zuspruch zur Krisenbewältigung der Bundesregierung. Die gesellschaftliche Politisierung, die mit der Polarisierung im Zuge der Geflüchtetenkrise einherging, droht wieder einzuschlafen.
Zurück zur lebendigen Demokratie
Es wird daher dringend Zeit für den Start des Wahlkampfes, um keinen weiteren Dornröschenschlaf der deutschen Bevölkerung zu riskieren, der gesellschaftliche Spaltungen nicht heilt, sondern lediglich überdeckt. Es wird dringend Zeit, für politische Kontroversen und konstruktiven Streit. Doch dafür müssten die Wähler*innen auch endlich wissen, wer die Protagonist*innen dieser Auseinandersetzung sein werden. Alle Parteien, die Kanzlerkandidat*innen ins Rennen schicken wollen, wären gut beraten, ihre Aufstellung schnellstmöglich bekannt zu geben. Nicht nur in ihrem eigenen Interesse, sondern im Interesse einer lebendigen Demokratie, die durch Merkels "asymmetrische Demobilisierung" und ihr Regieren mit ruhiger Hand, ebenfalls sediert wurde.
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/mvw
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