"Das Hineindrängen von vormals fachfremden Playern wie z.B. Google zeigt mir, dass die Branche ein großes Problem mit dem Vermitteln von Qualität hat" - MM-Eye-Geschäftsführer Christian Dössel im Interview

Christian Dössel, MM-Eye

Christian Dössel, MM-Eye

Christian Dössel ist zu Beginn des Jahres in die Geschäftsleitung der MM-Eye GmbH aufgestiegen und verantwortet seitdem das operative Geschäft des Instituts. Im Interview mit marktforschung.de äußert er sich zu den unternehmerischen Strategien, Veränderungen und Herausforderungen in der Marktforschung und der Mafo-Blogger-Szene in Deutschland.

marktforschung.de: Herr Dössel, Sie sind seit Jahresbeginn Mitglied der Geschäftsführung der MM-Eye GmbH. Wie waren die ersten Wochen im Amt?

Christian Dössel: Vielen Dank der Nachfrage. Die ersten Wochen waren sehr intensiv. Auch wenn das Jahr 2013 noch relativ jung ist, so ist doch schon wieder viel passiert. Im Moment sind wir an mehreren nationalen Ausschreibungen beteiligt. Parallel forcieren wir das internationale Geschäft mit unseren Kollegen in London. Und nebenbei arbeiten wir an einem Relaunch unserer Internetseite www.mm-eye.com. Dabei ist das Tagesprojektgeschäft nicht zu vergessen. Mir wird dieser Tage nicht so schnell langweilig.

marktforschung.de: Welches sind Ihre strategischen und operativen Ziele für die nächsten Monate?

Christian Dössel: Im wahrsten Sinne ganz operativ ist gerade die Suche nach ein bis zwei zukünftigen Kollegen oder Kolleginnen. Die Tatsachen, dass wir wachsen wollen und dass wir es in Hamburg mit einem hohen Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt zu tun haben, macht diesen Schritt nötig. Ich hoffe sehr, dass wir bei der Suche auch von unserem neuen Standort im Hamburger Schanzenviertel profitieren können.

Strategisch geht es die nächsten Monate für uns darum, der nationalen und der internationalen Marktforschung noch stärker unseren Stempel aufzudrücken. MM-Eye hat in den letzten zwei Jahren mehr Bekanntheit über die Grenzen von Hamburg und Deutschland hinaus erlangt, das ist sehr erfreulich. Aber das kann natürlich nur der Anfang sein, nun müssen wir zeigen, warum und wie sich die Zusammenarbeit mit uns lohnt und auszahlt. Ganz konkret haben wir ein paar Produkte und Ansätze rund um die Kombination von qualitativer Online-und Offline-Forschung in der Pipeline, die bald gelauncht werden.

marktforschung.de: Sie sind ja bereits seit gut zwei Jahren im Unternehmen – vor Ihrer Berufung zum Geschäftsführer waren Sie als Research Director bei MM-Eye tätig. Gibt es signifikante Veränderungen oder Entwicklungen, die Sie in dieser Zeit in der Marktforschungsbranche beobachtet haben?

Christian Dössel: Zwei Jahre sind für die Branche im Moment eine sehr lange Zeit. In den letzten vier Jahren haben sich die Anforderungen an unsere Branche so stark verändert wie vielleicht in den 20 Jahren davor zusammen nicht. In so einer sehr dynamischen Zeit hat sich jede Menge getan. Vielleicht kann man zwei Dinge herauspicken: Ich finde es sehr erfrischend, dass neben der zunehmenden Konzentration im Markt mit all den Mergern und Aufkäufen von bedeutsamen Playern immer wieder neue Neugründungen auf dem Markt entstehen. Das fördert Innovationen und frisches Denken und treibt die Branche an.

Wenn ich aber Deutschland mit anderen Märkten vergleiche, dann sind wir hier bei uns in der Definition der Branche "Marktforschung" viel zu eng. MM-Eye Hamburg profitiert so z.B. von der Kenntnis unsere Londoner Kollegen über den UK-Markt. Es ist unglaublich inspirierend zu sehen, wie man sich dort vielerorts mit dem Thema "Marktforschung" auseinandersetzt und Themen im Gravitationsfeld der Marktforschung in das Denken und Konzipieren integriert. Daraus sind neue Agenturmodelle entstanden, die wir in Deutschland bisher nur selten finden, auch deshalb, weil sie sich in ihrem Selbstverständnis gar nicht unbedingt so eindeutig unserer Branche zuordnen würden. Wenn es aber um die Verteilung von Budgets für  Marktforschungsleistungen geht, spielen sie dann wieder eine ernstzunehmende Rolle.

Diese Art der Konvergenz im Geschäftsmodell wird uns zunehmend auch in Deutschland erwarten. Das wird nebenbei bemerkt auch eine große Herausforderung für die Verbandsseite werden.

marktforschung.de: Ein wesentlicher Fokus Ihres Unternehmens liegt auf der qualitativen Forschung – ein Bereich, der in der Branche traditionell einen sehr kleinen Teil des gesamten Umsatzes ausmacht. Worin besteht die Kunst, den Kunden qualitativen Methoden schmackhaft zu machen und diese wirtschaftlich rentabel anzubieten?

Christian Dössel: Eine wirklich gute Frage, über die man lange reden kann, zu lange vermutlich…

Grundsätzlich sind wir bei MM-Eye der Meinung, dass es in den allermeisten Fällen sinnvoll ist, auch zu verstehen, was man misst. Wenn man dieser Annahme folgt, kommt man um qualitative Methoden nicht herum. Aber eigentlich rede ich gar nicht so gerne über die Unterscheidung zwischen qualitativ und quantitativ, weil dies eine Unterscheidung mit abnehmender Relevanz ist. Unsere wissenschaftlichen Urgroßväter haben uns diese Unterscheidung in die Wiege gelegt, mit Konsequenzen. Die Folge ist ein hoher Spezialisierungsgrad in der Branche und damit ein stark ausgeprägtes Silodenken. Auch finden wir eine hohe Korrelation zwischen dem Erhebungskanal und der Methode vor. Quantitatitv ist oft gleich Online, Qualitativ ist oft gleich Offline. Dass das zunehmend auch mal hinterfragt werden muss - und wird - liegt ja auf der Hand.

Ich selber habe mich jahrelang als Spezialist für quantitative Methoden gesehen, dass war das, was ich schwerpunktmäßig im Studium gelernt und in meiner beruflichen Praxis getan habe. Schließlich habe ich gesehen, dass das bei weitem nicht ausreicht. Da war es fast zu spät und ich war schon fast überspezialisiert.

Aber zurück zur Frage, daraus können Sie erkennen, dass wir nicht dogmatisch qualitative Forschung anstatt von quantitativen Ansätzen vertreten. Mir ist an integrierten und ganzheitlichen Lösungen gelegen, denen es egal ist, aus welcher methodischen Schule sie kommen, solange sie funktionieren und solange sie die Erkenntnisse an den Tag bringen, die benötigt werden. Ein gutes Beispiel dafür ist unsere Befragungsmethode THOUGHTscape, mit der es gelingt eine quantitative Befragung mit einem qualitativen Verständnis der Messgrößen anzureichern. Vor allem - aber nicht nur - für quantitative Tracking-Studien besteht ja eine der großen Herausforderungen derzeit darin, über die Kenngrößen und KPIs hinausgehende rational ungefilterte, ehrliche, und emotionale Ergebnisse zu erfassen, also das, was Menschen in ihren Entscheidungen beeinflusst. Wenn dann der Fragebogen durch videogestützte, persönliche Ansprache und das Eingehen auf individuelle Befindlichkeiten zur Beantwortung motiviert, dann wirkt die Trennung zwischen qualitativ und quantitativ in der Tat künstlich.

marktforschung.de: Neben der Grenze zwischen qualitativer und quantitativer Forschung verläuft eine weitere Linie zwischen Online- und Offline-Forschung. Wie nehmen Sie das wahr?

Christian Dössel: Naja, die Notwendigkeit der Überprüfung von Grenzen betrifft nicht nur die Methode, sondern auch den Erhebungskanal. Gerade die qualitative Online-Forschung ist ja gerade erst entstanden. Wie es für die Online-Forschung fast schon üblich ist, können wir derzeit eine Überbetonung von Technologie erleben. Viele nähern sich qualitativer Online-Forschung über die Online-Forschungstechnologie, also über die Softwarelösung. Das ist nicht unbedingt falsch, greift aber zu kurz.

Im Moment kann man z.B. beobachten, wie es den Online Research Communities sprichwörtlich an den Kragen geht und der wahre Nutzen der Methode nur selten zum Tragen kommt. Vieles von dem, was ich hier zum Status Quo der Methode gesagt habe, ist weiterhin erlebbar. Wir bei MM-Eye sagen, dass es keine Research Community im eigentlichen Sinne geben kann ohne "Social Glue", also das Community Erlebnis. Dafür ist aber nicht die Software, sondern die Moderation verantwortlich. Anbieter, die auf ihrer Website ein Onlineforum als preisgünstige Alternative zur Offline-Gruppendiskussion anpreisen, müssen sich meines Erachtens schon den Vorwurf gefallen lassen, einen Forschungsansatz zu verheizen.

Technologie ist nur eine Facette des Ganzen. So wird ja gerade der Begriff "Öffentlichkeit" und seine Bedeutung für das Internet neu verhandelt und müssen im Forschungskotext ebenfalls berücksichtigt werden. Schließlich verändert sich das Kommunikationsverhalten immens durch Mobile- / Online-Angebote, was einen Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung von qualitativer Online-Forschung hat, etc. pp. Das alles geht weit über die Nutzung einer technischen Internet-Forschungsplattform hinaus.

Dass wir sowas können, zeigt die Tatsache, dass MM-Eye seit 1990 am Markt etabliert ist. Wir haben in der Zeit viel gesehen und mitgestaltet und blicken auf bald 25 Jahre Konsumentenforschung zurück, die wir mit neuen Ansätzen kombinieren. "Keine Zukunft ohne Herkunft", das ist etwas, wofür wir von jüngeren Instituten und Agenturen aber auch von reinen Technologie-Dienstleistern hier und da schon ein bisschen beneidet werden.

marktforschung.de: Stichwort "Technologie": "Quo vadis, Marktforschung" – eine in den letzten Jahren viel gestellte Frage, die der ein oder andere Marktforscher auch sicherlich nicht mehr hören kann. Dennoch wird sich die Branche nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Aktivitäten solcher Unternehmen wie Google – Stichwort: "Google Consumer Surveys" – hinsichtlich ihres Tuns und Ihres Angebotes stets hinterfragen müssen, um zukunftsfähig zu bleiben. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Christian Dössel: Es ist ja kein Zufall, dass "Big Data" und "Social Media" – beides buzzwortartig und unspezifiziert – reflexartig als Herausforderungen Nummer 1 für die Marktforschung genannt werden. Für beides erhoffen wir uns vermutlich den Zugriff über Spezial-Technologie. Dass dies allenfalls Mittel zum Zweck ist, wird oft übersehen. Man könnte fast meinen, dass aus der Auseinandersetzung mit dem Thema "Data Mining" Mitte der 90er Jahre nur wenig gelernt wurde. Auch damals hat man ja versucht, beide Disziplinen zu verbinden, fast ausschließlich technologisch motiviert und mit eher bescheidenem Erfolg.

Das Hineindrängen von vormals fachfremden Playern wie z.B. auch Google zeigt mir, dass die Branche ein großes Problem mit dem Vermitteln von Qualität hat. Immerhin ist es die Qualität unserer Arbeit, die wir uns bezahlen lassen. Wenn dieses Plus an Qualität nicht mehr erlebbar ist, wofür soll dann jemand bezahlen? Wenn "gut genug" besser ist als "sehr gut", dann ist schon schwer zu vermitteln, warum dafür Geld ausgegeben werden soll.

Deswegen halte ich auch die Entwicklung im Hinblick auf Do-it-Yourself-Marktforschung (DIY) für viel bedrohlicher als die Erwartung, dass Marktforschung nun die Antwort auf Big Data liefern wird bzw. selber ist. DIY ist mittlerweile weit verbreitet, auch aus Kostengründen und aufgrund beschränkter Budgets. Ich musste mir schon die Augen reiben, als ein Fachmagazin ihre Abonnenten und Newsletter-Empfänger um die Teilnahme an einer quantitativen Online-Befragung bat, die auf Basis einer DIY-Befragungsplattform erstellt wurde und vielen Qualitätskriterien schlichtweg nicht entsprach.

Daher stellt sich die Frage, wo die Qualität herkommen soll und ob wir nicht so etwas wie eine "neue Qualität" benötigen. Diese "neue Qualität" besteht für uns bei MM-Eye ganz klar in der Konzeption von neuen und integrierten Research-Ansätzen. Durch die Kombination von Bekanntem und Neuem, Online und Offline entstehen neue, interessante und qualitativ hochwertige Angebote, alte Grenzen werden überwunden, neu gezogen oder verschmelzen. Dabei sind Berührungsängste zu angrenzenden Feldern ebenso wenig zielführend wie eine Verteidigungshaltung zu Gunsten des Status Quo.

Noch ein anderer Gedanke: wenn mal jemand semantisch untersuchen würde, warum wir "Quo vadis, Marktforschung" und nicht "Was geht, Marktforschung" sagen, und was das für unser Selbstbild bedeutet, das wäre schon interessant, glaube ich.

marktforschung.de: Welche Rolle spielt in diesem Kontext der Aspekt der Beratung in der Marktforschung?

Christian Dössel: Beratung ist selbstverständlich sehr wichtig, sowohl am Anfang als auch am Ende eines Projekts. Aber wer kann beraten? Und wer lässt sich beraten?

Man braucht Erfahrung für eine gute Beratung, deshalb ist eine gewisse Seniorität Grundvoraussetzung. Daneben muss man gewillt sein, Grenzen zu überwinden und auch jenseits der üblichen Markforschungsstandards zu denken und zu konzipieren, wenn dies nötig ist. Methodenneutralität, Offenheit für alternative Methoden, das Überwinden von Silos und ein integratives Vorgehen stehen daher bei uns auch an erster Stelle. Das alles darf aber kein Selbstzweck sein, denn manchmal ist alle auch viel einfacher und wir können N = 1.000 CATI Interviews führen.

Schließlich kommt Beratung dann wieder ins Spiel, wenn es um die Implementierung der Ergebnisse geht. Je mehr Marketing- und Strategie Know-How vorhanden ist, desto besser wird dieser Beratungsteil. Dabei ist nur wenig Platz für "Spezialisten-Kauderwelsch" und unnötige Marktforschungszentriertheit.

marktforschung.de: In einem Interview, dass wir vor einigen Jahren noch vor Ihrer Zeit bei MM-Eye geführt haben, sagten Sie – ich zitiere: "Ganz persönlich warte ich immer noch auf den Tag, an dem sich auch die deutsche Marktforschung ausreichend vernetzt und selbst Contentlieferant im Web 2.0 wird". Sie selbst gehören neben Florian Tress, Rene Kaufmann und Oliver Tabino zu den Initiatoren der Blogging-Plattform "mafolution". Wie bewerten Sie die Situation heute? Sind die Marktforscher "austauschfreudiger" geworden?

Christian Dössel: Sagen wir mal so, sie bemühen sich. [lacht]

Spaß beiseite, es zeigt sich, dass vor allem der Marktforschungsnachwuchs großes Interesse an der mafolution hat. Es werden hier relevante Dinge zur Ausbildung und zum Einstieg in die Berufswelt diskutiert, für die es vorher anscheinend keinen oder nur wenig Raum gab.

Aber auch darüber hinaus sind nach fünf Monaten thematische Schwerpunkte zu erkennen. Für eine Online-Blogging-Plattform total üblich steht Social Media und die Bedeutung für Marktforscher immer wieder im Vordergrund. Auch die Rolle der Marktforschung im gesellschaftlichen Zusammenhang wird ebenso diskutiert wie die Forschungspraxis, spezifische Methoden und Märkte. Ich persönlich finde ja auch die Diskussion über Qualität und Preis-Leistungsverhältnis von Felddienstleistungen sehr spannend.

Es ist also für alle etwas dabei. Das kommt auch daher, dass wir unsere Kräfte gebündelt haben. So ist z.B. das Projekt "Foyer für engagierte Marktforschung" nur noch auf Facebook aktiv und der Blog verlinkt jetzt direkt zur mafolution.

So eine Plattform lebt natürlich von der Vielfalt der Autoren. Weil wir das wissen, war eine der Motivationen für die mafolution auch, die Barrieren für das Verfassen von Beiträgen zu minimieren. Mit olympiamilano.de gehöre ich zu den Begründern der Deutschen MaFo-Bloggerszene, den anderen ging es mit ihren Blogs ähnlich. Da sind wir aber die Contentlieferanten und andere können kommentieren.

Mit mafolution haben wir jedoch die Möglichkeit geschaffen, dass sich alle am Diskurs aktiv beteiligen und mafolution-Autoren werden können, auch ohne eigenes Blog oder Forum, einzige Voraussetzung ist die Beherzigung des Manifests.

Dennoch sind wir immer auf der Suche nach neuen Autoren, besonders auch um die Sicht der betrieblichen Marktforschung und verwandter Bereiche wie Marketing und Sales noch stärker zu berücksichtigen.

Und natürlich haben wir vier als Initiatoren der mafolution jede Menge Spaß mit der Plattform, im Moment mit einer Blogparade zum Thema Krise, die ich allen nur ans Herz legen kann.

Insgesamt beobachte ich eine stärkere Neigung, sich auch digital auszutauschen. Das liegt natürlich nicht nur an der mafolution. Wenn Qualität und Relevanz des Contents stimmt, dann erhöht sich auch die Neigung, diesen Content zu kommentieren und zu teilen. Eine wichtige Rolle dabei spielt auch das marktforschung.dossier. Hier beobachte ich eine steigende Relevanz von Beiträgen und Themen für die Branche.

marktforschung.de: Das freut uns, Herr Dössel, vielen Dank für das Feedback und das ausführliche Interview und weiterhin viel Erfolg!

 

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