Marco Ottawa & Rochus Winkler "Das Buch offenbart, welches Selbstbild Marktforscher haben"

Die Marktforschungsbranche steht einer Reihe von vermeintlichen Bedrohungen, wie Big Data oder Do-it-Yourself-Marktforschung, gegenüber. In ihrem Buch "Kompetenzen für die Marktforschung" schildern Marco Ottawa (Telekom) und Rochus Winkler (concept m), worauf es jetzt für Marktforscher ankommt, um sich zukunftsfähig aufzustellen. Anlässlich der Veröffentlichung trafen wir die Autoren zum Interview.

Marco Ottawa & Rochus Winkler
Marco Ottawa & Rochus Winkler

 

marktforschung.de: Herr Ottawa, Herr Winkler, morgen erscheint Ihr Buch Kompetenzen für die Marktforschung: Was Marktforscher zukunftssicher macht im Handel. Was hat Sie zu diesem Werk veranlasst?

Ottawa: Da sind zwei Dinge zusammengekommen. Zum einen schreiben wir gerne, aber deswegen schreibt man ja nicht gleich ein dreihundertseitiges wissenschaftliches Buch. Vielmehr wollten wir der seit Jahren in unserer Branche intensiv diskutierten Frage, wie wir Marktforscher zukunftssicher werden und was wir dazu benötigen, ein empirisches-wissenschaftliches Fundament verleihen. Bislang gab es dazu vor allem in den einschlägigen Branchenorganen einen Vielzahl zum Teil stark divergierender Einzelmeinungen, deren Fundament jedoch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern die individuelle Berufserfahrung einzelner Marktforscher darstellten. Unser Buch versteht sich demgegenüber als Beitrag über unsere Arbeit, die zu den spannendsten und abwechslungsreichsten zählt.

Winkler: Genau, denn jeden Tag sind wir mit Zukunftsfragen zu unserer Branche konfrontiert. Nun ist das erste Stimmungsbild auf Basis einer tiefenpsychologischen und quantitativen Forschung entstanden. Es war einmal an der Zeit, nicht nur für die Branchen unserer Kunden zu forschen, sondern auch uns Marktforscher zu betrachten. Uns war daran gelegen, zu verstehen, wie sich der Marktforscher heutzutage fühlt, jenseits der isoliert messbaren Marktzahlen. Was sind seine Freuden, seine Ängste und Unsicherheiten? Welche Eigenschaften und Kompetenzen werden als zukunftsweisend erlebt? Unsere Publikation umfasst Institutsmarktforscher, Betriebsmarktforscher, Studierende und Lehrende in Deutschland, mit einigen Teilnehmer aus Österreich und der Schweiz. Unsere Empirie beruht auf insgesamt 441 vollständig ausgefüllten Fragebögen.

marktforschung.de: An wen richtet sich das Buch in erster Linie?

Winkler: Das Buch richtet sich an alle diejenigen, die an der heutigen Branchenkultur interessiert sind und künftig mit Marktforschung in Kontakt stehen. Angesprochen sind in erster Linie Studierende, Lehrende, Institute und Betriebsmarktforscher. Besonders interessant dürfte das Buch aber für die Abnehmer beziehungsweise Beauftragende von Marktforschung in den Unternehmen sein, also Marketing-Manager oder Vertrieb und Geschäftsführung. Denn das Buch offenbart, welches Selbstbild Marktforscher haben und wie sie sich für die Zukunft ausrüsten. Ich empfehle das Buch auch Verantwortlichen aus Controlling und Einkauf, die maßgeblich für Preise und Qualität in der Branche mitverantwortlich sind.  

Ottawa: Letztlich an alle, die von oder für Marktforschung leben. En détail sehe ich da sechs Zielgruppen, nämlich Institute, betriebliche Marktforscher, Auftraggeber und Nutzer von Marktforschung, Marktforschungsverbände sowie Marktforschung Lehrende und Lernende. Diese Zielgruppen sollen besser verstehen, wo Kompetenzlücken existieren, aber auch fundierter in der Lage sein, von ihren Dienstleistern, sprich uns Marktforschen, die relevanten Kompetenzen einzufordern.

marktforschung.de: In Ihrem Buch schildern Sie unter anderem die psychologische Verfassung der Branche in der DACH-Region. Wie steht es denn aktuell um die Branche?

Winkler: Kennzeichnend für den Zeitgeist in den ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts ist eine Kultur der Maximierung und Beschleunigung, bei der Technologie und Mensch eifrig zusammenwirken. Die Welt wird immer komplexer und vernetzter, und die Menschen erleben, dass Zyklen immer kürzer werden und die Bereitschaft, schnell zu switchen, als unabdingbare Voraussetzung eines modernen Lebensstils gilt. Die Konsequenz dieser Lebenswirklichkeit ist eine unterschwellige Unruhe, die natürlich auch die Marktforschung erfasst und beeinflusst. Erlebt wird, dass Big Data alles bisher Gelebte in Frage stellt – auch in der Marktforschung. Die Informationstechnologie treibt die Entwicklung. Die durch den Fortschritt geschaffenen digitalen Möglichkeiten, in riesigen Quantitäten zu erheben und sie zu verarbeiten, wirken auf den ersten Blick so fantastisch, dass sie das gesamte Lehrgebäude der Marktforschung überstrahlen. Es zeigt jedoch auch, dass die Fragmentierung der modernen Marktforschungswelt wieder den Bedarf weckt, den forschenden Blick auf das Große und Ganze zu richten, auf die grundlegenden Zusammenhänge von Marktentwicklungen. In einer als unübersichtlich und verworren erlebten Gegenwart gilt es für den Marktforscher, sich nicht von Beunruhigungen und Aktionismus mitreißen zu lassen. Stattdessen sollte er auf seine Kompetenzen schauen, auf das Wissen, dass hinter allen Entwicklungen altbewährte Strukturen stecken. Der Mensch steht vor der Maschine: technologisch wird sich nur das durchsetzen können, was seelisch relevant ist.

Ottawa: Für mich ist die Marktforschung ein Spiegelbild der, zumindest deutschen und österreichischen, Gesellschaft. Man ist ob der gravierenden Veränderungen, ich nenne gesellschaftlich nur Masseneinwanderung und Wertepluralismus bzw. in unserer Branche Globalisierung und Digitalisierung, verunsichert. Man erkennt, dass sich und vor allem man selbst als Marktforscher etwas ändern muss, hat aber keine klare Strategie, was zu tun ist. Die Antworten auf Big Data, immer höhere Schnelligkeit der Ergebnislieferung und die scheinbare Überalterung des Begriffs Marktforschung an sich, liegen nicht auf der Hand.

marktforschung.de: Wenn wir über die Zukunftsfähigkeit der Marktforschungsbranche sprechen – was ist aus Ihrer Sicht die größte Bedrohung für die Branche und wie kann man dieser entgegentreten?

Ottawa: Die vermeintlich ad hoc oder zumindest kurzfristige Verfügbarkeit von (Schein)wissen über Web-Analyse und Schnellumfragen in zweifelhaften Grundgesamtheiten etcetera, ohne nach dem Warum hinter den Ergebnissen zu fragen.

Winkler: Psychologisch gesehen stellt des Weiteren die mangelnde Kommunikation zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer die größte Herausforderung dar. Dieser Aspekt wird in unserem Buch beleuchtet, weil er ein Kernbefund der Forschung war. Uns stehen immer weniger Ressourcen zur Verfügung. Der Faktor Zeit beschleunigt sich ebenfalls und wird immer wertvoller.

marktforschung.de: Wesentlicher Bestandteil Ihres Werkes ist auch die Schilderung von Selbst- und Fremdeinschätzung der marktforscherichen Qualifikationen. Besteht eine hohe Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung?

Ottawa: Grundsätzlich waren die Antworten der Marktforscher unabhängig von der Art ihrer Beschäftigung recht homogen. Zwischen Instituts- und betrieblichen Marktforschern gibt es jedoch Wahrnehmungsverzerrungen. Trotz des hohen Stellenwerts der vor allem quantitativen Methodik bei betrieblichen Marktforschern werden diesen von ihren Institutskollegen diesbezüglich Mängel konstatiert. Umgekehrt verhält es sich bezüglich des Wissens um Unternehmen, Kunden und Märkte ihrer Auftraggeber auf Seiten der Institutsmarktforscher. 

marktforschung.de: Glauben Sie, dass das, was in Sachen Marktforschung an deutschsprachigen Hochschulen gelehrt wird mit Blick auf die Praxis noch zeitgemäß ist?

Winkler: Unsere Untersuchung zeigt eindeutig, dass neben der Methodenkompetenz, die seit jeher gelehrt wird, die sozialen Fähigkeiten stärker ausgebildet werden müssen. Belastbarkeit, Teamfähigkeit, Arbeiten in interdisziplinären Teams, Präsentationsfähigkeiten und das Beherrschen von Fremdsprachen sind für die Zukunft entscheidend. Noch werden IT-Kompetenzen als eher gering bewertet. Das dürfte sich aber ändern.

Ottawa: Auf die Gefahr hin als langjähriger Lehrbeauftragter für Marktforschung eigene Versäumnisse anzuklagen, sehe ich diesbezüglich noch einigen Nachholbedarf. Die im Rahmen dieses Buches von mir analysierten Curricula marktforschungsspezifischer oder zumindest -orientierter Studiengänge zeigen einen starken methodischen Schwerpunkt. Diesen will ich auch gar nicht wegreden, doch dazu raten, auch soziale und persönliche Kompetenzen stärker in den Fokus zu nehmen, da sie im späteren Berufsleben im Fokus stehen.

marktforschung.de: Welche Skills muss ein Marktforscher Ihrer Meinung nach heutzutage mitbringen, um im Arbeitsalltag zu bestehen?

Ottawa: Uns selbst überraschend ergaben unsere empirischen Studien folgende Reihenfolge der Kompetenzcluster hinsichtlich ihrer Wichtigkeit: Erstens: Personale Kompetenzen. Zweitens: allgemeine Methodenkompetenzen. Drittens: Sozialkompetenzen. Viertens: Fachkompetenzen. Fünftens: Marktforschungsspezifische Methodenkompetenzen. Sechstens: IT-Kompetenzen. Vom Bauchgefühl, das auch zum Beispiel durch das Lehrgangsangebot des BVM gestützt wurde, her hatten wir die marktforschungsspezifischen Methodenkompetenzen ganz vorne erwartet. Stattdessen finden sich dort die personale Kompetenzen, mithin ein Kompetenzcluster, das sich nur bedingt erlernen lässt. Ein möglicher Erklärungsansatz für diesen Befund kann sein, dass die marktforschungsspezifische Methodenkompetenz von uns als Hygienefaktor einfach als gegeben vorausgesetzt wird. Auf einzelne Kompetenzen bezogen sind Beratungskompetenz, Visualisierung, Branchenkenntnisse (bezogen auf die Branchen der Kunden), Innovationskompetenz und Präsentation von herausragender Bedeutung. Je nach Position in der Marktforschung gibt es aber durchaus auch noch andere Schwerpunkte, etwa Akquisitionsstärke bei Institutsleiterinnen.

marktforschung.de: Einen großen Teil Ihres Buches widmen Sie dem Thema Beratung durch Marktforscher - warum ist das so ein wichtiger Aspekt?

Winkler: Die Zeiten, in denen sich Marktforscher hinter ihren Datenbergen verstecken konnten, ist ein für alle Mal vorbei. Marktforschung ist die Beratung in die Wiege gelegt: denn sobald ich ein Untersuchungsanliegen marktforscherisch aufkläre, habe ich mit Auftraggebern zu tun, die aus einer anderen Disziplin kommen. Das können eben Marketingprofis sein, Kommunikationsmanager, Geschäftsführer, Vertriebler etcetera. Beratung geht schon da los, wo wir ein Anliegen an die Marktforschung formulieren, es gilt ein Verständnis füreinander zu erzielen. Da muss schon der Auftraggeber beraten werden, welcher Ansatz am besten ist.

Ottawa: In beiden Branchenbefragungen, die wir 2015 und 2016 durchgeführt haben, war die Beratung durch Marktforscher sowohl bei den Instituten als auch den betrieblichen Marktforschern der Hoffnungsträger Nummer eins. Dabei spielt sicherlich auch die Hoffnung eine Rolle, durch eine Erweiterung der Wertschöpfungsquelle die notorisch stabilen Umsätze der deutschen Marktforschung zu etwas Wachstum zu verhelfen.

Winkler: Insbesondere gilt aber auch nach der Endpräsentation ist vor der Endpräsentation. Die Ergebnisse nur vorzustellen, ist zu wenig. Hier kommt wieder Beratung mit ins Spiel. Es gibt aber auch eine Grenze für die Beratung durch Marktforscher: der Marktforscher muss nicht immer die finalen Strategien vorstellen, die von Planern, Marketing und anderen entwickelt werden; aber er soll Empfehlungen aussprechen, für einen Weg inspirieren und somit Impulse setzen und mitberaten, welche Maßnahmen das Unternehmen nach der Marktforschung ergreifen soll. Der Marktforscher entwickelt sich künftig zum Marktforschungsberater, der auch seine Netzwerke beim Kunden einbringt.

marktforschung.de: Die Akte Marktforschung hat die Branche ordentlich durchgerüttelt. Inwiefern, glauben Sie, haben diese Vorfälle Auswirkungen auf die Zukunft der Branche und auf die Nachwuchs-Talentsuche?

Ottawa: Offen gesagt glaube ich das nicht, da, um die Fledermaus von Johann Strauß Sohn zu bemühen, selig ist, wer vergisst. Zudem sehe ich kein Ende des Preisdiktats der Nachfrager. Wer schlecht bezahlt, bekommt entsprechend schlechte Dienstleistungen.

Winkler: Die Branche stellt sich neu auf und das Vertrauen, dass verlorengegangen ist, wird wieder aufgebaut: DSGVO, Internetsicherheit, die Verbandsarbeit und auch die feste Partnerschaft der Institute mit den Kunden und anderen Marktteilnehmern sind wichtige Entwicklungen. Unsere Branche bleibt aber auch in der Zukunft für Nachwuchstalente attraktiv.

Ottawa: Unsere Branche hat Zukunft, muss aber einige Hausaufgaben machen, um angekratztes Vertrauen sowohl bei Kunden als auch bei potenziellen Nachwuchsmarktforschern zurückzugewinnen.

marktforschung.de: Welche Empfehlung geben Sie jungen Leuten mit auf den Weg, die in der Marktforschungsbranche tätig werden wollen? 

Winkler: Egal in welchem Bereich der Marktforschung man Fuß fassen möchte: entscheidend ist die Neugierde, die Dinge analysieren und verstehen zu wollen. Als Marktforscher muss man eben Forscher sein und sich für die Forschungsthemen begeistern können! Egal, ob dies nun neue digitale Produkte sind oder Themenfelder rund um Marke, Kommunikation, Innovationen oder Vertrieb. Ich sprach zuletzt mit einem Marktforscher, der sich für den Beruf entschieden hatte, weil er mit Marktforschung mehr über unsere Welt und schließlich sich selbst lernt. Das hält ihn bei der Stange.

Ottawa: Verlassen Sie sich nicht ausschließlich auf das in den Curricula Gelehrte. Machen Sie branchenspezifische Praktika und knüpfen Sie darüber, aber auch über Messebesuche und Publikationen, schon während Ihres Studiums Kontakte in die Branche. Und das meines Erachtens Wichtigste: gehen Sie unter Menschen und übernehmen Sie Verantwortung, egal ob als Schwimmtrainerin, Senior einer Studentenverbindung oder Tutor für jüngere Kommilitonen. Nur so werden Sie die für unseren Beruf unabdingbaren Personal- und Sozialkompetenzen erwerben.

marktforschung.de: Vielen Dank für das Interview!

Ottawa / Winkler: Kompetenzen für die Marktforschung. Was Marktforscher zukunftssicher macht (De Gruyter, 2018).
Ottawa / Winkler: Kompetenzen für die Marktforschung. Was Marktforscher zukunftssicher macht (De Gruyter, 2018).
 

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