Applied Science Retargeting: Das beste Pferd im Stall des digitalen Marketings?

Jeder von uns kennt Retargeting. Wir stöbern im Onlineshop, betrachten Produkte, legen sie in den Warenkorb, aber verlassen den Checkout ohne Kaufabschluss. Kurze Zeit später erinnern uns Anzeigen in Social Media oder E-Mails an die nicht gekauften Produkte. Augenscheinlich ist Retargeting eine der Erfolgsgeschichten des digitalen Marketings. Dennoch fehlte bisher wissenschaftliche Erkenntnis zum richtigen Einsatz. Nun sind dazu zwei spannende Forschungsarbeiten erschienen - deren Highlights fassen die E-Commerce-Professoren Fretschner und Lüdtke zusammen.

Nicht alles, was im virtuellen Einkaufwagen landet, wird am Ende auch gekauft. Die angesehenen Produkte ohne Kaufabschluss sind klassischer Anlass für ein Retargeting. (Bild: picture alliance/dpa | Mohssen Assanimoghaddam)

Das Wertversprechen von Retargeting ist für Akteure des E-Commerce sehr nachvollziehbar. Je nach Statistik kaufen nur etwa 2 Prozent aller Besucher etwas während ihres Besuchs in einem Onlineshop. Das heißt auch, dass die verbleibenden 98 Prozent den Shop wieder verlassen haben, ohne etwas zu kaufen, obwohl sie vorher ebenfalls für viel Geld über Google, Facebook und Co. akquiriert wurden. Was liegt da näher, als diese Besucher nach dem Verlassen des Shop im Netz wieder zu finden und sie außerhalb des Shops erneut anzusprechen, sie also im wahrsten Sinne des Worts zu retargeten. Retargeting ist eines der wenigen unbestrittenen Must-Haves im Werkzeugkasten der Online-Marketer und ähnlich wie SEA, SEO oder Social-Media aus dem E-Commerce nicht wegzudenken.  Branchenexperten raten sogar Werbetreibenden mittlerweile dazu, bis zu 40 Prozent des Marketingbudgets für Retargeting einzusetzen. 

Retargeting ist unverzichtbar

Dabei wird Retargeting heute nicht nur für gefüllte und verlassene Warenkörbe, sondern auch schon viel früher im Conversion-Funnel eingesetzt.

Gerade bei komplexen und teuren Produkten und Dienstleistungen spielt die Ansprache von bekannten Besuchern eine wichtige Rolle, um sie im Conversion Funnel zu halten.

Autohersteller erinnern uns bei LinkedIn an neue Modelle, obwohl wir nur einmal die Website besucht haben und Krankenversicherer bieten uns auf Social-Media Zahnzusatzversicherungen an, weil wir aufmerksam deren SEO-Content zur Kariesprophylaxe gelesen haben. 

Dennoch ist Retargeting in der digitalen Werbebranche nicht unumstritten. Zunächst wurde die technische Grundlage für das Retargeting durch die Novellierung der europäischen Datenschutzverordnungen und die Einschränkung zur Verwendung von 3rd-Party Cookies durch die Browserhersteller erheblich gestört. Das hat zum Beispiel Unternehmen wie Criteo in Bedrängnis gebracht, deren Geschäftsmodell bisher insbesondere auf Retargeting per Cookies basierte. Zudem betonen einige Schwergewichte der Branche wie der Amerikaner Neil Patel, dass Retargeting keineswegs eine Panakeia für verlorene Besucher ist, sondern dass Werbetreibende angehalten sind, Gestaltung, Timing und Zielgruppe sehr wohl zu durchdenken, um Retargeting als Werkzeug effektiv einzusetzen. Höchste Zeit also, dass sich die Marketingforschung dem Retargeting widmet. Wir haben Ihnen hierzu heute zwei spannende Studien mitgebracht.

Studie 1: Retargeting als zweischneidiges Schwert

Die erste Arbeit von Li et. al. erschien 2020 im renommierten Journal of Marketing. Die Forschenden gehen hauptsächlich der Fragen nach, welche Rolle der Zeitpunkt der erneuten Ansprache für die Effektivität des Retargetings spielt. Insbesondere stellen sie die Hypothese auf, dass zu frühes Retargeting einen unerwünschten negativen Effekt auf die Kaufwahrscheinlichkeit haben kann, da hier keine positive Erinnerungswirkung erzielt wird, sondern die Werbung stattdessen als zu “aggressiv” wahrgenommen wird.

Folglich soll sich der Wert von Retargeting dann entfalten, wenn die Erinnerung durch die Werbung als tatsächlich hilfreich wahrgenommen wird. 

Die Forschenden gehen der Fragen in Kooperation mit einem großen japanischen Onlinehändler für Fashion nach. Der Händler betreibt Retargeting hauptsächlich über zwei Kanäle: E-Mail und eine in Japan weit verbreitete Social-Messaging App ähnlich zu Whatsapp. In ihrem Feldexperiment teilen sie 40.548 Kunden des Onlineshops zufällig in eine Gruppe, die Retargeting empfangen soll, und in eine Kontrollgruppe. Zudem unterteilen sie jede dieser beiden Gruppen in acht Untergruppen, um diese zu unterschiedlichen Zeitpunkten per Retargeting anzusprechen (und eine entsprechende Kontrollgruppe vorzuhalten). 

Die Wissenschaftler stellen zunächst fest, dass die absolute Kaufrate mit 13 Prozent in der Gruppe am höchsten ist, die am frühesten nach 30 Minuten angesprochen wurde. Danach fällt die Kaufrate relativ kontinuierlich immer weiter ab, je später das Retargeting stattfand. Man könnte also naiv annehmen, dass sich frühes Retargeting besonders lohnt. Der Vergleich mit der Kontrollgruppe zeigt jedoch ein völlig anderes Bild, welches in Abbildung 1 dargestellt ist. Denn natürlich ist auch die Kaufrate in der Kontrollgruppe kurz nach dem Besuch am höchsten. Und nicht nur das:

Die Kaufwahrscheinlichkeit in der Kontrollgruppe ist für die Ansprachezeitpunkte nach 30 Minuten und einer Stunde sogar signifikant höher als in der Retargetingruppe.

Dieser relative Vergleich ist in der Abbildung dargestellt. Der Wert der Y-Achse drückt dabei aus, welchen inkrementellen Effekt eine Retargeting-Maßnahme zu den entsprechenden Ansprachezeitpunkten gegenüber der Kontrollgruppe hat. Damit finden die Forscher deutliche Unterstützung für ihre Hypothese: Zu frühes Retargeting verschwendet wertvolle Werbebudgets und hat sogar negative Auswirkungen auf die Kaufrate. Erst bei einer Ansprache, die mehr als zwölf Stunden nach dem Besuch erfolgt, beobachten die Forschenden eine statistisch signifikante, positive Wirkung des Retargetings auf die Kaufrate. 

Abb. 1: Effekt von Retargeting auf die Kaufwahrscheinlichkeit in Abhängigkeit von Ansprachezeitpunkt nach Besuch und Kanal der Ansprache (in Anlehnung an Li et. al. (2020))

Die Forschenden lassen diesen Ergebnissen noch ein zweites Feldexperiment mit einem chinesischen Onlineshop für Babywaren und Umstandsmode folgen. Zunächst bestätigen sie in diesem zweiten Experiment die Ergebnisse des ersten Experiments. Darüber hinaus können sie zeigen, dass bei einer hohen Anzahl von Produkten im Warenkorb ein frühes Retargeting besonders negative und ein spätes Retargeting besonders positive Effekte haben kann. 

Studie 2: Die Bedeutung von Browserverhalten und Empfehlungsinhalten

In der zweiten Arbeit werden zusätzliche interessante Variablen betrachtet. Im Vordergrund der Untersuchung steht das Retargeting per E-Mail auf Basis von den bei vorherigen Besuchen am meisten betrachteten Produkten. Dabei ist nicht zwingend notwendig, dass diese Produkte auch im Warenkorb lagen. Zunächst variieren die Forschenden in ihrem Feldexperiment den Inhalt des Retargetings zwischen Produkten, die sich in ihren Eigenschaften dem angeschauten Produkt sehr ähneln und Produkten, die in der gleichen Produktkategorie insgesamt sehr beliebt sind.

Dabei betrachten sie ein breites Spektrum von Produkten aus dem Sortiment elektronischer Gebrauchsgüter von Smartphones bis Waschmaschinen. Schließlich variieren sie die Dauer der berücksichtigten Besuchshistorie (2 Tage und 4 Tage) vor der Ansprache und die Dauer zwischen Besuch und Ansprache (2 Tage und 4 Tage). Der zeitliche Ablauf und das grundlegende Design der Studie sind in der folgenden Abbildung 2 dargestellt. 

Abb. 2: Zeitlicher Ablauf und Gestaltung des Experiments im Rahmen der zweiten Studie (Goic et. al. (2021))

Die erste zusätzliche Erkenntnis dieser zweiten Studie ist, dass es grundsätzlich sinnvoll erscheint, eine längere Besuchshistorie vor dem Retargeting für die Auswahl der relevanten Produkte zu berücksichtigen, um einen positiven Conversioneffekt zu erzielen. Das Feldexperiment zeigt zudem auf, dass ein Targeting nach 48 Stunden effektiver als ein Targeting nach 96 scheint. Unter Berücksichtigung der ersten Studie liegt also der Eindruck nahe, dass es ein günstiges “Fenster” für den Einsatz von Retargeting gibt.

Bei der Auswahl weiterer Produktempfehlungen sollte auf Basis der Ergebnisse ruhig eine breitere Auswahl erfolgreicher Produkte der entsprechenden Kategorie empfohlen werden, da im Rahmen des Experiments so ein deutlich stärkerer Umsatzeffekt erzielt werden konnte. Schließlich zeigen die Forschenden in einer Erweiterung ihres Untersuchungsdesigns, dass eine einmalige Wiederholung der Retargeting-Mail einen zusätzlichen positiven Umsatzeffekt schafft.

Abschließend errechnen die Forschenden beispielhaft den erwarteten Umsatzeffekt einer zusätzlichen Retargeting-Mail. Berücksichtigt man keine der Erkenntnisse oder Variationen des Experiments, lag der erwartete zusätzliche Umsatz einer Retargeting-Mail in der Studie bei 0,79 US-Dollar. Berücksichtigt man zum Beispiel den richtigen Ansprachezeitraum und die passende Konfiguration der Produktempfehlungen, lässt sich dieser Erwartungswert auf Basis der Studienergebnisse auf 1,74 US-Dollar steigern.

Dies lässt den Schluss zu, dass Retargeting nicht nur ein sinnvolles Werkzeug des digitalen Marketings ist, sondern dass seine richtige Gestaltung ein erheblicher Hebel für effektives digitales Marketing sein kann. 

Wrap-up & Take-Aways

Retargeting ist im E-Commerce und vielen weiteren Conversion-orientierten Branchen nicht mehr wegzudenken und ein wichtiges Instrument geworden, um bereits akquirierte Besucher im eigenen Conversion-Funnel zu halten. 

Die beiden vorgestellten Studien zeigen auf, dass Retargeting ein effektives Werkzeug zur Conversion- und Umsatzsteigerung ist. Doch wir haben ebenso gelernt, dass Retargeting durchaus ein zweischneidiges Schwert ist, dessen Klinge erst mit dem richtigen Schliff einen erfolgreichen Schnitt setzt. 

Die wichtigste (und am einfachsten umzusetzende) Erkenntnis ist sicherlich, dass sehr frühes Retargeting keinen positiven, sondern sogar einen schädigenden Effekt hat. Da in der ersten Studie von null bis zwölf Stunden Abstand zwischen Besuch und Retargeting kein signifikanter positiver Effekt durch Retargeting beobachtet werden konnte, scheint die Empfehlung naheliegend, frühestens nach zwölf, eventuell sogar erst 24 Stunden nach dem Besuch mit dem Retargeting zu beginnen. Alles andere verbrennt mindestens Geld und schädigt im schlimmstenfalls den Umsatz.

In jedem Fall würden wir vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis zu eigenen Experimenten in Abhängigkeit der fokussierten Funnelschritte, des Sortiments und der weiteren Kampagnenziele raten, da solche Experimente mit etwas Geschick leicht und effektiv für das eigene Geschäft umgesetzt werden können.

Darüber hinaus empfiehlt sich bei der Wahl der richtigen Inhalte für Retargeting eine umfassende Betrachtung der Besucher und ihrer Bedürfnisse. Das bedeutet, man sollte durchaus den Blick über die letzten Pageviews hinweg auch auf die Sessions in den Tagen vor dem Retargeting werfen. Schließlich sollten die präsentierten Retargeting-Inhalte in jedem Fall engen Bezug zu den vormals konsumierten Inhalten der Besucher haben. Allerdings sollten beim Retargeting ebenso zusätzliche Empfehlungen hinzugefügt werden, solange diese auf Basis der “Weisheit der Vielen” unbestritten hervorragende Inhalte oder Produkte sind.  

Über die Autoren

Prof. Dr. Michael Fretschner, smart impact (Bild: smart impact)
Prof. Dr. Michael Fretschner, Co-Gründer smart impact GmbH // Professor für Marketing & E-Commerce an der NORDAKADEMIE Hochschule der Wirtschaft.

Prof. Dr. Jan-Paul Lüdtke, smart impact GmbH
Prof. Dr. Jan-Paul Lüdtke, Co-Gründer smart impact GmbH // Professor und Studiengangsleiter für E-Commerce an der Fachhochschule Wedel.

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