Das AlltagsStudio – Ein Teststudio für ethnografische Forschung

Von Dirk Ziems und Thomas Ebenfeld, concept m research + consulting

Der Verbraucheralltag ist über die Jahrzehnte immer komplexer geworden. Egal um welchen Konsumbereich es geht – ob Food-Produkte, Haushaltsprodukte, Beauty-Care-Produkte oder Mediennutzung – die Konsumenten können zwischen Tausenden von Produkten wählen, die Tausende von Marken- und Produktversprechen machen. Für die Marktforschung stellt sich dementsprechend die Herausforderung, sehr detailliert die Alltagskontexte zu durchdringen, in denen die diversen Produkte für die Konsumenten relevant sind – oder eben ihr Ziel verfehlen, relevant zu werden.

Das Anliegen der ethnografischen Alltagsforschung ist genau das: Tiefer und detaillierter in den Alltag der Konsumenten hineinzublicken. Der Startpunkt sollte dabei sein: Ganz unvoreingenommen zu realisieren, was im Verbraucheralltag tatsächlich passiert, ohne vorschnell einzuordnen und zu klassifizieren, was die Konsumenten bewegt. Die Erfahrung hat gezeigt, dass das in qualitativen Interviews zunehmend schwerer gelingt. Der Alltag der Testpersonen ist heutzutage oft so facettenreich, die einzelnen Tagesabschnitte und "Stundenwelten", in denen sich die Testpersonen befinden, sind so komplex, beschleunigt, oftmals fragmentiert, dass es den Testpersonen immer wieder schwer fällt, genau zu rekapitulieren: Wie ist das in dieser oder jener Produktverwendungssituation? In welcher Verfassung findet die Marken und Produktnutzung genau statt?

Dabei spielt auch das Interviewsetting eine bedeutsame Rolle. Führen Sie sich das als Leser/in dieses Dossierbeitrags für sich selber vor Augen. Sie lesen diese Zeilen vielleicht an Ihrem Bürocomputer. Sie sitzen vielleicht auch in einer Bahn oder sonstigem Verkehrsmittel. Um sich herum haben Sie ein Großraumbüro oder ein Großraumabteil. Wenn man Sie jetzt konkret fragen würde: Wie fühlen Sie sich, wenn Sie zu Hause die Spülmaschine einräumen? Worauf achten Sie, wenn Sie Spül-Tabs aus einer Packung entnehmen, und damit die Spülmaschine befüllen? Dann sind Sie zunächst out of context. Sie müssen sich aus der Büro- oder Bahnsituation kommend in die Küchensituation zu Hause hineinversetzen – was nicht ohne psychologischen Informationsverlust vonstatten geht. Denn mit der Küchensituation sind bestimmte Atmosphären, Gefühle, unwillkürliche Routinen verbunden, die Sie in der Büro- oder Bahnsituation nicht präsent haben.

Warum nun dieses Gedankenexperiment? Um direkt zu veranschaulichen, was die Grundidee der ethnografischen Alltagsforschung im AlltagsStudio ist. Das AlltagssStudio ist eine Forschungswohnung, die von den Testpersonen gar nicht erst als Forschungsstätte erlebt wird. Die Testpersonen kommen hier in eine Wohnung rein, so als kämen sie bei Bekannten zu Besuch an oder in eine Ferienwohnung hinein. Wozu dieses Setting? Um den atmosphärischen Bruch zu vermeiden, auf den das oben beschriebene Gedankenexperiment angespielt hat. Wenn wir im AlltagsStudio zu Spültabs forschen, findet das Interview in der Küche direkt vor der Spülmaschine statt. Im Unterschied zum Standard-Teststudio sitzen die Testpersonen nicht in einem Büro-ähnliche  Interviewraum oder in einem Konferenzraum-ähnlichen Gruppendiskussionsraum. Sie müssen sich nicht erst aus der Büro-geprägten Atmosphäre kommend gewissermaßen künstlich in die häusliche Küchenatmospäre hineinversetzen. Die Forschung findet direkt dort statt, wo der Alltag stattfindet.

Forschung "vor Ort": im AlltagsStudio von concept m research + consulting. (Bild: concept m research + consulting)
Forschung "vor Ort": im AlltagsStudio von concept m research + consulting. (Bild: concept m research + consulting)

Fünf Jahre AlltagsStudio – Fünf Jahre Erfahrung mit den Vorteilen des Settings

  1. Natürliche Produktnutzung und unmittelbare Involvierung im Alltagskontext:
    Ob Studien zu Haushaltsprodukten wie den Spültabs oder Kloreinigerm, zu Foodprodukten wie Fischstäbchen oder Rotkohl aus der Mikrowelle, zu Beautycare-Produkten wie Ohrreinigungsstäbchen,  Zahnbürsten oder Lippenstift – die verschiedenen Räume der Forschungswohnung lassen es zu, direkt und Hands-On in die Produktwelten einzutauchen. Dabei werden für die Forschung Phänomene zugänglich, die im Standard-Interview sonst untergehen: Der Einsatz des Lippenstifts ist mit bestimmten Ritualen verbunden. Bei der Zubereitung von Convenience-Foodprodukte wird von den Farben auf der Packung auf einen Frischeeindruck geschlossen, den man auch am Geruch festmacht. Alltag und Mediennutzung sind heutzutage ständig verzahnt. Koch- oder Putzvorhaben werden mit Tipps aus Verbraucher-Communities unterstützt. Fertigprodukte werden gerne als Begleitung von Vorabend-Kochshows gegessen, weil das unbewusst das Gericht und den Geschmack aufwertet.

  2. Beobachtungsmöglichkeit ohne störende Präsenz:
    Durch die Ausstattung mit Einwegspiegeln und versteckten Videokameras ist es möglich, die Testpersonen zunächst ungestört bei ihren Alltagshandlungen zu beobachten. Anders als beim Inhome-Interview, bei dem die Präsenz des Interviewers im Raum von den Testpersonen oft als Kontrolle erlebt wird, und sich Testpersonen wohl möglich anders verhalten als unbeobachtet, ist die Beobachtung durch den Einwegspiegel weniger invasiv. Zudem können die Auftraggeber vom Beobachtungsraum aus direkt zuschauen, was ihre Kunden mit den Produkten so alles treiben. In fünf Jahren AlltagsStudio-Betrieb ist in diesem Zusammenhang so manches Aha-Erlebnis aufgekomen. (Aus Kundenschutzgründen können wir das hier nicht weiter vertiefen.)

  3. Soziale Dimension des Konsums verstehen:
    Produktnutzung geschieht zumeist in der Interaktion mehrerer Menschen. Beim Kochen geht es z.B. nicht nur um das Bereitstellen einer Mahlzeit, sondern auch um das Umsorgen und Verwöhnen. Im AlltagsStudio können wir diese sozialen Interaktionen im authentischen Umfeld erforschen und dadurch zu besonderen Insights kommen. Dazu laden wir oft Paare oder Familien zu mehrstündigen Sessions ins AlltagsStudio ein, bei denen wir beobachten, wie sich die Paar- oder familiäre Interaktion in der Küche, im Fernsehwohnzimmer oder im Kinderzimmer entfaltet. Wer redet wann mit wem? Welche Rolle spielt das Fernsehprogramm? Wann kommen Snacking-Produkte ins Spiel? Wie oft "verabsentieren" sich die einzelnen Familienmitglieder in die eigenen Smartphone-Welten? Anders als bei letztlich zufällig zusammengewürfelten Fokusgruppen, wo trotz Warm-up die Gruppensituation letztlich anonym bleibt, reproduzieren sich im AlltagsStudio die Familienkonstellationen so, wie sonst im Alltag zu Hause. Durch diesen Ansatz sind beispielsweise in der TV-Formatforschung in den letzten fünf Jahren ganz neue Insights gelungen: Viele Quiz-Shows sprechen z.B. mit ihrem psychologischen Kontext Konkurrenzmomente in der Familiendynamik an. Verschiedene Snacking-Verfassungen spiegeln den Zusammenhalt im Freundeskreis oder in der Familie. 

  4. Barrierefreie Wohlfühlstimmung:
    Durch die Alltagsnähe und durch den Wohnungscharakter entsteht im AlltagsStudio regelmäßig eine Wohlfühlstimmung, die die Interviews dort von Standard-Studio-Interviews unterscheidet. Auf der Wohnzimmercouch lässt sich unbefangener reden als am Konferenztisch. In den letzten fünf Jahren haben uns zahlreiche Testpersonen – und das bestimmt nicht nur aus Nettigkeit – bestätigt, dass sie sich im AlltagsStudio viel mehr öffnen können und viel direkter schildern können, was sie bei der Produktnutzung bewegt, als sie das von anderen Studios her kennen. Dabei mag auch eine Rolle spielen, dass durch den Alltagskontext die Produkttests weniger "abstrakt" erlebt werden.

  5. Forschung mit Kindern im natürlich-häuslichen Setting:
    Last but not least besteht ein großer Vorteil des AlltagsStudio-Settings darin, dass Kinder sich dort freier und ungezwungener bewegen können als in Standard-Teststudios. Aus zahlreichen Studien der letzten Jahre wissen wir, dass Kinder, die zu Marktforschungstests gehen, versuchen, durch Übertragung gelernter Schemata die für sie fremde Situation verständlich einzuordnen. Oftmals besteht das Problem, dass Kinder die Marktdorschungssituation wie eine Art Schulprüfung erleben, bei denen sie die Fragen des Interviewers möglichst schlau und brav beantworten sollen. Genau das führt aber zu sozial erwünschtem Antwortverhalten, das die Forschung überhaupt nicht weiter bringt. Der Besuch im AlltagsStudio wirkt auf die Kinder dagegen wie der Besuch der Mama bei einer Bekannten oder Freundin, mit der man gemeinsam ausgiebig quatscht. In Kombination mit den Mal- und Spielmöglichkeiten (projektive Tests) und der freien Bewegungsmöglichkeit in Wohnzimmer und Kinderzimmer ergibt sich eine ganz neue Forchungsperspektive. Auch hiervon konnten zahlreiche Auftraggeber, die ihre Kindermarken und –produkte weiter entwickeln wollten, stark profitieren.

Die Einbindung des AlltagsStudio-Setting in die morphologisch-tiefenpsychologische Analysemethode

Damit kein Missverständnis aufkommt: Alleine dadurch, dass man qualitative Interviews im AlltagsStudio-Setting durchführt, entstehen nicht sogleich bahnbrechende Insights. Unsere Forschungsarbeit im AlltagsStudio ist vielmehr eingebunden in das Forschungskonzept der morphologischen Marktpsychologie. Die verschiedenen morphologischen Tools zur Motivforschung, zum Produkttest, zur Kommunikationsforschung setzen bei den Phänomenen an, die die Alltagsstudio-Interviews zu Tage fördern. Erst die Beschreibungs- und Analyse-Arbeit mit den morphologischen Tools führt zu den Forschungsbefunden. Fünf Jahre ethnografische Forschung im AlltagsStudio haben für uns jedoch den Blick auf den Alltag geschärft und uns sehr geholfen, unsere Forschungstools insgesamt weiterzuentwickeln.

Die Autoren:

Thomas Ebenfeld (links) und Dirk Ziems, Managing Partner bei concept m research + consulting (Bild: concept m research + consulting)
Thomas Ebenfeld (links) und Dirk Ziems (Bild: concept m research + consulting)

Thomas Ebenfeld und Dirk Ziems sind Managing Partner von concept m research + consulting.

 

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