Martins Menetekel Coronakurven: Gesundheitsministerium versus Ärzteschaft

Die Auseinandersetzung zwischen Gesundheitsminister Karl Lauterbach und Teilen der Ärzteschaft ist Thema der aktuellen Ausgabe von "Martins Menetekel". Unser Autor Martin Lindner erläutert die Positionen und kommentiert sie anhand von Statistiken.

Liebe Leser!

Das ist jetzt eine spannende Auseinandersetzung zwischen dem Gesundheitsministerium, vertreten durch den Fachmann und Politiker Karl Lauterbach, und einigen Sprechern der Ärzteschaft: Können wir ab sofort wieder zur völligen Normalität zurückkehren und selbst auf die Isolation von positiv Getesteten, wenn sie keine Symptome haben, verzichten oder müssen wir uns wieder auf (fast) alle Einschränkungen, die in den letzten 27 Monaten verhängt wurden, einstellen?

Auch ich kann diese Frage nicht beantworten. Aber: Alles Lockern birgt die Gefahr, dass neue Varianten eine noch größere Welle an Erkrankten und Toten hervorbringen. Eine Hiobsbotschaft ist die Erkenntnis, dass selbst dreifach Geimpfte und danach Erkrankte zum zweiten Mal angesteckt werden können. Das bedeutet das Aus für das Erreichen einer genügend großen Herdenimmunität, um allein dadurch den Reproduktivitätsfaktor dauerhaft unter die 1 zu senken.

Siyphos lässt grüßen!

Dennoch gibt es einige Hoffnungsschimmer, die die Entwicklung der Fallzahlen der letzten zwei Wochen gemacht hat. Die jetzige Welle schwächt sich ab.
Entwicklung der kumulierten Fallzahlen, Referenzkurve eine wachsende E-Funktion:

Ganz offensichtlich bleibt Blau unterhalb von Grün, das bald in Rot umgefärbt werden müsste. Nur zeigt Blau noch nicht die Breitschaft zu einem wirklich stabilen Wendepunkt, den wir für Verhulst benötigen! Das bestätigt die Grafik für die Zuwächse. Sie hat noch kein eindeutiges Maximum an dem Tag des Wendepunktes. Seit gut einem Monat verharren die Zuwächse pro Tag auf einem hohen Niveau um die 90.000.

Die zweite Ableitung unserer Referenzkurve, verglichen mit der Änderung der Zuwächse, und auf die kommt es an, ist auch noch nicht sehr belastbar in ihrer Tendenz:


Man kann schön sehen, dass bis etwa 25. Juni die Referenzkurve das schlängelnde Blau gut approximiert hat, aber spätestens seit dem Juli ist Blau sehr viel geringer und hat sogar schon eine Nullstelle am 16. Juli, das heißt vor 12 Tagen. Wir werden sehen, ob die Zuwächse pro Tag weiter fallen. Was macht unser Reproduktionsfaktor? Er lässt hoffen, ist aber noch weit unter der magischen Grenze von 0,85:

Andere Kennziffern wie 7-Tages-Inzidenz und Höhe der Zahl der Infizierten lassen auch hoffen, beide gehen seit einer Woche herunter. Die Kennziffern sind ja mit möglichem Zeitverzug alle korreliert. Die internationale Realität sieht düsterer aus. Ich zeige die Veränderungen der 27-Tages-Inzidenzen meiner ausgewählten Länder, und sie haben sich fast alle signifikant vergrößert. In der folgenden Grafik habe ich dieses Mal die Reihenfolge von vor vier Wochen nicht verändert:

Portugal ist jetzt an sechster Stelle, noch hinter der Schweiz.

Fazit: Nach den nackten Zahlen zu folgern hat kaum ein Land die Pandemie in den Griff bekommen. Oder radikaler formuliert: Hätten sich alle Länder nach China gerichtet, wäre die Pandemie schon längst beendet, so aber wird sie uns noch lange begleiten!

Um auf die Ausgangsfrage Lauterbach kontra Ärtzevertreter zurückzukommen: Obsiegt die Ärzteschaft unter tatkräftiger Unterstützung freiheitsliebender Politiker, bekommen wir einen heißen Winter, kann sich Lauterbach durchsetzen, wird er nur ein wenig kühler.

Ich wünschen allen Lesern, dass wenigstens sie gesund bleiben.

Über Martin Lindner

Martin Lindner
Martin Lindner ist promovierter und habilitierter Mathematikprofessor im Ruhestand und beschäftigt sich intensiv mit nachhaltiger Wirtschaft und der Zukunftsfähigkeit unserer heutigen Lebensformen. Zusätzlich hat er eine Ausbildung und auch Berufserfahrung in Wirtschaftsmediation.

 

 

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  1. Soziologie am 29.07.2022
    Zitat (dpa): "Nach zwei Jahren weitgehend erfolgreicher Virus-Bekämpfung und Abschottung wird China heute Opfer seines eigenen Erfolges, da es keinerlei Durchseuchung gibt. „Fehlender Impfschutz und Abwesenheit des Virus lassen die chinesische Bevölkerung ähnlich dastehen wie die gesamte Weltbevölkerung zu Beginn der Pandemie“, sagte Timo Ulrichs, Experte für Globale Gesundheit an der der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin, der Nachrichtenagentur dpa. „Die Null-Covid-Strategie lässt sich angesichts der sehr hohen Infektiosität der Omikron-Variante nur noch mit immer strikteren Maßnahmen aufrechterhalten“, sagte Ulrichs. „Die Frage bleibt: ‚Was kommt danach?‘“

    Bisher hat die Regierung in Peking keine Exit-Strategie aus der Null-Covid-Politik aufgezeigt. Die meisten der 26 Millionen Bewohner der Hafenmetropole Shanghai sowie zig Millionen in anderen Metropolen vor allem im Nordosten Chinas sind seit mehr als einem Monat im Lockdown. Der Unmut im Land angesichts der harten Maßnahmen wächst. Zehntausende stecken in Quarantäne-Lagern unter teils schwierigen Bedingungen."

    Ergo: China kann und darf nicht unser Vorbild sein! Wir brauchen nach über 2 Jahren endlich eine Exit-Strategie. Es ist nicht mehr 2020. Wir brauchen endlich die Impfpflicht sowie attraktivere Konditionen für mehr Pflegekräfte, statt dass wir uns alle dauerhaft einschränken, weil ein paar mehr geimpfte Leute im KH auf Station liegen oder mehr Ungeimpfte auf der ITS.
  2. knut holzscheck am 08.08.2022
    Nun, Herr Lindner hat die Realität der Fallzahlen sehr klar herausgearbeitet, aber dem steht eine Menge an veröffentlichter Meinung und politischer Ansage entgegen, dass weitere Vorsicht nicht mehr erforderlich ist. Ich finde es etwas erschreckend, in welchem Ausmaß Wunschdenken die Fakten ausblendet.
    Die Mittel einer Exit-Strategie haben sich nicht grundlegend geändert: Masken in Innenräumen und Kontakteinschränkung stehen an erster Stelle, wieder in erhöhtem Maße testen, und Isolierung der Positiven.
    Auch eine Impfpflicht ist erwägenswert, aber politisch offensichtlich nicht machbar. Schade, das könnte viel Nutzen bringen, insbesondere, wenn das Versprechen der mRNA-Technologie zu schnell maßgeschneiderten Impfstoffen geprüft und umgesetzt werden könnte.

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