Rochus Winkler, concept m Corona und Alkohol – Tiefenpsychologische Insights am Beispiel des Sektkonsums: Darf es ein Gläschen mehr sein?

Erleben Sie in Ihrem persönlichen Umfeld, dass in Corona-Zeiten mehr Alkohol konsumiert wird? Vielleicht das ein oder andere Glas Sekt auch schon unter der Woche? Rochus Winkler von concept m hat sich im Rahmen der Corona-Forschung mit dem (übermäßigen) Konsum von Alkohol in Corona-Zeiten beschäftigt. Dabei hinterfragt er, wieso Sekt eine andere Wirkung als Wein und Bier hat, aber auch welche Gefahren auf die Hersteller in Corona-Zeiten zukommen.

Frau mit Handy und Sektglas (Bild: Royality Free Image - rawpixel)
In Zeiten von Corona nimmt der Alkoholkonsum stark zu. (Bild: Royality Free Image - rawpixels)

Erleben Sie in Ihrem persönlichen Umfeld, dass in diesen Corona-Zeiten mehr Alkohol konsumiert wird? Vielleicht das ein oder andere Glas Sekt auch schon unter der Woche? Man muss nicht mehr so früh aufstehen, weil man im Homeoffice arbeitet - das schafft Gelegenheiten. Und wenn die Gastronomie geschlossen bleibt, kann man es sich ja zuhause "gemütlich machen". Zudem möchte man auch in der Krise etwas zu feiern haben. Oder?

Kulturelle Einflüsse auf den Konsum

Durch die Corona-Krise ist zunehmend eine Spaltung der Gesellschaft zu verspüren. Während sich wohlhabendere Schichten von der Maximierungskultur vor Corona erholen können, geraten die ärmeren Schichten zunehmend unter die Räder.

Kurzarbeit, Jobverluste und die Herausforderungen durch Home-Schooling, Homeoffice – der Versuch, das familiäre Leben unter einen Hut zu bekommen, löst oftmals Stress aus. Aktuell stehen wir mit den neusten Lockerungsbemühungen der Politik auf der Schwelle zwischen dem ermüdenden Corona-Kampf und neuer Orientierung. Der Frühling tut das Seine hinzu – die Menschen wollen wieder raus, wollen wieder das Leben zu genießen.

Die Hoffnung auf bessere Zeiten wandelt sich in allen Gesellschaftsschichten in eine Sehnsucht nach einer Vision der neuen Welt. Nichts soll mehr so sein wie in der überbeschleunigten Maximierungskultur vergangener Tage. Aber der Wunsch, durch Corona ausgebremste Lebensziele wieder anzupacken, erscheint ungebrochen: die langersehnte Gartenparty, die ewig verschobene Jubiläumsfeier, das Freundetreffen wecken wieder den Entdecker- und Abenteuergeist. Es ist in den nächsten Monaten mit einer Überkompensation von sozialen Treffen, Reisen und anderen feierlichen Anlässen zu rechnen.

Wie passt Sekt in den Zeitgeist zwischen "ermüdendem Corona-Dauerkampf" und "Sehnsucht nach Lebendig-Sein"?

Die kulturellen Hintergründe stellen dar, dass es in der Gesellschaft durch Corona unerfüllte Bedürfnisse gibt. Die Hygiene- und Sicherheitsbestrebungen in Politik, Gesellschaft und Konsum haben eine Konstruktion geschaffen, in der wir uns scheinbar sicherer bewegen können. Weitere bzw. zunehmende Einschränkungen - geschweige denn ein harter Lockdown - werden nun abgelehnt.

Die Verbraucher wollen frei sein. Der Blick auf eine neue Welt, in der wieder Aufstiege, feierliche Anlässe, soziale Treffen denkbar sind, motiviert schon im Hier und Jetzt. Es fühlt sich nach langem Corona-Warten legitim an, diese Trink-Anlässe psychologisch vorwegzunehmen und mit Sekt bereits heute schon zu feiern. Man möchte jetzt schon Verunsicherungen hinter sich lassen und mit neuem (und angetrunkenen) Mut in die neue Welt blicken. Erinnerungen, wie es früher war, und Ausblicke, wie es sein wird ermuntern zum Alkoholgenuss.

Insbesondere mit dem Sekttrinken demonstriert man sich selbst und anderen gegenüber, mehr oder weniger unbeschadet aus den letzten Corona-Monaten herausgekommen zu sein. Auf die Krisenerscheinungen zu trinken bzw. dass man noch fest mit beiden Füßen auf dem Boden steht, verleihen das Gefühl von Errungenschaft und Erfolg.

Demgegenüber bzw. parallel kann sich ein versteckter Alkoholismus entwickeln: Wenn die wirklichen Anlässe für Sekt-Konsum fehlen, so schafft man sich selbst Gelegenheiten, die weniger eingeübt sind. Das soll bedeuten, dass beispielsweise Geburtstage, Taufen, Feiertagstreffen mit Freunden u.a. bestimmten Handlungseinheiten und Strukturen folgen: Man trifft sich und stößt an, dann geht es zum Essen über, bis man in lustiger Atmosphäre den Ausklang feiert. Aktuell ist man eher auf die Familienmitglieder angewiesen, die mit einem trinken. Der Konsum passiert am Feierabend, ohne oftmals klare Prozessabfolge und Rituale wie vor Corona.

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Im Vergleich zu anderen Getränkekategorien können Sekt und v.a. Champagner das Gefühl vom Erhabenheit und Krisenfestigkeit am besten besetzen. Denn früher waren diese Getränke den vornehmeren Schichten vorenthalten gewesen. Das Image der Getränkekategorie "Sekt" schafft also ein geschicktes Deckmäntelchen: man "säuft nicht" (auch wenn die zweite Flasche bereits angebrochen ist), sondern demonstriert niveauvolles Klassenbewusstsein.

Die erlebte Stagnation in Corona-Zeiten wird im psychologischen Sinne mit Sekt verflüssigt, und die Krise wird entdramatisiert: Weiterentwicklungen, Aufstiege und Erfolge sollen wieder möglich werden. Das Sekt-Versprechen schafft eine gefühlte Gewissheit, dass es wieder so kommen wird. Welche Themen in "Sekt-Gesprächen" erlebbar sind, können ganz individuell sein: die eigenen Lebensabschnitte oder die der Kinder, die Geburten im eigenen Familien- oder Freundeskreis, Geburtstage, Heirat, Jubiläen, Verlobungen etc. Viele Menschen nutzen die Corona-Zeit zur persönlichen Weiterbildung: Bestandene Prüfungen, der nächste Karriereschritt und Gehaltserhöhungen können ebenso Anlass für Sektkonsum sein.

Was kann Sekt eigentlich, was Bier oder Wein nicht leisten können?

Sekt steht psychologisch für eine feierliche "Anregung" und "Aktivität": Schon auf Produktebene können diese Qualitäten beobachtet und gespürt werden. Aktivität, Prickelndes, Dynamik im Glas, Impulsivität machen den Sekt lebendig. Und so sind oftmals die Trinksituationen. Während der Rotwein schläfrig, das Bier gesellig machen kann, so schafft Sekt selbst in müden Momenten einen neuen Elan und Begeisterung. Der Sekt steht nicht still, sondern sprudelt vor Vitalität bis zum Überschäumen und bis zum "lauten Knall" beim Öffnen der Flasche. Die je nach Sorte abgestufte Süße verleiht zudem die nötige Energie, um gesprächslustig und ideenreich zu werden. Sekt kultiviert das Image, zu animieren und aus trostloser Langeweile gutgelaunte Aktivität zu schaffen.

Welche möglichen Gefahren kommen in Corona-Zeiten auf die Hersteller zu?

Der Konsum von Alkohol braucht immer eine Rechtfertigung. Vor Corona waren oftmals

  • "nach erfolgreicher Arbeit", "kleine oder hochoffizielle Anlässe", "Besuche", "vor dem Schlafen", "für den Kreislauf"

anerkannte Rahmen.

Corona vereinfacht diese Rechtfertigungen: oftmals bleibt als Trinkgelegenheit nur der schlichte Faktor "freie Zeit" übrig. Freie Zeit kann auch in Langeweile kippen, aus der man sich zum Trinken motiviert fühlt.

Die Grafik stellt die Entwicklung der Sektmotivation in den letzten Jahrzehnten dar (Bild: Rochus Winkler)

Fallen die erlernten Rechtfertigungen weg, so kommt dem Marketing der Sekthersteller eine besondere Bedeutung zu. Flaschenform, Etikett und Markenstory müssen einen Rahmen schaffen, der das Trinken quasi erlaubt. Eine lange Tradition des Herstellers, erlesene Trauben, das besondere Aussehen der Flasche u.a. sind gerne wahrgenommene Trink-Legitimationen. Den trivialen Situationen soll damit prickelnder Glanz verliehen werden.

Eine Gefahr für die Hersteller liegt paradoxerweise in ihrem Erfolg. Sekt hat im Vergleich zu Champagner schon in der Vergangenheit als Statusgetränk eingebüßt. Sekt aus Pappbechern, Sekt als günstiges Mitbringsel zu jedwedem Anlass haben das Getränk zum Volksgetränk für jedermann gemacht.

Die Corona-Krise nimmt dem Sekt ein weiteres Stück seiner Grundlage weg, zu besonderen Anlässen getrunken werden zu können. Die Verallgemeinerung des Konsums zu jeder Zeit machen Sekt beliebt, schaffen aber auch einen Abstieg der gesamten Kategorie herbei.

Sektkonsum wird alltäglicher, belangloser bzw. im Vergleich mit früheren Anlässen bedeutungsloser. Umso wichtiger sind die dauerhafte Wiederherstellung von Eleganz, Besonderheit und Exklusivität, um als Marke relevant zu bleiben. Im Marketing gilt es mehr denn je, einer zu starken Veralltäglichung entgegenzuwirken und eine neue Profilierung zu schaffen.

Günstiger Champagner wird durch die Corona-Krise ein enger Wettbewerber, der dem Sekt seine Zielgruppen streitig machen kann. Champagner steht per se für den Inbegriff von Krisenfestigkeit und Eleganz. Champagner-Produkte, die im Edeka 10-15 Euro kosten, sind für viele Konsumenten ihren Preis wert. Denn mit Champagner steht man ohne viel Zutun auf der sicheren Seite der Krisen-Gewinner. Dafür zahlt man gerne einen kleinen Obolus mehr.

Über den Autor:

 Rochus Winkler  ist Gesellschafter und Managing Partner bei concept m research + consulting seit der Gründung des Unternehmens 2008. Seine Arbeitsschwerpunkte sind nationale und internationale Forschung in diversen Branchen, z.B. FMCG, Food & Beverages, Dienstleistungen, Medien, Telekommunikation, Energie, Mode, Electronics, Handel und Pharma, sowie B2B und kulturpsychologische Fragestellungen. Seit 2014 hat er einen Lehrauftrag an der Hochschule Fresenius unter anderem zu "Marketing" und "Pharma Ökonomie". Außerdem ist er Vortragsreferent bei Branchenkongressen und Marketing-Fachtagungen sowie Gastdozent an Hochschulen und hat zahlreiche Publikationen zur Markt-, Medien- und Kulturpsychologie in Fachzeitschriften veröffentlicht.

/jr

 

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