Martins Menetekel Durchseuchung – kalkulierbares Risiko?

"Es ist ein Wettrennen eines mutationsfreudigen Virus gegen eine coronamüde Bevölkerung. Wer es gewinnt, ist offen". In seinem heutigen Beitrag spricht Martin Lindner über die Möglichkeit einer kontrollierten Durchseuchung der gesamten Population. Warum das ein kalkulierbares Risiko sein könnte und welche Auswirkungen eine Durchseuchung hätte, erläutert er anhand von Fallbeispielen und Grafiken.

Kolumne Lindner: Durchseuchung - kalkulierbares Risiko? (Bild: Lindner)

Tatsächlich hatte ich gehofft, dass der Beitrag der letzten Woche zu mehr Protest meiner Leserschaft geführt hätte. Ich hatte sehr forsch behauptet, dass die Pandemie innerhalb von vier Monaten beendet werden kann. Durch AHA+ und zumutbare Beschränkungen in Schulen und Betrieben kann der Reproduktionsfaktor R unter 0,84 gesenkt werden. Dann verringert sich die Zuwachsrate jeden Monat um den Faktor 4.

Heute hörte man von einem führenden Ärtztevertreter er gehe davon aus, dass Anfang 2022 die Seuche überwunden sein dürfte. Und dann hatte ich behauptet, dass, wenn man nichts tut und alle Einschränkungsmaßnahmen einstellt, Ende September Schluss ist, da alle infiziert sein würden. Das habe ich nachgerechnet, es kommt etwas genauer der 10. Oktober als „Doomsday“ in Frage. Dann, wenn die Verhulstvariante mit Verstärkungsfaktor die Oberhand gewinnt.

Wie ist der Stand heute?

Betrachten wir unsere Ausgangsgleichung N’(t) = kN(t)*(1 + lN(t)). Die Vergrößerung der Population N(t) drückt N’(t) aus, sie ist mit dem Faktor k proportional zu N(t), wie bei allen Wachstumsprozessen, der Faktor (1 + lN(t)) verstärkt das exponentielle Wachstum, wenn l > 0 ist und limitiert es, wenn l < 0 ist. S = -1/l ist dann die obere Schranke.

Wir schreiben die Gleichung etwas anders:

N’(t) = kN(t) + klN(t)*N(t) und also ist N’(t) - kN(t) = l*k*N(t)*N(t) für das Vorzeichen verantwortlich. Wächst N’ größer als kN, so ist l > 0 und umgekehrt, da k > 0 und N*N erst recht positiv ist.

Das sieht in einer Grafik so aus:

Bis Anfang August wechselte das Vorzeichen alle paar Tage. Es war zu erkennen, dass die Seuche sich nicht entscheiden konnte, ob sie nun hyperexponentiell wachsen sollte oder besser schrumpfen müsste.

Derzeit sind wir nicht viel weiter, obwohl der tiefe Balken rechts ein gutes Zeichen ist. l minus beutet S plus, und die Seuche wächst schwächer. Falls der Wendepunkt beim Maximum von N’ in Sicht ist, kann ich wieder die Lösung nach Verhulst berechnen.

Noch ein Lichtblick: Der Sockel für die vierte Welle liegt sehr stabil bei der Fallzahl von ungefähr 3,7 Millionen – genauer, derzeit bei 3.726.291. Wenn ich von den geglätteten Fallzahlen diesen Sockel abziehe, erhalte ich die Fallzahlen N(t), die für die täglichen Zuwächse verantwortlich sind. Diese werden gut durch N’(t) angenähert und N’(t) ist vom Sockel unabhängig. Am folgenden Diagramm  lässt sich eine weiterhin steile Kurve erkennen. Zur Darstellung habe ich ein Balkendiagramm gewählt:

Diese wird gleich gut angenähert, wie wir letztes Mal gesehen hatten. Durch eine Exponentialfunktion oder durch Verhulst mit sehr kleinem l,  ob positiv oder negativ.

Ein Wendepunkt ist nicht in Sicht

Nun gelange ich zum Leitmotiv des heutigen Beitrags, der Durchseuchung.

Die Alternative zu meinem Vorschlag der letzten Woche ist eine kontrollierte Durchseuchung der gesamten Population. Da rund 65 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft oder genesen ist, darunter sind die besonders gefährdeten älteren Leute, kann man das als kalkulierbares Risiko eingehen.

Die Gefahr besteht, das eine neue Variante eben doch die Jüngeren befällt und schwere Symptome verursacht. Das kann man dann sogar als Fluchtmutation bezeichnen. 

"Es ist ein Wettrennen eines mutationsfreudigen Virus gegen eine coronamüde Bevölkerung. Wer es gewinnt, ist offen."

Nach meiner Analyse hat sich unsere Regierung, ohne es an die große Glocke zu hängen, für die Durchseuchungsvariante entschieden. Da sie mit Sicherheit im Saldo mehr Tote zur Folge haben wird, wird diese Strategie nicht kommuniziert.

Deshalb als letzte Grafik heute die Impfquote, die gar nicht so gut aussieht. Für die Delta-Variante muss sie über 80 Prozent liegen, entscheiden Sie selbst, ob die Grafik das hergibt:

80 Prozent sind noch weit weg.

Fazit

Die Entscheidung für eine kontrollierte Durchseuchung lässt sich vertreten, ist aber eher eine „Es-kann-gutgehen-Entscheidung“. In der Politik grundsätzlich nicht zu empfehlen, denn bei negativem Ausgang, ist die Zeit nicht zurück zu drehen. 

Bleibt gesund!

Über den Autor

Martin Lindner
Martin Lindner ist promovierter und habilitierter Mathematikprofessor im Ruhestand und beschäftigt sich intensiv mit nachhaltiger Wirtschaft und der Zukunftsfähigkeit unserer heutigen Lebensformen. Zusätzlich hat er eine Ausbildung und auch Berufserfahrung in Wirtschaftsmediation.

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