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Chinesische Reisende: Was nicht nur Marktforscher über diese Touristen wissen sollten
Von Matthias Fargel
"Ding Jinhao war hier", steht in chinesischen Graffiti-Schriftzeichen, die in ein 3.500 Jahre altes Priesterrelief geritzt waren. Tatort: Luxor Tempel, Ägypten, Mai 2013. Der fünfzehnjährige Schmierfink aus Nanjing löste damit einen globalen Tsunami der Entrüstung aus. Die Ägypter sahen ein Zeugnis ihrer Hochkultur besudelt; die chinesische Öffentlichkeit reagierte zutiefst beschämt über den internationalen Gesichtsverlust ihrer eigenen Hochkultur. Spätestens seit jenem Shitstorm weiß es die restliche Welt: Die Chinesen kommen.
Mit ihnen ändert sich der internationale Tourismus. So grundlegend, dass ein WTO Experte sagte, der chinesische Auslandstourismus werde den künftigen Weltreisemarkt ähnlich stark beeinflussen wie das Aufkommen des Flugtourismus vor fünfzig Jahren. Falls jener UN-Experte Recht haben sollte, wird es Zeit, sich auf dieses weltumspannende Phänomen vorzubereiten. Denn es erfasst über die Reiseinfrastruktur hinaus Markenartikel, Einzelhandel, Immobilienmarkt, Medien und somit auch die Marktforschung - mein Reden!
Dazu vorab ein paar Zahlen, im China- üblichen XXL-Format. Ca. 95 Mio. Chinesen sind 2013 ins Ausland gereist. Erneut ca. 20% mehr als im Vorjahr. Überwiegend in asiatische Nachbarregionen wie Hong Kong, Macau, Thailand und Südkorea. Aber Nordamerika und Europa gelten als Traumziele für Hundertmillionen; die Vorhut war schon da. 2013 haben chinesische Auslandsreisende 120 Milliarden US$ ausgegeben (UNWTO). Die US-Amerikaner und Deutschen sind damit in der Rolle der spendabelsten "Outbound Travelers" zweit- und drittrangig geworden - und werden es bleiben. Im Jahr 2020 sollen Chinesen sogar 200 Milliarden US$ für Auslandsreisen springen lassen. Da fällt auch was für Deutschland ab. TUI China oder Mercedes-Benz Travel versuchen, schon im Quellgebiet diesen Geldfluss anzuzapfen. Der deutsche Fremdenverkehr zählte 1,6 Mio. chinesische Übernachtungen im Jahre 2012; bei ungebrochenem zweistelligem Wachstum. Die 3 Mio. Übernachtungen sind nur noch eine Frage der Zeit.
"Wandelnde Portemonnaies" ist ein Spitzname für chinesische Auslandsreisende, der in den Zielländern schon mehr Laune macht als jener Deng Jinhao; nicht nur bei Taschendieben, die sich gerne an Chinesen als besonders arglose Opfer halten. Chinesen reisen wortwörtlich mit prallen Geldbeuteln. Denn noch immer zu selten finden sie die an ihre Banken angeschlossenen "UnionPay"- Geldautomaten und Ladenkassen. Entsprechend sind sie mit Bargeld ausgestattet unterwegs.
Zum Kummer der großen chinesischen Reiseveranstalter CITS, CTS und CYTS sparen ihre Kunden typischerweise eher bei der Reiselogistik und lassen es dafür bei den Einkäufen im Ausland krachen. Neue Luxusreiseveranstalter in China, wie die Mercedes-Benz Travel, versuchen sich in einer entsprechenden Umerziehung; mit Erfolg im Hochpreissegment, jedoch noch ohne Breitenwirkung. Laut der China Tourism Academy CTA geben chinesische Auslandstouristen nur 30-40% des Reisebudgets für Flug und Hotel aus; die übrigen 60-70% fließen in den Einzelhandel der Zielregionen. Zur Freude flughafennaher Geschäfte, Outlet-Zentren und Luxusläden entlang der Chinesen-Reiserouten. Diesen Touristen liegt wenig an billigen Souvenirs; ihnen steht der Sinn nach in China statusfördernden ausländischen Marken- und Luxusartikel. Oder nach Babymilchpulverdosen, mindestens bis zum gesetzlichen Limit. Sie kommen mit Einkaufslisten für sich selbst, Verwandtschaft, Freunde und "nützliche Beziehungen". Am Ende der Reise befüllen sie ihre Koffer mit italienischen Modelabels, schweizer und deutschen Armbanduhren; Messer und Bestecken; französischen Handtaschen und britischen Spirituosen. Denn Zuhause verteuern Einfuhrzölle und Steuern jene Wunschartikel um bis zu 60%.
Zwischen Shoppen und Sightseeing ein Abstecher ins Freie, in die Frischluft ohne Mundschutz, selbst in Großstädten; faszinierende Erfahrungen. Nur eines brauchen sie bei aller Freude am uneingeschränkten Sonnenschein nicht: Sonnenbräune. Die verhindern sie mit Sonnenschirmen, langer Oberbekleidung, Sonnenhüten, Baseballkappen und Hautbleichcremes.
Über Hemden und Handtaschen hinaus sind wohlhabendere Touristen zudem als Investment Scouts und Teilzeitauswanderer unterwegs. Sie kaufen Immobilien und Firmen, wenn ihnen Land, Leute und Rahmenbedingungen zusagen. Z.Z. bevorzugt in Kanada, Australien und USA, weil dort bereits Chinesengemeinden etabliert sind (siehe Beitrag zu Auslandschinesen). Seitdem jedoch finanziell klamme EU-Länder wie Portugal, Spanien, Zypern und baltische Staaten gutbetuchten Ausländern ein europäisches Aufenthaltsrecht gegen hohe sechs- bis siebenstellige Investitionen im Land als "Golden Pass Port" verkaufen, treten Chinesen auch dort als Wettbewerber um privaten Wohnraum und Investoren auf. Was in beliebten Regionen wie Vancouver BC, San Francisco Bay Area, Sidney und Melbourne schon zu marktrelevantem Stress geführt hatte. Kein Thema für uns? "First we take Manhattan, then we take Berlin"; hatte Leonard Cohen schon 1988 geknurrt; vielleicht weniger mystisch als bisher angenommen; eher weitsichtig mit den Chinesen im Sinn?
Natürlich wollen chinesische Touristen nicht nur kaufen, sondern auch was sehen. Und sich sehen lassen, auf Milliarden Fotos. Im Hintergrund müssen die in China angesagten Orte und Wahrzeichen einwandfrei zu erkennen sein. Auf Chinesen eingestellte Reiseprofis kennzeichnen solche "View Points" deutlich mit chinesischen Zeichen – und positionieren ihre Angebote just dort. Die Hong Kong Tourist Association trägt am besonders populären View Point, der Uferpromenade in Tsim Sha Tsui, dem Wunsch der Festlandschinesen nach fotogenem Hintergrund sehr pragmatisch Rechnung: Sie hat ein großes Poster mit der berühmten Hong Kong Island Skyline im Lichte eines strahlend blauen Sonnentages aufgestellt - damit sich die Festlandstouristen vor diesem Plakat knipsen lassen können. Als Alternative für jene (häufigen) Tage, an denen der vom Festland rüber wehende Smog den Blick auf dieses Panorama im Original vom View Point aus verschleiert.
Auch in anderer Hinsicht beweisen Chinesen ihren Sinn fürs Praktische. Noch sind 75% der chinesischen Auslandsreisenden Richtung Übersee "First Timer". Zweidrittel kommen im Rahmen von Package Touren unter Führung - und vermutlich diskreter Aufsicht. - Nach der für Chinas Staatsführung extrem peinlichen Ding Jinhao-Schandtat hat die China National Tourism Administration flugs 64-seitige "Guidelines on Civilized Travel Abroad" herausgegeben. Die schreiben unmissverständlichen Klartext zu Themen wie Stibitzen von Schwimmwesten im Flugzeug, Toilettennutzung im Landesstil, den Sinn von Warteschlangen; Schmatzen, Rülpsen, Spucken und Nasebohren; Rauchen, Kleiderordnung, Trinkgelder, Lautstärke der Gespräche und Fotositten. Jenen Chinesen, die im Ausland ihr Heimatland erneut mit Schande entehren, drohen nun Zuhause Anklage und Geldstrafen; zumindest theoretisch. Gruppenreisen bieten neben einer Einführung in den o.g. Reiseknigge und Landesgepflogenheiten weitere gewichtige Vorteile wie erleichterte Visagewährung, günstigere Pauschalpreise für Flug, Hotel und Bus; auf die spezifischen Bedürfnisse abgestimmte Organisation des Reiseablaufes; Hilfe bei der Verständigung im Zielgebiet und Sicherheitsgefühl.
Die chinesischen Reiseorganisatoren treten zudem als Lobbyisten für chinesische Bedürfnisse unterwegs auf. Auf die Hotellerie kommt da einiges zu: eine möglichst repräsentative Eingangs- und Lobbygestaltung für die Fotos, zuvorkommender Service an der Rezeption; 24/7 Heisswasser auf den Zimmern für Tee und Schnellnudeln; viel mehr Handtücher, Bademäntel und vor allem Einmalschlappen, Einweg–Toilettenartikel; chinesisches Satellitenfernsehen oder DVDs und Beschriftungen im Hotel, freies Wi-Fi im Zimmer, Wäscheleinen und Bügeleisen; Raucherecke mit großen Aschenbechern, die auch als Spucknapf (wohin sonst mit Schleim?) dienen dürfen; Platz für Qi Gong-Übungen; warmes Frühstück mit Suppen, Congee und Gemüse, nicht zu kalte Klimaanlagen und Familienzimmer.
Familien: Chinesen nehmen nicht gern Urlaub von ihren Familien; so möglich, bleiben sie mit diesen im engen Kontakt (siehe Wi-Fi) – oder nehmen sie, so es Geldbeutel und Umstände erlauben, stolz mit. Am liebsten die Großeltern, entweder als Zeichen der Dankbarkeit und/oder als Babysitter und Kinder-Nanny; Tanten & Onkel, Schwager und andere "jia ren" sind auch OK. Zudem reisen Chinesen bevorzugt mit Freunden, zu denen sie sich gerne an größere Tische, am liebsten runde für 8-12 Personen, oder auch in ein Zimmer zum Palaver drängen. Nein, schweigsame Reisegruppen sind das nicht; aber tendenziell gut gelaunte.
Womit wir zu den fundamentalen, urchinesischen Reisemotiven vordringen. Der chinesische Alltag ist für die meisten anstrengend und nur selten heiter. Eine Auslandsreise ist die erfreuliche, lang ersehnte Ausnahme; eine Belohnung für die heimischen Mühen. Chinesen, die sich bei der Arbeit bis zur Belastungsgrenze unter Druck sehen, erwarten vom Urlaub in erster Linie: Freiheit vom Daseinskampf und der neuzeitlichen, allgegenwärtigen Konkurrenz. Auslandsurlaub heißt: Freunde statt Wettbewerber um einen herum; Ausschlafen und genüsslich lange Essen; Gemächlichkeit im Besuchsprogrammablauf; kein Hetzen und Drängen sondern endlich mal Schlendern; "Convenience", Transparenz und Berechenbarkeit anstelle Abenteuerurlaub in fremden Kulturen. Vertrauen in jeder Hinsicht ist Teil der Erholung. Daher bevorzugen sie bekannte Marken (Reiseveranstalter, Airlines, Banken, Hotelketten, Markenartikel) sowie zuhause bekannte Zielgebiete (London, Paris und Schloss Neuschwanstein); zuverlässige Abläufe; das Gefühl, fair behandelt zu werden, vertraute Geschmäcker und bekannte Sprachen = Chinesische. Das ist ein Grund dafür, dass Chinesen, bei aller Neugierde, auch im Ausland immer wieder bei chinesischen Küchen vor Anker gehen, als Safe Harbor nach den Experimenten mit Paella, Eisbein und Coq Au Vin.
In China ist man selten allein und schon garn nicht mit viel privatem Platz für sich. "Du glaubst zu schieben – und bist doch geschoben…" Wer aus solchem Alltag der chinesischen Metropolen kommt, genießt umso mehr weite Räume und großzügige Flächen, innen wie außen.
Last, but not least: Reisen ist, wie fast alles Chinesische, ein soziales Ereignis. Was nützt chinesischen Reisenden das schönste Urlaubserlebnis, wenn sie es nicht mit anderen teilen können? Vor Ort, in fröhlichen Gruppen und mit den zuhause Gebliebenen in Bild und Ton. Noch gibt es keinen Single-Reisemarkt. Egal wo Chinesen sind: Ihre Zufriedenheit liegt auch in der Antwort auf die Frage, was die anderen dazu sagen würden. Es müsste allen gefallen haben, auch denen, die nicht dabei waren. "Wir waren dort", stellvertretend für die anderen im Clan und Freundeskreis.
Chinas klassischer Auslandsreisender war der Gelehrte Lao-Tse. Vor ca. 2.500 Jahren trat er seine legendäre "Reise in den Westen" auf einem Wasserbüffel reitend an, um dem Lärm der streitenden Reiche zu entfliehen. Am Hang Du-Pass erkannte ein Grenzwächter den Gelehrten vom Hofe des Königreiches Zhou. Er hielt ihn auf und ließ ihn erst weiter ziehen, nachdem er seine Weisheiten in 5.000 Schriftzeichen niedergepinselt hatte: Das sagenumwobene Tao Teking; Quelltext des daraus abgeleiteten Taoismus. Es geht um 道 教dào jiāo, die "Lehre des Weges", des rechten Weges wohlgemerkt. Ja, es gibt auch solche Reisende aus China gen Westen. Vermutlich mehr, als wir ahnen.
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