Chen Yiming, GIM China Chinesen im Reisefieber

Der "Nahtourismus“ boomt somit bei uns. Neulich habe ich gelesen, dass laut Schätzungen der World Tourismus Organisation (UNWTO) der Tourismus 2016 elf Prozent der chinesischen Wirtschaft ausmachte, der gesamte Umsatz der chinesischen Tourismusindustrie wurde von der UNWTO für 2016 auf 4.69 Billionen Renminbi (knapp 60 Milliarden Euro) geschätzt. Das sind knapp 14 Prozent mehr als im Vorjahr (Quelle: http://www.chinairn.com/hyzx/20170116/151347287.shtml).
Attraktiver in China reisen wegen verbesserter Infrastruktur
Die überwiegende Zahl der chinesischen Reisenden bleibt dabei innerhalb Chinas. Die Chinesische Tourismus-Akademie kalkulierte für 2016 etwa vier Milliarden touristische Reisebewegungen innerhalb des Landes, während "nur“ etwa 122 Millionen ins Ausland gingen (Quelle: http://www.ctaweb.org/html/2017-1/2017-1-22-10-41-66902.html). Eine zentrale Voraussetzung für den Boom bei Inlandsreisen ist das stetig verbesserte chinesische Transportsystem. Seit geraumer Zeit fließen enorme Summen in die öffentliche Infrastruktur, insbesondere in den Ausbau unseres Hochgeschwindigkeitszugsystems, in Flughäfen und Autobahnen.
Seit 2008, als anlässlich der Olympischen Spiele die erste Hochgeschwindigkeitszugtrasse eingeweiht wurde, wurden weitere 20.000 Streckenkilometer in Betrieb genommen. Nach meinen Kenntnissen verfügt China damit über das größte derartige Streckennetz der Welt. Durch die verbesserte Infrastruktur wird Reisen innerhalb Chinas sehr viel praktischer, schneller und komfortabler – und damit insgesamt attraktiver. Hier muss ich erwähnen, dass wir einfach sehr wenig Urlaubstage haben, insgesamt nur drei Wochen im Jahr. Jede dieser drei Urlaubswochen heißt "Goldene Woche“ und liegt jeweils rund um wichtige Feiertage. Und in diesen Wochen gibt es naturgemäß massive Reise-Peaks. Mit einem schnellen Zug oder dem Flugzeug braucht man häufig nur ein paar Stunden und ist am Ziel. Kleine Reisen sind dadurch deutlich attraktiver geworden.
Die chinesische Provinz wirbt erfolgreich für sich
Es sind aber nicht nur die großen internationalen Events (Olympiade 2008, Welt-Ausstellung 2010) und die Metropolen wie Shanghai oder Beijing, die China als Reiseland aufwerten. Zunehmend rücken auch ländliche Gegenden in das touristische Blickfeld. Das hat unter anderem damit zu tun, dass viele lokale Tourismus-Verwaltungen in engem Kontakt mit Film- und Fernsehproduzenten stehen und dafür sorgen, dass ihre Landschaften und Naturschönheiten in Filmen auftauchen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Karstlandschaft von Wulong, die zwar seit 2007 UNESCO-Weltkulturerbe ist, aber in China als Reiseziel lange recht unbedeutend war. Das änderte sich, als Bilder der Schluchten in epischer Breite (fast vier Minuten lang) in dem Blockbuster "Transformer 4“ gezeigt wurden.

Laut der Tourismus-Verwaltung von Wulong stiegen die Besucherzahlen sprunghaft an mit bis zu 14.000 Besuchern an einem einzigen Tag, nachdem der Streifen in den Kinos lief. Solche Zahlen wurden bislang nur in der "Goldenen Woche“ im Herbst erreicht. Wulong ist natürlich mit der Präsenz in einer Hollywood-Produktion ein besonders spektakuläres Exempel. Daneben gibt es aber viele kleine Provinzen und Städte, die in chinesischen Produktionen gezeigt werden und dadurch erst Bekanntheit im ganzen Land erlangen. Ich muss gestehen, dass ich selbst von Wulong noch nichts gehört hatte – bis ich eben Transformer gesehen hatte. Den nächsten Erholungs-Kurztrip mit meiner Frau werde ich wohl dorthin machen.
Mehr Work-Life-Balance? Mehr erholsame Kurztrips!
Überhaupt: Erholung! Bei uns und in unserem Freundeskreis fällt auf: Kleine Ausflüge aufs Land oder in Provinzen, die als erholsam gelten, liegen stark im Trend. Gesunde Luft und frisches Essen vom Land werden als Gegenpol zum Leben in der Megacity bedeutender. Manchmal fahren wir deshalb übers Wochenende mit dem Auto raus aus Shanghai und übernachten bei Leuten auf dem Land, um der Hitze und der schlechten Luft zu entfliehen. Denn die chinesischen Großstädte sind ja bekannt für die schlechte Luft und das ist wahrlich kein Gerücht. Gerade in der jüngeren Generation sind sich viele sehr bewusst, dass das nicht gesundheitsförderlich ist, und man sich ab und an in der Natur erholen muss, wenn man schon an der Gesamtsituation nur wenig ändern kann. Vor ein paar Jahren hatten wir alle noch berühmte Orte und Sehenswürdigkeiten im Fokus. Jeder wollte nach Peking, in die verbotene Stadt oder zur großen Mauer. Das hat sich inzwischen etwas geändert. Inzwischen sind auch "kleine“ Reiseziele beliebt, bei denen es um Erholung und eine "gesunde Auszeit“ geht.
Reisen ins Ausland – Luxus einer wachsenden Minderheit
Neben den Inlandsreisen spielen aber natürlich die Auslandsreisen ebenfalls eine Rolle, wenn auch eine viel kleinere. In europäischen Metropolen wie Paris, London oder Berlin ist es längst bekannt: Immer mehr Chinesen können sich Auslandsreisen leisten. 2016 wurden 122 Millionen touristische Auslandsreisen von chinesischen Bürgern registriert. Insgesamt wurden dafür 109,8 Milliarden Dollar ausgegeben, was pro Person einen Durchschnitt von 900 Dollar pro Reise bedeutet.

Top-Reiseziele der Chinesen – Asien dominiert
Die zehn von chinesischen Touristen meistbereisten Länder sind laut Angaben der Tourismus-Akademie: Thailand (mit Phuket als dem beliebtesten Ziel), Süd-Korea (Insel Jeju), Japan, Indonesien (besonders Bali), Singapur, USA, Malaysia, Malediven, Vietnam und die Philippinen.

Neben weiteren asiatischen Ländern steht Russland auf Platz 12, Italien auf Platz 15, England auf Platz 18 und Deutschland auf Platz 20. Es dominieren also ganz klar die asiatischen Länder. Das liegt neben der geographischen und kulturellen Nähe sowie den niedrigeren Preise nicht zuletzt auch an den günstigen Visa-Vorschriften dieser Länder für chinesische Touristen. Es ist visa-technisch einfach deutlich billiger und unkomplizierter, in eines der asiatischen Länder zu reisen als nach USA oder Europa.
Zwar lockern inzwischen immer mehr Länder ihre Visapolitik für Chinesen ein wenig, gilt für uns dennoch weiterhin für die meisten europäischen Länder Visumspflicht. Die Visabestimmungen der meisten asiatischen Länder sind hingegen lockerer, es kostet weniger und man muss deutlich weniger Dokumente beibringen. Die Zahl chinesischer Touristen in Vietnam und auf den Philippinen hat sich von 2015 auf 2016 sogar mehr als verdoppelt. Beide Länder führten nämlich völlige Visafreiheit für chinesische Bürger ein.
Die hohen Zuwachsraten bei den asiatischen Ländern haben aber auf jeden Fall auch etwas mit der leichteren Erreichbarkeit und den günstigeren Preisen vor Ort zu tun. Und ebenso damit, dass heutzutage nicht mehr nur die wirklich reichen Chinesen reisen wollen, sondern eine immer breiter werdende Mittelschicht gerne in den Urlaub fährt. Diese Mittelschicht kann sich Urlaubsreisen leichter leisten, wenn das Ziel Seoul, Hanoi oder Bangkok heißt und in zwei Stunden Flugzeit erreichbar ist; ein Flug nach Paris oder Rom dauert nicht nur länger, er ist auch kostspieliger. Von den Hotel- und Aufenthaltskosten gar nicht zu reden.
Ein bisschen spielt natürlich außerdem eine Rolle, dass viele meiner Landsleute eine größere kulturelle Nähe zu asiatischen Ländern mit ihren Verhaltensweisen und Essensangeboten empfinden als zu Europa. Da geht es uns sicher nicht anders als vielen Europäern, denen asiatische Länder für den Urlaub auch zu exotisch sind.
Reisen in die USA und nach Europa
Jedoch sind europäische Länder wie Frankreich, Italien und die USA für eine bestimmte Schicht von Chinesen immer noch die beliebtesten Reiseziele. Das sind Leute, die vielleicht Unternehmer sind und einfach sehr viel Geld haben, oder etwa Menschen, die in ausländischen Firmen arbeiten und insgesamt viel Kontakt zu westlichen Kulturen haben. Und natürlich die Kinder aus solchen Familien. Hauptmotive für Reisen nach USA und Europa sind in der Regel: Shopping, Sightseeing, Kultur und Studium.

Shopping (gerade in Italien und Frankreich) ist deshalb so beliebt, weil wir hier in China hohe Steuern auf ausländische Luxusmarken haben. Und natürlich auch, weil viele von uns das Gefühl haben, dass die Dior-Handtasche, die im echten Dior-Shop in Paris gekauft ist, eine bessere Qualität hat als eine, die man bei uns bekommt. Und mit Sicherheit nicht professionell gefälscht wurde.
Neben dem Einkauf sind in Europa und USA aber die kulturellen Highlights ebenfalls wichtig. Den Pariser Eiffelturm, das New Yorker Empire State Building und den Londoner Big Ben wollen auch wir Chinesen gerne einmal gesehen haben. Und wir verbinden einzelne Länder ebenfalls mit großen Sehnsüchten und Emotionen: Auch für uns steht Frankreich für Romantik, Liebe, Eleganz und große Küche. Deswegen suchen viele Paare Paris als Ziel ihrer Flitterwochen aus. Die USA hingegen sind auch für uns das Land der Freiheit und der unbegrenzten Möglichkeiten. Und viele junge Chinesen träumen von einem Road Trip in Kalifornien, um dieses einzigartige Gefühl der "Freiheit“ zu erleben.

Ein Thema, das seit ein paar Jahren immer mehr chinesische Eltern und Jugendliche bewegt, ist das Studieren im Ausland. Hier stehen bei uns eindeutig die USA, Großbritannien und Australien am höchsten im Kurs. Im Vorfeld von solchen Entscheidungen machen dann viele Familien eine Reise in das betreffende Land, um sich genauer zu informieren oder potenzielle Studienorte zu besichtigen. Es gibt inzwischen sogar schon ein gängiges Wort dafür: “游学” ("Studiumstour“).
Ausblick: mehr chinesische Individualtouristen und differenzierte Sehnsüchte
Zukünftig wird Reisen bei uns Chinesen sicher noch weiter zunehmen. Es wird ein fester Bestandteil unseres Alltags werden, mehrmals im Jahr Trips zu unternehmen. Und die Wünsche und Bedürfnisse, die wir mit jeder der Reisen befriedigen wollen, werden sich genauso ausdifferenzieren, wie es in einem Land wie Deutschland schon lange der Fall ist. Schon jetzt sind 60 Prozent aller Auslandsreisen Individualreisen und nur 40 Prozent Pauschalreisen. Der alte Reisemodus "10 Länder-in-10-Tagen“ wird immer unbeliebter werden. Man wird sich mehr Zeit für Erfahrungen nehmen, peu à peu den eigenen Horizont erweitern und sich als globaler Bürger fühlen – mit Zugang zu französischen Kochkursen in Paris, zu hitzigen Fußballspielen in Madrid oder zu extremen Outdoor-Touren in Neuseeland.
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