Chinas 36 Strategeme, Sun Tsu und die Marktforschung
„Keine andere chinesische Eigenschaft ist dem westlichen Menschen so schwer zu erklären wie die listige und gewitzte Lebensart der Chinesen“ schreibt Lin Yutang (1895-1976), ein weltoffener Gelehrter Chinas. Seit Jahrhunderten erfreuen sich nicht nur chinesische Kinder an den Streichen des frechen Affenkönigs Sun Wu-k'ung. In seinen Legenden, wie. Z.B. „Aufruhr im Himmel“ spielt er die antiautoritäre Rolle eines fernöstlichen Till Eulenspiegels, der irdische wie himmlische Obrigkeiten herausfordert sowie mit allerlei Schabernack austrickst. Sun Wu-k'ung verkörpert dabei auch solche chinesische Ideale: den Schalk, der List als legitimes Mittel einsetzt; er erlaubt sich die Freude am Durchbrechen bestehender Normen. Sun Wu-k'ung schafft es sogar, sich über Naturgesetze hinwegzusetzen. Er kann überirdisch weit springen, seine Größe verwandeln und auf einer Privatwolke fliegen. Anleihen an seinen Eigenschaften finden sich heute in zahlreichen Kung-Fu-Filmen wieder.
Sun Wu-k’ungs jahrhundertalte Popularität ist für sachkundige Markt- und Menschenversteher in China durchaus relevant: Entgegen hiesiger Stereotypen sind chinesische Verhaltensweisen nicht nur vom eher gradlinigen, hierarchischen und rationalen Konfuzianismus geprägt, sondern tragen ebenso die anarchistischen Züge und die geschmeidige Intuition des Taoismus in sich: Erst aus den Gegensätzen zusammen wird „das Schild des Höchsten Äußersten“ (Taijitu), in dem Yang und Yin, die helle wie dunkle Seite des Weltgefüges - und der Seele Chinas - zusammenfinden. So lernt man in China von Kindesbeinen an: Alles hat diese zwei Seiten und zeigt sich mal so, mal anders. Eine Yang-Komponente, die u.a. als männlich, hell, himmlisch, hart und direkt ausgelegt wird sowie eine Yin-Komponente, die u.a. für weiblich, dunkel, irdisch, weich und listenreich steht. Beide Sicht- und Handlungsweisen sind legitim, je nach Situation.
Dieser Dualismus findet sich in vielen Alltagssituationen. In China ist fast alles irgendwie geregelt und festgelegt. Die Mehrheit begrüßt das auch explizit: Ordnung muss sein. Gleichzeitig ergreifen Chinesen eher unbekümmert Chancen, wenn sich solche bieten. Sie gönnen sich eine Ausnahme vom Regelwerk oder wenden einen pfiffigen Trick an, sei es im Straßenverkehr, Beruf oder Privatleben: Wer Witz hat, stellt das auch unter Beweis. Mit Verweis auf höchste Autoritäten:
Vor 2.500 Jahren entwickelte der Militärstratege Sun Tsu in seinem Traktat „Die Kunst des Krieges“ strategische Überlegungen, die bis heute auf Chinas Militär, Wirtschaft, Politik und Privatleben abfärben. Darunter findet sich, dass die höchste Vollendung der Kriegskunst darin besteht, den offenen Konflikt ganz zu vermeiden. Idealerweise macht man sich den Gegner unter Schonung der eigenen Ressourcen dennoch gefügig oder erobert das Objekt der Begierde: Seien es ein Patent in unbedarften ausländischen Händen, die Marktlücke, die Steuerersparnis, eine begehrte Frau oder ein paar Inseln mit Bodenschätzen unter sich. Unter Anwendung von List, ganz wie der Affenkönig. Ähnlich werden in China die wesentlich jüngeren „36 Strategeme, Geheimbuch der Kriegskunst“ (Sanshiliu Ji, Miben Bingfa) aus dem 16. Jahrhundert behandelt*. Die Lehren aus dieser Ansammlung an Strategien finden sich ebenfalls in vielen alltäglichen Redewendungen, in Kinderbüchern, Comics und ernsthaften Management-Lehrbüchern wieder. „Den Tiger vom Berg locken“, „Einen Backstein hinwerfen, um Jade zu erlangen“ oder „auf das Gras schlagen, um die Schlange aufzuscheuchen“ sind fast jedem Chinesen ein Begriff. Die 36 Strategeme verbinden mit dem Affenkönig und Sun Tsu eines: Listige Elemente wie Verschleierung, Täuschung und Überraschung werden in dieser Tradition nicht als unredlich, feige oder als Mangel an Ritterlichkeit diffamiert, sondern als verantwortungsvolle Klugheit verehrt. Der Sinologe Harro von Senger spricht von chinesischer „Listenkundigkeit“ im Kontrast zur westlichen „Listenblindheit“. Die Ethik liegt im Ziel, nicht in der neutral eingestuften Methode.
Chinesen sind von alters her sozialisiert, dem ersten Augenschein zu misstrauen (siehe Artikel zu „Vertrauen in China“). Sie gehen von einer changierenden Erscheinungsform der Dinge und Sachverhalte aus; sie klopfen offenbar unwillkürlich die Situation nach verborgenen Fallen oder sich bietenden Chancen ab. Das drückt sich im schillernden Begriff „智Zhì” aus, der im Chinesischen Weisheit, Intelligenz, Cleverness bis hin zu Gerissenheit bedeuten kann; als adäquate Antwort auf vermutete Tricks der anderen oder die eigene List. In der Sprache spiegeln sich Möglichkeiten der Gedanken!
Der westliche Anspruch an ein universell gültiges Bild der Realität, die sich mit der Wahl der richtigen (Marktforschungs-)Methode darstellen lässt, prallt im Umgang mit Chinesen hart auf deren flexible situationsspezifische Auslegung der Dinge: Wo westliche Marktforschung objektivierbare „Sachverhalte“ vermutet und diesen Transparenz verleiht, sehen Chinesen zunächst einen Kontext aus Interessen, Bedeutungen und sozialen Verpflichtungen; sie lassen Vorsicht walten und geben in ihren Aussagen im Zweifelsfall der Verschleierung, Beziehungspflege „Guanxi“ und der Gesichtswahrung „Mianzi“ (siehe entsprechende Artikel) - und ihren eigenen Interessen den Vorzug.
Nur vordergründig ist Marktforschung in China ein Instrument des Prinzips Yang: Licht, Aufklärung und Wissen. Die bessere Informationslage vermindert die Risiken von Fehlentscheidungen und findet neue Marktchancen. Sun Tsu betont die Wichtigkeit, sich selbst, den Gegner sowie das Terrain zu kennen; er differenziert fünf Arten der Spione, die dem Strategen den relevanten informativen Vorteil verschaffen.
Jedoch in der Gemengelage aus Pflicht zur Beziehungspflege, Gesichtswahrung, Misstrauen und der 36 Strategeme ist China ein schwieriges Terrain für die westlich - klassische Marktforschung, vor allem in Gestalt der direkten Befragung: Warum sollten, wie oben beschrieben konditionierte Chinesen „wahrheitsgemäß“ d.h. listennaiv von sich geben, was wildfremde Interviewer, Moderatoren oder Fragebogenroboter wissen wollen? Marktforscher, die sich anhand international bewährter Leitfäden in offenen Explorationen an Chinesen versucht haben, werden manches melancholisches Lied singen können von der qualvollen Zurückhaltung, unergiebigen Gefühlsbeschreibungen, ausweichenden oder völlig widersprüchlichen Antworten. Man muss als Marktforscher selbst zu lokal angepassten Tricks und Listigkeit greifen, um so etwas wie „spontane Äußerungen“ zu provozieren. Oder helfen indirekte Befragungen mittels „Marktspione“ als Beobachter im Milieu der Zielgruppen? Doch kann man den Spionen trauen? Sun Tsu- Leser kennen die Idee vom „verlorenen Spion“, der mit Falschinformationen gefüttert dem Gegner zugetrieben wird.
Auch im westlichen Umfeld wird uns Marktforschern bisweilen misstraut; besonders dann, wenn Ergebnisse nicht ins Erwartungsspektrum einiger Stakeholders auf der Auftraggeberseite passen. Die Zweifel richten sich dann an ausgewählte Elemente der Methodik wie Stichprobenauswahl, Erhebungsinstrumente oder Analysetechniken. Wenn chinesische Auftraggeber misstrauen, dann kann es fundamentaler zur Sache gehen: Der Zweifel richtet sich an den Marktforscher als Menschen, den Befragten und ihren Motiven, dem Institut oder dem ganzen Unterfangen – als mögliche Elemente einer List oder einer z.Z. ungünstigen Erscheinungsform.
Nein, nein, die Situation ist nicht hoffnungslos für unsere Zunft. Sie bedarf vermutlich anderer, angepasster Vorgehensweisen, einer „sinosierten“ Methodik. Dazu mal später mehr.
----
* Siehe dazu die zahlreichen Publikationen von Harro von Senger, Professor der Sinologie, Universität Freiburg
Kommentare (0)
Noch keine Kommentare zu diesem Artikel. Machen Sie gerne den Anfang!
Um unsere Kommentarfunktion nutzen zu können müssen Sie sich anmelden.
Anmelden