China und die Mitte - nicht nur für Marktforscher
Von Matthias Fargel
Bei "Mitte" denken westliche Marktforscher an Mittelwerte und Mittelklasse; Chinesen spontan an sich selbst: 中, zhōng. Das einprägsame Schriftzeichen ist Symbol für die gesamte Nation; für eine Kultur, die sich seit vier Jahrtausenden als das selbstverständliche Zentrum der Welt erachtet, 中国 zhōng guó, Land der Mitte. Weltkarten in Chinas Schulen und Büros bestärken diesen Eindruck optisch. Sibirien, China, Indonesien und Australien stehen von Nord nach Süd im Zentrum dieser Weltkarte; Amerikas Subkontinente erscheinen als schlanker Rahmen des östlichen Pazifiks. Europa reduziert sich auf einen winzig zerklüfteten nordwestlichen Zipfel Eurasiens, unscheinbar über Afrika, das den westlichen Kartenrand ausfüllt. Der chinesische Geschichtsunterricht berichtet von unterwürfigen Gesandten aus dem Ausland, die früher Tribute an den kaiserlichen Hof brachten. Aktuell zeigen die Medien beflissene Delegationen aus der ganzen Welt, die bei Chinas Mächtigen um Gunst und Aufträge buhlen und artig Aber-Milliarden in das Land investieren. "Wir sind wieder wer!" lautet die Botschaft an die Landsleute. Nicht irgendwer, sondern das Gravitationszentrum der Welt und ihrer Zukunft. Nun ist Ethnozentrismus keine chinesische Erfindung oder Alleinstellungsmerkmal. Doch auf chinesische Weise anders. Während westliche Kulturen dazu neigen aus Wirtschaftsmacht, demographischer Größe und politischem Einfluss einen Führungsanspruch und die eigene Positionen als das "Vorne" oder "Oben" zu definieren, finden Chinesen Gefallen an der Rolle des "dritten Weges" zwischen alten Industrienationen und Entwicklungsländern, in der naturgewollten Mitte. Weltpolitisch wie privat. Nicht in allen Bereichen (s.u.), aber in vielen.

Von diesem einst offiziellen Gesellschaftsideal ausgehend scheint der Weg zu einer chinesischen Mittelschicht vorgezeichnet. "Chinas (rasant) wachsende Mittelschicht" beflügelt die Phantasien der Konsumgüterkonzerne. Bei einem Haushaltsjahreseinkommen von 6.000 – 15.000 US$ gehören 350 Mio. Chinesen in diese Gruppierung, mit Potential zu 500 Mio. bis zum Ende der Dekade. Das McKinsey Global Institute setzt für die Mittelklasse eine breitere Spanne von 13.500- 53.900 US$ p.a. voraus; die Chinese Academy of Social Science CASS verortet die Mittelklasse bei 18.100 – 36.200 US$ p.a. Wie auch immer, die ökonomische Mittelschicht ist schon groß, wird bald riesig und weltweit relevant.
Manche Chinaexperten warnen davor, allein aus der errechneten Kaufkraft heraus der VR China einen westlichen Mittelschichtsbegriff überzustülpen und entsprechendes Verbraucherverhalten daraus abzuleiten. Die Chinese Academy of Social Science CASS ergänzt ihr Mittelschichtsmodell um Bildungsniveau und beruflichen Status. Dem zufolge fallen einfache Dienstleister oder Arbeiter ohne Vorgesetztenfunktion nicht unter Mittelklasse, selbst wenn deren Einkommen passen würde. "From rags to riches", sinngemäß "von Lumpen zu (Gold-)Klumpen" karikieren skeptischere Chinabeobachter eine verbreitete Karrierevision unter den wirtschaftlichen (Möchtegern-) Aufsteigern. Jene, die sich eher am erahnten Lebensstil der jetzt schon Reichen und Mächtigen orientieren als an einer noch nicht etablierten Mittelschicht, die sie schnellstens unter sich lassen wollen. Die soziale Mitte als Durchgangsstadium anstatt als Ziel passt irgendwie zu gewissen Anschauungen der kommunistischen Partei.
Chinas Postulat der gesellschaftlichen Mitte bietet ein Dilemma. Auf individueller Ebene müssen sich die Bewohner des "neuen Chinas" (siehe Artikel zu T.I.C.) im täglichen Konkurrenzkampf bewähren. Das bedeutet, unter den Erfolgreichsten zu sein, andere zu überflügeln; in der Ausbildung, im Beruf, als Heiratskandidat und als Anbieter im Markt. Die Konkurrenzsituation der Einzelnen steht im diametralen Widerspruch zur oben beschriebenen Doktrin der Mitte und Harmonie als Chinas historisches Leitmotiv für alle. Vermutlich ein plastisches Beispiel für reale Dialektik.
Bei Bewertungen im Dienste der Marktforschung wiederholt sich das Dilemma der Mitte: Einerseits tendieren Chinesen bei qualitativen, verbalen Beschreibungen und Bewertungen zur Ausgewogenheit; ohne Superlative im positiven wie negativen Sinne; fast alles ist gut/schlecht, hat aber so seine zwei Seiten. Sie meiden entsprechend auch Extrembewertungen auf Skalen zwischen 1-9 oder 10. Der "5" kommt seit alters her eine magische Bedeutung zu (siehe auch Artikel zu "Zahlen auf Chinesisch"). Wirken jedoch sozialer Druck wie Höflichkeit, Dankbarkeit oder berechnendes Verhalten ein, beugen sich Chinesen der Erwartung, auch wider besseres Wissens. Dem sozialen Ausgleich zuliebe dann doch das Extreme…
Ein eigenwilliges Verhältnis zur Mitte und zur Harmonie im oben erweiterten Sinne pflegt letztlich der chinesische "Man in the middle", MITM. Dabei handelt es sich laut der regierungskritischen Greatfire.org um eine staatliche Cyberattacke auf Apples iCloud; Regierungsstellen dementieren. Der "Man in the middle" phishe nicht nur Inhalte ab, die zwischen der iCloud und in China verwendeten iPhone 6 / 6Plus ausgetauscht werden, sondern auch Nutzernamen, Passwords, iMessages, Fotos und Kontakte. Falls das zutrifft, bekommt die Idee von China als Gravitationszentrum aktuell eine zusätzliche Bedeutung: selbst die fast massenlosen Daten werden im Land der Mitte von seinem Zentrum kraftvoll angezogen; garantiert keine mittelmäßige Informationsbeschaffung.
* Sein Nachfolger Xi Jinping verfolgt nun den "chinesischen Traum" als Regierungsziel.
Siehe z.B. Beiträge von z.B. Shaun Rein, China Herald, 5.7.2011, "China Private Wealth Report" der Merchant Bank 2013; Tongdong Bai: "China, The Middle Way of The Middle Kingdom", 2012
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