China Mobile nicht nur für Marktforscher
Von Matthias Fargel
45% der chinesischen Frauen im Alter von 18-64 Jahren würden eher einen Monat lang auf Sex verzichten als auf ihr Handy (Quelle: n = 900; MSLGROUP and DotGroup, 12.11.2013). Spricht dies nun eher zu Gunsten der Geräte oder zu Ungunsten der chinesischen Liebhaber? Vermutlich beides, wenn man einschlägige Blogs und Aufklärungssendungen in den chinesischen Medien verfolgt.
Zunächst ein paar Kennzahlen vorweg.
Kaum ein Markt Chinas ist so dynamisch wie dieser. Daten hierzu sind schon längst überholt, wenn diese öffentlich werden. Soviel steht fest: Es ist weltweit der größte Mobiltelefonmarkt. Das Chinesische Ministerium für Industrie und Informationstechnologie (MIIT) zählte für Februar 2013 1,13 Milliarden Mobiltelefonnutzer. IDG News Service weist darauf hin, dass noch immer pro Quartal 30 Mio. Handys neu hinzugekommen. Das China Internet Network Information Center CINIC ging 2010 von einer 74% Marktdurchdringung mit Handys aus; heute werden es über 80% sein – auch bei den Senioren und Ärmeren. Demnach waren 2/3 aller Nutzer Großstädter. Das große Wachstumspotential bergen die ländlichen Gegenden und Smartphones.
Noch ein Superlativ chinesischen Ausmaßes: bei geschätzten monatlichen 10 USD Ausgaben pro Gerät (TechinAsia, 9.8.2010) macht dies konservativ gerechnet einen Markt von 11 Milliarden USD – pro Monat.
Lt. Nielsen entfallen 51% der Handynutzer auf Männer; der Frauenanteil war die letzten Jahre rapide angestiegen. 55% nutzen ihr Gerät überwiegend privat; 87% haben einen Prepaid-Vertrag (Nielsen, 2010). Während die Zahl der angemeldeten Handys noch steigt, ging im Vergleich zum Vorjahr 2012 die Zahl der Festnetznutzer um 758.000 zurück. 70% der Mobiltelefonnutzer sind Kunden der marktbeherrschenden China Mobile. Gemäß China Mobile Report vom 11.2013, greifen 420 Mio. Nutzer auch vom Handy aus auf das Internet zu; davon wiederum 259 Mio. mit 3G-Technologie. Nielsenwire rechnet 39% der Handyhalter zu Nutzern des mobilen Internets (im Vgl. zu USA: 27%).
Zu den beliebtesten Site-Kategorien, die vom Handy aus angeklickt werden, gehören lt. Nielsen (8/2010) Gesundheit und Fitness (15%), gefolgt von Bildung/Arbeit (11%); gleichauf mit Auto bezogenen Seiten; 9% geht zu Gunsten von Einkauf und gleich viel für Geschäftssites. Andere Quellen geben den chinesischen Social Media Plattformen WeChat und Weibo den Vortritt vor den o.g. vom Handy aus angeklickten Internetsites.
Die non-voice Funktionen überwiegen in der Nutzung: 87% entfallen auf SMS. Am zweithäufigsten (50%) dienen Handys als Zugang zu Spielen, sei es zu vorinstallierten oder via Apps geladenen. Ähnlich viele hören mit dem Handy Musik. 35% fotografieren mit dem Gerät. Am untersten Ende der Benutzung steht mit 10% das ausschließliche Telefonieren; Tendenz weiter fallend.
Als Betriebssystem dominiert Android, gefolgt von iOS und RIM. Diese nichtchinesischen Techniken scheinen jedoch die Regierung zu stören. Aktuell unterstützt sie die Einführung von COS (China Operating System), einer lokalen Eigenentwicklung auf Basis von Linux, jedoch nicht als Open Source System, der Sicherheit zu Liebe (?!).
Was die lokalen Kunden nicht anficht, bisher die ausländischen Marken Nokia und Samsung am häufigsten zu kaufen; erst an dritter Stelle kommt mit Huwei ein lokaler Hersteller, wieder gefolgt von einem prominenten Ausländer: Apple. die attraktivste Marke auf einem Wunschzettel.
Was mich zur aktuellen Mobiltelefonkultur in China bringt.
Neben dem multiplen Gebrauchswert sind Handys für Chinesen ein Prestigeobjekt erster Güte. Stets gut sichtbar, drücken sie den angestrebten Lebensstil aus. Sie sind erschwinglicher und präsenter als andere Imageträger wie z.B. Reisen, Schmuck, Autos oder gute Wohnlagen. Wer seinen Alltag mit dem Mobiltelefon durchgestaltet, möchte als urbaner Innovator gelten.
Die praktizierte Handyetikette folgt genuin chinesischen Regeln. Jüngere Handynutzer laden eine individuelle Erkennungsmelodie hoch, die den Anrufer beim Warten auf das Abheben unterhält. Man lässt gerne etwas warten, bevor das befreiende „wei“ (hallo) ertönt. Voice Mail und Anrufbeantworter sind unüblich; sie gelten als unpersönlich und unhöflich. Aus demselben Grund scheinen Handys und deren Halter offenbar 24/7 anrufbereit. Chinesen reagieren fast in jeder Situation auf ihre 手机 => shǒu jī (Handmaschine); egal ob Anruf, Bildbotschaft oder SMS eintreffen. Handybimmeln und -Rütteln genießt sozial tolerierten Vorrang. Chinesen um das Abschalten des Gerätes zu bitten, grenzt an Taktlosigkeit* und führt nicht nur bei Marktforschungsinterviews zu Zwangspausen.
An einigen Universitäten Chinas aktiviert die Hochschulleitung zu Prüfungszeiten Störsender, um Handy gestütztes Spicken zu unterbinden; wobei solche Störsender über die Campusgrenzen hinaus den Empfang effektiv beeinträchtigen.
Chinesen sind selten allein. Text- und Bildnachrichten wie SMS sind daher beliebt, weil es sich mit diesen diskreter kommunizieren lässt als mittels fast immer mitgehörter Telefonate. Routinierte schaffen es im Gespräch, mit leicht gesenktem Kopf, parallel zur Konversation noch mit Dritten zu SMSen. Maximal 70 Schriftzeichen je Botschaft, was auch in China zu spezifischer SMS-Grammatik und kreativen Abkürzungen führt (siehe Artikel zu „Zahlen auf Chinesisch“). Werbung kommt ebenfalls per SMS. Jetzt, vor dem chinesischen Neujahresfest (dieses Jahr 31.1.2014), nehmen die empfangenen SMSen um ein Zigfaches gegenüber dem Jahresdurchschnitt zu: Es sind Firmen und Institutionen, die milliardenfach ihre Klienten, Mitglieder und „Freunde“ zu diesem Anlass mit Glückwünschen überschütten – übrigens nicht unbedingt als Spam abgetan; es sind erwartete Höflichkeitsgesten.
Neuchinesisch unhöflich hingegen wirken die alltäglichen beinahe und vollendeten physischen Zusammenstöße zwischen Handyversunkenen und anderen Verkehrsteilnehmern auf öffentlichen Flächen, mit teilweise üblen Folgen.
In der wechselvollen Geschichte Chinas hatte nichts so sehr Bestand wie die Clanzugehörigkeit und darüber hinaus gesponnene, äußerst robuste Beziehungsnetzwerke, das „jia2 und „guanxi“-System (siehe Artikel zu "Guanxi"). Diese sind bei allgemeiner Sesshaftigkeit leichter zu pflegen. Doch Chinas Moderne ermuntert und zwingt seine Bewohner zu noch nie da gewesener Mobilität. Hunderte Millionen sind in den letzten drei Jahrzehnten vom Land in die Städte, von den ärmeren in die reicheren Provinzen und Stadtteile umgezogen. Mobiltelefone und Social Media erlauben es, mit den Lieben zu Hause in Verbindung zu bleiben und neue Netzwerke zu weben. Kaum eine andere Technologie kommt den um soziale Einbindung bemühten Chinesen so entgegen wie Mobiltelefone und Social Media (siehe hierzu einen gesonderten Artikel), zumal SMSen, Skypen, auch via QQ, und mobiles Chatten das aufwändigere Briefeschreiben oder Besuche teilweise ersetzen.
Es ist durchaus üblich, dass Freundeskreise sich im Restaurant treffen und als erstes, sobald die Speisen serviert sind, jene per Handy knipsen und an nicht anwesende Freunde verschicken, bevor alle zu Essen beginnen. Auch das ist zu beobachten: Zu Tisch sprechen die gemeinsam Speisenden weniger direkt miteinander, sondern sind immer wieder mal stumm auf den Handybildschirm fixiert.
Darüber hinaus haben Mobiltelefone und das Internet Chinas Bürgern ein Gefühl für moderne Freiräume beschert. Selbst wenn zu gewissen politischen Tabuthemen Zensur waltet: für die Mehrheit der Chinesen sind es Zeichen der Freiheit, wenn sie spontan Musik aus England, Modetipps aus Japan, Bilder und Stimmen der nach Australien ausgewanderten Angehörigen erhalten; per Handy bargeldlos bezahlen, per Taobao Waren bestellen, Reisevorschläge aus Thailand, Börsentipps aus Hong Kong ansehen und aus zehntausenden Apps und Spielen wählen können; mit einem Smartphone sogar unabhängig vom familiären Computer oder Internet-Café – das sind noch immer beneidete Augenblicke. Nach Jahrzehnten sozialistischer Monotonie und knappster Angebote, an die sich alle über Vierzigjährigen noch gut erinnern, dankbar geschätzte Privilegien.
Als Smartphone bedient die „Handmaschine“ den stark ausgeprägten Spieltrieb der Chinesen. Sie sind ein steter Begleiter in Freizeit, beim Warten und passiven Wegezeiten. Das lokale Marketing greift die Freude am Spielen auf, indem sie Produkte und Dienstleistungen in Form von handygerechten „Gamifikation“ bekannt und attraktiv machen. Verspielte Designs und trickreiche Applikationen erhöhen den Reiz für die Innovationsorientierten.
围观 => wéi guān (unbeteiligt Zusehen) ist das chinesische Pendant zum hiesigen Maulaffen feil halten. Es genießt nach skandalösen wéi guān Fällen bei tragischen Verkehrsunfällen, trotz heftiger offizieller Kritik, ungebrochene Popularität: Sei es ein hitziger Streit auf der Straße, eine der zahlreichen Schlägereien, ein weiterer blutiger Unfall: fast immer formt sich ein Kreis Schaulustiger, die neugierig aber tatenlos das Geschehen begaffen - und filmen. Youku, die chinesische Variante des YouTube, ist gespickt von solchen Missgeschicken – elektronisches wéi guān zum schaurigen Nervenkitzel.
Fazit für Marktforschung
Auf den ersten Blick scheint die Omnipräsenz der Handys in bald jeder chinesischen Hosen- oder Handtasche alle bis sechzig Jährigen für die Marktforscher erreichbar zu machen. Zudem erweitert die rasch wachsende Zahl der internetfähigen Mobiltelefone die technische Grundlage für mobile Datenerhebung. Chinesische Handybesitzer reagieren tendenziell spontan und neugierig auf Neues, vor allem wenn es sich spielerisch darstellt. Der e-Commerce boomt und schließt zunehmend Smartphones mit ein.
Zur Kontaktaufnahme und einfachen, faktischen Kurzbefragungen (gesehen, gemacht, Bewertung) sind Handys in China gut geeignet. Zumal Jüngere oft nur einen Mobiltelefonanschluss als eigenen haben. Umfangreichere telefonische Umfragen können über das Handy verabredet, aber nur selten auch sofort durchgeführt werden. Kurze Bilddokumentationen („zeig mir, was du heute zu Mittag isst“) sind möglich. Im B2B Bereich sind Telefoninterviews die Methode der Wahl. Allerdings hängt dies von der Hierarchiestufe der Zielperson ab: Je höher deren Ansehen, um so eher wird ein persönliches Interview erwartet.
Unabhängig von der Marktforschung, haben sich Telefoninterviews im Zuge des chinesischen Personalwesens etabliert. Unter den höher qualifizierten Arbeitnehmern herrscht ein notorisch häufiger Jobwechsel, dem die Unternehmen rationalisiert mit online-Vorbefragungen und teilstrukturierten Telefoninterviews zum weiteren Screening begegnen. Und so indirekt den Marktforschungstelefoninterviews den Weg ebenen. Chinesische Feldagenturen schätzen an den Telefoninterviews von Studios aus betrieben die bessere Interviewkontrolle durch digitalen Mitschnitt und Mithören, abgesehen von den Zeit- und Kostenvorteilen.
Meist ist der Handynutzer weder allein noch in einer geräuscharmen Umgebung: Der Netzempfang kann je nach Standort stark variieren. Auch in China sind Telefoninterviews i.d.R. von geringerem Involvement, so dass Kürze, Verständlichkeit und Einfachheit das Handy-basierte Interview prägen.
Gleichzeitig warnen lokale Insider vor zu großen Erwartungen in Bezug auf mobile, schriftliche ad-hoc Befragungen im größeren Umfang. Korrekte Internet-Befragungen sind in China noch immer eher die Ausnahme für bestimmte Zielgruppen, enge Themen und Methoden – und mobil erst recht. Was von ausländischen Kunden als webbasierte Umfrage in Auftrag geht, wird faktisch noch oft als Hybridumfrage, als Kombination aus mündlicher Umfrage und nachträglicher Texteingabe realisiert. Dazu später im Artikel zu Social Media.
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* In Hong Kong gibt es Luxusrestaurants, die einen Mobile Phone Butler beschäftigen. Das Handy wird beim Betreten des Restaurants ihm überreicht und bleibt außen vor. Bei Bedarf nähert sich der Butler formvollendet dem Gast und bittet diesen in ein diskretes Telefonseparee, wo ihm sein Gerät gereicht wird. Sehr „gesichtsstiftend“!
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